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Henrike Voß: Was bindet Menschen mit Demenz an das Leben?

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 01.08.2022

Cover Henrike Voß: Was bindet Menschen mit Demenz an das Leben? ISBN 978-3-8487-8634-3

Henrike Voß: Was bindet Menschen mit Demenz an das Leben? Eine erweiterte Perspektive auf Advance Care Planning. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. 508 Seiten. ISBN 978-3-8487-8634-3. 99,00 EUR.

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Thema

Laut Wikipedia wird Advance Care Planning (ACP) als ein Beratungskonzept in der Gesundheitsversorgung (u.a. gesundheitliche und vorausschauende Versorgungsplanung) bezeichnet: „Anhand eines kontinuierlichen, strukturierten Beratungs- und Begleitungsprozesses sollen mögliche Erwartungen eines Patienten an seine zukünftige Behandlung und Pflege festgestellt sowie eindeutig und verständlich formuliert dokumentiert werden. Damit wird sichergestellt, dass der Patient umfassend informiert und aufgeklärt ist und seine Wünsche dem jeweiligen Behandlungsteam und den Angehörigen und Betreuern bekannt sind. So kann der mutmaßliche Wille der betroffenen Person auch in Situationen vertreten werden, in denen sie selbst nicht mehr in der Lage ist, das weitere Vorgehen in ihrem Sinne zu gestalten. Dabei werden Menschen von speziell ausgebildeten Beratern dabei begleitet, wenn sie sich mit ihren Wünschen, Vorlieben und Vorstellungen zur Versorgung bei künftigen gesundheitlichen Krisen auseinandersetzen.“ Aus der Sicht der Autorin wird die Gruppe der Demenzkranken im frühen Stadium der Erkrankung bei diesen Modalitäten der Gesundheitsvorsorge nicht angemessen berücksichtigt. Aus diesem Grund hat sie sich diesem Gegenstandsbereich im Rahmen einer empirischen Studie gewidmet.

Autorin und Entstehungshintergrund

Henrike Voß ist laut linkedin.com examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Pflegepädagogin (BA) und Sport- und Bewegungsgerontologin (MA). Gegenwärtig arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg (Institut für Gerontologie). Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um ihre Dissertation aus dem Jahr 2020 an der Universität Heidelberg.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit besteht aus acht Kapiteln nebst Anhang (u.a. Fragebogen, Skala zum Gesundheitszustand und Interviewleitfaden).

In Kapitel 1 (Einleitung – Seite 33 - 38) wird kurz darauf verwiesen, dass die Advance Care Planning (ACP) in Deutschland als eine erweiterte Patientenverfügung noch nicht über ein Modul für Demenzkranke verfügt, obwohl in den Pflegeheimen bereits ca. 75 Prozent der Bewohnerschaft demenzkrank sind. Auf der Grundlage des ACP-Programms „Behandeln im Voraus Planen“ (BVP) wurde eine Modifizierung des Fragebogens unter dem Aspekt der Lebensbindung erstellt und im Anschluss erprobt.

Kapitel 2 (Einführung in das Thema Demenz – Seite 39 - 71) enthält zu Beginn übersichtsartig die medizinischen Aspekte der Demenz (Ursachen der Erkrankung, Demenzformen und Abbaugrade). Es folgen recht ausführlich Ausführungen zum sogenannten „Leibgedächtnis“ nach Thomas Fuchs und den „Innenperspektiven“ bei Demenzkranken im frühen Stadium unter dem Aspekt der Krankheitsbewältigung. Des Weiteren wird der „person-zentrierten Ansatz“ nach Tom Kitwood auf der Grundlage der Modelle der „humanistischen Psychologie“ (u.a. Rogers) mit Aspekt „Erhalt des Personseins“ („Demenz als Beziehungsgeschehen“) als Orientierungs- und Bezugsrahmen für die Studie erläutert.

In Kapitel 3 (Konzeptionelle Betrachtung zentraler Aspekte von Lebensbindung – Seite 72 - 148) wird das zentrale Konzept der Studie, die „Lebensbindung“, im Rahmen der folgenden Modelle entfaltet: das „subjektive Lebensinvestment“ (Ursula Staudinger), das „Konzept der positiven Lebensbewertung“ (M. Powell Lawton), „Daseinsthemen“ (Hans Thomae) und „Lebensstrukturen“ (Daniel Levinson). Im Anschluss wird die Übertragbarkeit bestimmter Inhalte dieser Konzepte bezüglich des Gegenstandsbereichs Demenz eingehend erörtert.

Kapitel 4 (Lebensbindung als erweiterte Perspektive auf Advanced Care Planning (ACP) – Seite 149 - 209) erläutert verschiedene Aspekte der Integration des Modells Lebensbindung in die bestehenden ACP-Konzepte, wobei u.a. im Bereich Demenz Problembereiche wie die Einwilligungsfähigkeit und die Selbstbestimmung und Autonomie thematisiert werden.

In Kapitel 5 (Modifikation der Werteanamnese (Pilotstudie) – Seite 210 – 234) wird detailliert beschrieben, wie im Rahmen einer Erprobungsstudie mithilfe von mehreren Probanden der Fragebogen zur Werteanamnese insgesamt elfmal überarbeitet wurde.

Kapitel 6 (Den Menschen mit Demenz eine Stimme geben (Hauptstudie) – Seite 235 – 379) enthält die wesentlichen Inhalte der Hauptstudie: zwölf Demenzkranke im frühen und mittleren Stadium verschiedener Demenzen wurden an zwei Zeitpunkten hinsichtlich ihrer Werte und Wünsche zu den Themen Leben, Sterben und lebensverlängernde Maßnahmen befragt. Dabei wurden sowohl fördernde als auch hemmende Faktoren bezüglich des inneren Erlebens von Lebensbindung bei den Probanden herausgearbeitet. Als hemmende Faktoren erwiesen sich u.a. Angst vor Leiden, kognitivem Abbau und dem Alleinsein und Angst vor dem Tod. Als fördernde Faktoren bezüglich inneren Erlebens der Lebensbindung wurden u.a. angeführt: der Glaube, Lebensfreude und Lebenszufriedenheit, Schwelgen in schönen Erinnerungen und Hoffnungen.

Kapitel 7 (Verbindung von Lebensbindung, ACP und Demenz – Seite 380 – 442) besteht aus einer Verknüpfung der Aussagen der Demenzkranken mit den Grundannahmen der vier angeführten Lebensbindungstheorien hinsichtlich der Wertigkeit dieser Konzepte als Orientierungs- und Bezugsrahmen für das Konzept einer erweiterten Perspektive im Kontext einer „Advance Care Planning“ (ACP).

In Kapitel 8 (Zusammenfassung und Ausblick – Seite 443 – 450) hebt die Autorin nochmals hervor, dass im Rahmen der ACP auch die Aspekte der Demenz mit entsprechenden Modulen angemessen berücksichtigt werden sollten. Sie plädiert diesbezüglich für leitfadenorientierte Gespräche über die Themen der Lebensbindung anstelle bloßen Checklisten-Abfragens. Diese Gespräche sollten möglichst bereits im frühen Stadium im häuslichen Bereich geführt werden und nicht wie gesetzlich vorgesehen weit später erst im Pflegeheim.

Diskussion

Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit einem äußerst heiklen Thema: das Wahrnehmen, Erfassen und Verarbeiten des geistigen Abbaus bei Demenzkranken im frühen und mittleren Stadium. Das Erleben der zunehmenden Vergesslichkeit, das Begreifen, dass alltägliche Handlungen wie Stricken oder Kuchen backen nicht mehr so recht gelingen wollen, all das verunsichert und verängstigt die Demenzkranken in diesen Stadien. Depression und sozialer Rückzug sind dann oft die Folgen dieses Bewusstwerdungsprozesses der zunehmenden geistigen Hinfälligkeit. In dieser Phase der Erkrankung sich Gedanken über die eigene Zukunft zu machen, ist dementsprechend kein leichtes Unterfangen. Die Studie zeigt, dass die Erkrankten überwiegend noch Lebensmut haben, einige hoffen sogar auf Besserung. Doch verdrängen auch manche das ganze Geschehen. Halt geben den Interviewten vor allem die Angehörigen, die Ehepartner und Kinder. Und auch der Glaube gibt Stärkung und Trost.

Kritisch an dieser Arbeit gilt es nur anzumerken, dass spekulative und damit empirisch nicht belegbare Konstrukte wie das so genannte „Leibgedächtnis“ und normativ-ideologische Sichtweisen wie der Kitwood-Ansatz (Ablehnung der Demenz als Krankheit und Negierung des Abbauprozesses in Stadien) sich nicht als Orientierungsrahmen für eine empirische Untersuchung im Themenbereich Demenz eignen.

Fazit

Leser, die sich mit dem Arbeitsfeld Vorsorge und Patientenverfügung für Demenzkranke beschäftigen, werden dieser Untersuchung einige wertvolle Hinweise und Anregungen entnehmen können.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 228 Rezensionen von Sven Lind.

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ISSN 2190-9245