Michael Huppertz (Hrsg.): Achtsamkeitsbasierte Therapie und Beratung
Rezensiert von Thomas Reinhardt, 04.11.2022

Michael Huppertz (Hrsg.): Achtsamkeitsbasierte Therapie und Beratung. Zur Anwendung von Achtsamkeit in verschiedenen psychosozialen Kontexten. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2021. 278 Seiten. ISBN 978-3-86321-556-9. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Thema, Entstehungshintergrund und Autor*innen
Der Mabuse Verlag verkündet auf seiner Webseite sein Engagement: «Für ein solidarisches Gesundheitswesen». Seit «über 40 Jahren sorgt Dr.med. Mabuse, die Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, für einen anderen Blick auf die Gesundheits- und Sozialpolitik!» (siehe https://www.mabuse-verlag.de/Dr-med-Mabuse/​Ueber-die-Zeitschrift/ )
Mit dem vorliegenden Buch «Achtsamkeitsbasierte Therapie und Beratung – Zur Anwendung von Achtsamkeit in verschiedenen Kontexten» unterstreicht der Verlag seinen Anspruch und stellt uns ein praxisorientiertes Nachschlagewerk zum Thema zur Verfügung. Dabei handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit von 14 Autorinnen und Autoren, die sich aus unterschiedlichen beruflichen und therapeutischen Hintergründen zu dieser Praxis zusammengefunden haben. Achtsamkeit wird als ein orientierungsgebendes Verfahren für existentielle Fragen verstanden. Der Herausgeber Michael Huppertz betont in der Einleitung: «Die Vereinbarkeit der Achtsamkeit mit unmittelbar veränderungsorientierten Arbeitsweisen ist durchaus problematisch.» Es geht darum, «auf direkte Veränderungen zu verzichten».
Ein wesentlicher Hintergrund, sich mit Achtsamkeit zu befassen, war für manche der Autoren und Autorinnen ihre Erfahrung mit der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) von Marsha Linehan. DBT wurde Ende des letzten Jahrhunderts für die psychotherapeutische Behandlung von Borderline Patientinnen und Patienten konzipiert. Zum therapeutischen Verständnis und Handwerk gesellen sich weitere Verfahren hinzu, wie beispielsweise Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat Zinn sowie die in Mode gekommenen Entwicklungen rund um die Acceptance and Commitment Therapy (ACT) oder auch humanistisch orientierter Verfahren (Gestalttherapie, Focusing, Körpertherapie). Es entstand aus diesen Berichten ein interdisziplinäres Buch, das alle Berufsgruppen anspricht, die sich mit der Behandlung psychischer Beschwerden, Störungen oder Krankheiten befassen. Dabei betont Huppertz: «Der Durchschnittspatient ist eine Fiktion.» Er weist in diesem Zusammenhang auch auf die Schwierigkeit hin, validierte Evaluationen durchzuführen und betont, dass diese zuweilen hart kritisiert werden, z.B. Evaluationen des MBSR (Grossmann 2008, Purser 2019).
Aufbau
Die mit Anhang insgesamt 7 Abschnitte des Buches lassen sich in drei thematische Felder gliedern:
- Theoretischer Hintergrund (Einleitung, Didaktische Erfahrungen, Settings)
- Therapeutische Indikationen und Prävention samt Lebenskunst und psychosozialer Beratung
- Anhang mit praktischen Hinweisen, Definitionen, Tools für den Praxiseinsatz, kommentierten Übungen und einem ausführlichen Literaturverzeichnis
Inhalt
Das Buch ist von einer «AG Achtsamkeit» geschrieben, die Achtsamkeit folgendermassen definiert (Seite 227): «Die Haltung der Achtsamkeit ist
- bewusst
- absichtslos
- gegenwärtig»
Die AG vermeidet Standardisierungen und Manualisierungen und arbeitet nur manchmal mit Handouts. Sie orientiert sich weniger an Diagnosen als an Syndromen. Sie betonen, dass die Lebenseinstellung und die Lebensweise einen Einfluss auf das Krankheitsbild hat.
Sie arbeiten in sehr unterschiedlichen Settings: Kliniken, Praxen, Freizeitbereich, Gefängnissen und sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting.
Die Autoren Huppertz und Schneider teilen ihre didaktischen Erfahrungen im entsprechenden Kapitel mit den Lesenden und weisen auf die Haltung hin, die sie als bedeutsam erlebt haben: z.B. Einsatz der Stimme, Auswahl der Übungen, Betonung der Selbstverantwortung.
Fachpersonen beschreiben im Kapitel zu den therapeutischen Indikationen das differenzierte Vorgehen bei unterschiedlichen Zielgruppen. Beginnend bei Menschen mit psychotischen Störungen streifen sie unterschiedliche Krankheitsbilder und schildern die Anwendung in der Psychoonkologie. Im ausführlichen Abschnitt zur Einzeltherapie wird auf Achtsamkeit in anerkannten therapeutischen Schulen eingegangen. Die Autorinnen und Autoren gestalten ihre Beiträge individuell. Im Interview zu «Veränderung und Wahrhaftigkeit. Zur Bedeutung der Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie» erwähnt die Mitautorin Simone Saurgnani die Gefahr, dass Achtsamkeit manchmal nach dem «Gießkannenprinzip» eingesetzt wird und dadurch zur Ablenkung führen kann. In diesem Fall hilft Achtsamkeit nicht weiter. Sie betont, dass in der therapeutischen Praxis nicht zu früh mit Achtsamkeit begonnen werden darf, es einer kognitiven Vorbereitung bedürfe. Dies gerade auch weil: «Innere Achtsamkeit ist ja immer auch eine Form der Exposition.» (Seite 125).
Kapitel 5 zur «Prävention, Lebenskunst, psychosoziale Beratung» beginnt mit einem Rückblick auf die über 10-jährige Erfahrung der «AG Achtsamkeit» mit der Jahresgruppe «Achtsamkeit in der Natur». Diese Jahresgruppe trifft sich monatlich, um eine achtsame Haltung zu üben. Der Fokus ist auf die Aufmerksamkeit gerichtet: Wahrnehmung von Geräuschen, Gerüchen, Hautempfindungen.
Es folgen Anwendungsbereiche dieser Haltung für das Thema «Älter werden», Leben als Paar, in der Familie oder in der Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen. Vier Autorinnen und Autoren stellen das 2016 eingeführte Achtsamkeitstraining in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Dieburg vor. Die wöchentlich stattfindenden und eineinhalb Stunden dauernden Sitzungen mit 10 Teilnehmenden begannen mit einer Atemübung, einer kurzen Befindlichkeits- und einer längeren Wochenrückblicksrunde. Es schloss sich ein theoretischer Schwerpunktteil an und dieser wurde mit praktischen Übungen vertieft. Die Übungen waren vor allem kurz und alltagstauglich. Ein weiteres Beispiel aus der Arbeit mit Gefangenen wird aufgeführt. Beide waren schon publiziert im «Forum Justizvollzug» und es wurde ein ermunterndes Fazit insofern gezogen, «Achtsamkeit als verbindenden roten Faden zwischen Mitarbeiter:innen und Gefangenen in JVA zu erproben.» (Seite 215) wäre. Das Dankeswort an die JVA Wiesbaden möchte ich zitieren: «Wir danken…» der Leitung und allen Mitarbeitenden, dem psychologischen Dienst «und den Gefangenen, die uns ausgesprochen freundlich, sogar herzlich und dankbar begegnet sind, auch wenn sie uns immer wieder für seltsame Heilige hielten.» (S. 214)
Der Anhang liefert neben der erwähnten Definition zusammenfassende Hinweise und Infoblätter für verschiedene thematische Schwerpunkte, wie z.B. die Auswirkungen auf die Selbstfürsorge in der psychosozialen Arbeit.
Es folgen Hinweise und Kommentare zu Übungen und den Autorinnen und Autoren, sowie ein nicht überladenes, jedoch ausführliches Literaturverzeichnis.
Diskussion
Dieses Buch stellt einen großen Schatz an Erfahrung zur Anwendung von Achtsamkeit in vielen Lebensbereichen zur Verfügung. Es spannt den Bogen von der Therapie bis hin zur Lebenskunst. Sehr sorgfältig wird in das Gebiet von Michael Huppertz und Sara Schneider eingeführt. Didaktische Hinweise liefern dabei einen wertvollen Rahmen zur Umsetzung durch Fachpersonen und geschulte Laien. Erfahrungsberichte kommen nicht ohne Redundanzen aus. Dem wird durch die individuellen Berichte und in den Text eingestreute Interviews entgegengewirkt. So bleibt das Buch lebendig. Es muss nicht von vorne nach hinten gelesen werden. Mir ist es so ergangen: wenn ich irgendeine Seite aufgeschlagen habe, war ich gefesselt und konnte den Gedanken folgen und sie mit meinen eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen und sie als Anregungen aufnehmen.
Fazit
Die Darstellung der Anwendungsbereiche in unterschiedlichen Settings, therapeutischen Schulen und mit so verschiedenen Zielgruppen machen dieses Buch aus dem Dr. Mabuse Verlag wertvoll. Dabei nehmen die Autorinnen und Autoren immer wieder eine kritische, hinterfragende Haltung ein und warnen auch vor zu rascher und zu willkürlicher Anwendung von Achtsamkeit.
Es bleibt folgenden Satz zu zitieren: «Achtsamkeit ist die Kunst, da zu sein.»
Rezension von
Thomas Reinhardt
Diplomierter Berater für Organisationsentwicklung. Arbeitet als interner Coach im Universitätsspital Basel und freiberuflich in den Bereichen Organisationsentwicklung, Gesundheitsmanagement, Konfliktmoderation, Coaching für Führungsverantwortliche, Teamentwicklung und Supervision. Schwerpunkte: Gesundheit und Führung, Change Management, Leadership, Kommunikation, Psychohygiene und Glück.
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