Helmut Rießbeck: Existenzielle Perspektiven in der Psychotraumatologie
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 24.01.2022

Helmut Rießbeck: Existenzielle Perspektiven in der Psychotraumatologie (Leben Lernen, Bd. 329). Kernfragen des Daseins in der therapeutischen Praxis.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2021.
294 Seiten.
ISBN 978-3-608-89276-5.
D: 26,00 EUR,
A: 26,80 EUR.
Reihe: Leben lernen - 329. .
Thema
In der Psychotraumatologie spielen existenzielle Themen eine entscheidende Rolle, ist doch durch das traumatische Erlebnis das natürliche Selbstverständnis der Sicherheit des Lebens, der persönlichen Würde und Integrität beschädigt oder gar verloren gegangen. Isolierte Traumaexpositionsbehandlungen, wie sie häufig praktiziert werden (z.B. EMDR), greifen aufgrund ihres eher technisch orientierten Herangehens häufig zu kurz. Die existenzielle Dimension bleibt dabei in der Regel ausgespart, so wie auch etwaige vorbestehende emotionale oder strukturelle Vulnerabilitäten. Viele traumatisierte Menschen kommen in der Versorgungsrealität erst nach Jahren in eine angemessene Behandlung; unterdessen haben sich nicht selten Strategien der Bewältigung entwickelt, die ihrerseits krankheitswertig sind.
AutorIn oder HerausgeberIn
Dr. med. Helmut Rießbeck (Jg. 1955) ist als Allgemeinarzt, Internist und Psychotherapeut (psychodynamische Psychotherapie, EMDR, Ego-State-, und Hypnotherapie) in Schwabach niedergelassen; er arbeitet auch als Supervisor und Dozent in der Weiterbildung und ist Leiter des Traumazentrums Nürnberg. Er hat als Autor und Mitautor mehrere Bücher bei renommierten Verlagen veröffentlicht.
Entstehungshintergrund
Rießbeck beschreibt sein Anliegen als einen Versuch, der Technisierung in der Psychotherapie entgegen zu treten. Metaphorisch spricht er von der Gefahr einer Versteppung der (Therapie-) Landschaft durch Monokultur (Manualisierung und Ökonomisierung), bei der Vielfalt und Schönheit der Landschaft verloren gingen: „In den letzten Jahren ist mir dabei insbesondere die Perspektive der existentiellen Psychotherapie wesentlich geworden. Sie sieht viele der Beschwerden und Symptome von Menschen bedingt durch die Konfrontation des Individuums mit den unausweichlichen Gegebenheiten der Existenz“, so schreibt er in seinem Praxisleitbild.
Aufbau/​Inhalt
Das Buch ist gegliedert in sieben Kapitel und ein Literaturverzeichnis:
1. Der Rahmen unseres Denkens
- 1.1. Vor der Aufklärung
- 1.2. Sokrates
- 1.3. Christliches Denken
- 1.4. Der Weg zur Existenzphilosophie
- 1.5. Existenzphilosophie – die Absurdität des Daseins
- 1.6. Friedrich Nietzsche
- 1.7. Karl Jaspers
- 1.8. Albert Camus
- 1.9. Jean Paul Sartre
- 1.10. Martin Buber
- 1.11. Martin Heidegger
In diesem ersten Teil verortet sich den Autor mit seiner Weltanschauung. Offensichtlich ist er kein Philosoph und auch kein philosophischer Publizist wie etwa Richard David Precht oder ein großer philosophischer Erzähler wie Jostein Gaarder. Die Bezugnahme auf die unterschiedlichen philosophischen Perspektiven fällt er knapp aus und übersteigt kaum das Allgemeinwissen über die jeweiligen Denker. Immerhin ist man nun orientiert, womit man es zu tun hat. Marxistische Thesen: „Was ist jede Krankheit als in seiner Freiheit gehemmtes Leben“ (hätte doch auch gut gepasst) sind nicht Rießbecks Ding, genauso wenig lässt er sich ein auf konstruktivistische (z.B. Watzlawik) oder strukturalistische (z.B. Foucault) Thesen.
2. Das Handwerkliche in der Psychotraumatologie
Hier beschreibt Rießbeck seine traumatherapeutische Praxis, die methodisch breit aufgestellt ist und psychodynamische Konzepte mit ego-state-Therapie und ressourcenorientierten Ansätzen verbindet. Diese Beschreibungen wirken erfahrungsgesättigt; auch wenn die Fallvignetten sehr knapp geschilderte Beziehungsepisoden darstellen, bekommt man doch einen klaren Überblick und eine Idee von Rießbecks therapeutischem Stil.
Im 3. Kapitel „Verlust von Integrität, Verletzlichkeit, Endlichkeit und Tod“ bekommt die existenzielle Perspektive mehr Raum. Rießbecks starke Orientierung an Irvin Yalom wird klarer beschrieben, ausführlichere Fallvignetten geben der inhaltlichen Arbeit Raum (die Benennung der Patienten mit Pseudonymen die deren charakterliche Eigenheiten aufgreifen mögen [Erna Einsiedler, Hanna Harmonia, Sepp Sandbauer] verwirren mich eher als dass sie erhellend wirken würden). Am Ende mancher Abschnitte finden sich übersichtsartige Darstellungen, die ein Thema kompakt zusammenfassen.
Kapitel 4 „Wille, Freiheit und Verantwortung“ zeigt auf, welche Erfahrungen die Subjektentwicklung und Entfaltung traumatisierter Menschen zerstört oder zumindest beeinträchtigt haben und stellt autonomiestärkende und ressourcenentwickelnde Techniken vor.
Im 5. Kapitel „Einsamkeit und Isolation“ geht es um die existentielle Dimension der Ohnmachtserfahrung und Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Das Kapitel gliedert sich in die Aspekte Innere Arbeit und Arbeit in der Beziehung
Kapitel 6 „Auseinandersetzung mit dem >>Real-Bösen<<“ zeigt auf, wie das internalisierte Destruktive sich auswirkt und wie mit ihm umgegangen werden kann. Es ist offensichtlich, dass Selbsthass, Selbstzerstörung und masochistischer Triumph jeden Fortschritt zu Nichte machen kann, wenn es nicht gelingt, die verinnerlichten Erfahrungen, die eventuell auch Quelle narzisstischer Grandiosität sein konnten, aufzugeben und neue Quellen der eigenen Identität zu entwickeln. Negative therapeutische Reaktionen können gerade dann auftreten wenn es eine Therapeutin besonders gut meint und den internalisierten Objekten engagiert entgegentritt. Reinigungsrituale z.B. in der Aufstellungsarbeit mögen dabei hilfreich sein, zweifellos stellt dieser Komplex die größte Herausforderung nachhaltiger trauma-therapeutischer Arbeit dar. Nach derartigen Praktiken ist es auch schon zu finalen Selbstwerteinbrüchen gekommen, wenn die Klientin sich mit den Entwertungen des malignen Introjekts identifiziert, hat sie unter Umständen nicht mehr viel, das sie am Leben festhalten lässt (vgl. www.dgsf.familienstellen).
In 7. „Lebenssinn, Entfaltung der Potentiale und Verzicht“ geht es vor allem um die Ressourcenentwicklung, die hier an der Sinnfrage abgehandelt wird. Dabei könnte auch das Leiden selbst einen Sinn haben, der einen Zugang zum posttraumatischen Wachstum öffnet.
Diskussion
Helmut Rießbecks Monographie über Trauma und Existenz hinterlässt bei mir einen eher zwiespältigen Eindruck: Einerseits leitet er seine existenzphilosophische Perspektive nicht konsistent aus einem theoretischen Bezugsrahmen ab, wie es etwafür die großen existenziellen Entwürfe der 50er und 60er Jahre charakteristisch war. Viktor von Gebsattel, Medard Boss, Ludwig Binswanger und Viktor Frankl, bzw. 20 Jahre später Irvin Yalom, taten kongenial das, was Rießbeck schuldig bleibt: Sein Entwurf bleibt auf eine feuilletonistische Weise summarisch und in der inhaltlichen Systematik an die persönliche Erfahrung des Autors gebunden. Gaetano Benedetti und Christian Scharfetter haben sehr anschaulich und anhand nachvollziehbarer Fälle beschrieben, wie die existenzielle Perspektive in die Psychosentherapie integriert werden kann, doch auch deren therapeutische Stringenz verfehlt Rießbeck.
Zweifellos ist die existentielle Dimension im Rahmen einer Traumatherapie außerordentlich bedeutsam. Dieses Thema aufgegriffen zu haben ist verdienstvoll. Zu oft bewegen Traumatherapeut*innen sich bei der existenziellen Dimension von Traumatisierung weg von der Lebensrealität ihres Gegenübers eher allgemein oder dann sehr persönlich in den Bereich des Spirituellen oder gar des Esoterischen. Trauma hat sicher auch eine spirituelle Dimension, der sich Rießbeck nicht entzieht; er macht jedoch deutlich, das Traumatisiert-Sein nicht als tragfähiger Identitätsentwurf taugt.
Fazit
Helmut Rießbecks Buch kann als Einstieg für traumatherapeutisch Interessierte genutzt werden, die sich einen Überblick über die psychotraumatologischen Konzepte verschaffen wollen. Auch für die Orientierung von Mitarbeiter*innen von Jugendhilfeeinrichtungen und anderen sozialen Diensten ist es empfehlenswert. Als eine systematische Einführung in die existentielle Therapie würde ich das Buch nicht empfehlen. Sein Hauptverdienst besteht darin, an eine zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dimension menschlichen Daseins anzuknüpfen – alle hier zitierten Texte sind seit Jahren vergriffen.
Literaturverzeichnis
www.dgsf: Stellungnahme der DGSF zum Thema Familienaufstellungen
Benedetti, Gaetano (1992): Psychotherapie als existentielle Herausforderung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Binswanger Ludwig (1956): Drei Formen missglückten Daseins, Tübingen: Max Niemeyer
Boss, Medard (1957): Psychoanalyse und Daseinsanalytik, Bern und Stuttgart: Hans Huber
Gaarder, Jostein (1991): Sofies Welt, München: Hanser
Gebsattel, Viktor E. Freiherr von(1954): Prolegomenia einer Medizinischen Anthropologie, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer
Michel Foucault (1973): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt: Suhrkamp
Frankl, Viktor E. (1966/2005): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse in Viktor E. Frankl: Gesammelte Werke Band 4, Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag
Marx, Karl in Marx/Engels Werke Bd 1, S. 59; Berlin: Dietz
Precht, Richard David (2007): Wer bin ich und wenn ja, wie viele; München: Goldmann
Scharfetter, Christian (2012) Scheitern. In der Sicht auf Psychopathologie und Therapie, Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis
Yalom, Irving D. (1989) Existentielle Psychotherapie, Köln: Edition Humanistische Psychologie
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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