Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus

Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Matthes & Seitz (Berlin) 2021. 345 Seiten. ISBN 978-3-7518-0328-1.
Thema
Wohl kaum ein anderes Thema hat vor der Corona-Pandemie die Öffentlichkeit so sehr beherrscht wie die Klimakrise. Im Ausgangspunkt von „Fridays for future“ auf die Tagesordnung gesetzt, gibt es inzwischen ein breites Bewusstsein für den vom Menschen verursachten Klimawandel und der Notwendigkeit, dagegen tätig zu werden. Was hierbei jedoch der richtige Ansatz ist und was genau am „Menschen“ und seinem Handeln den Klimawandel erzeugt, darüber gibt es in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit unterschiedlichste Verständnisse.
Klaus Dörre hat mit „Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution“ ein Buch vorgelegt, das verschiedene Perspektiven auf die Klimakrise aufgreift, einordnet und kritisiert sowie eine eigene Sicht auf die anstehende sozial-ökologische Transformation entwickelt. Warum wirkt unsere Gesellschaft bislang so zerstörerisch auf Natur und Klima, wie kann sie zu einer nachhaltigen umgebaut werden und wie gelingt es, dabei alte und neu entstehende soziale Fragen systematisch zu berücksichtigen?, so können die Leitfragen des vorliegenden Werkes zusammengefasst werden.
Autor
Klaus Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena. Er ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Zusammen mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich hat er die Kollegforschungsgruppe Postwachstumsgesellschaften gegründet.
Aufbau und Inhalt
Neben einer Einführung und einem Schluss gliedert sich das Werk in elf Kapitel. Der Selbstauskunft des Autors zufolge handelt es sich um die Form eines Essays „ohne den Anspruch einer systematischen Aufarbeitung“ (S. 14) der Literatur.
In der „Einführung, Selbstverortung eingeschlossen“ erläutert Dörre – eingebettet in einen persönlichen Rückblick auf sein bisheriges politisches Leben –, woran es seiner Ansicht nach im Kontext der Klimadiskussionen fehlt: an einer „glaubwürdigen Alternative“ (S. 13). Das Buch soll diesen Mangel aufheben und entwickelt dabei folgende „Hauptthese“: „Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können“ (S. 14). Klaus Dörre möchte also ausdrücklich am Sozialismus-Begriff festhalten und „Koordinaten“ für die Utopie einer neuen, ökologisch nachhaltigen Gesellschaft unter diesem Begriff entwickeln.
Zu diesem Zwecke entwickelt er im ersten Kapitel „Visionen: ‚Pandemie stoppt Klimawandel!‘ die Vision einer Gesellschaft nach einer ökologisch-sozialistischen Transformation. Unter anderem ist diese Gesellschaft durch ein radikal verändertes Verkehrskonzept, durch Biolandwirtschaft und klimagerechtes Bauen, auf der institutionellen Ebene durch Nachhaltigkeitsräte und den Vereinigten Staaten von Europa, durch ein Ende des Impfstoffnationalismus, einer Rückverteilung von den Zentren in die Peripherie, einer Arbeitszeitverkürzung und neuen Diskussionen und Konflikte über die Distribution des Mehrproduktes, über Lebensstile und andere gesellschaftliche Fragen geprägt. Nach dieser groben Skizzierung folgt ein Szenenwechsel zum Gründungskongress von Students for Future von 2019, der die Pluralität der Klimabewegung verdeutlicht.
Angesichts der Irrwege historisch realer Sozialismen lehnen sowohl in der Klimabewegung als auch innerhalb der kritischen Sozialwissenschaft viele das „S-Wort“ als Zielbeschreibung einer neuen Gesellschaft ab. Im zweiten Kapitel „Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?“ diskutiert Dörre deswegen alternative Begriffsvorschläge für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf. Er plädiert gerade angesichts der Fehler und Mängel für eine Beibehaltung des Begriffs, um „die höchst widersprüchliche Geschichte des Sozialismus nicht zu verdrängen, sondern sie zu reflektieren“ (S. 27). Die De-Growth-Bewegung hat ihm zufolge zwar viele richtige Ansätze, jedoch eine analytische Leerstelle hinsichtlich Fragen der Produktion (S. 28). Den Terminus „demokratischer Sozialismus“ lehnt Dörre zwar nicht grundsätzlich ab, verweist jedoch angesichts des Klangs nach „ausgelaugter Sozialdemokratie“ (S. 30) auf die – zumindest in der deutschen Debatte – mangelnde Strahlkraft des Begriffs.
Nachdem also begründet wurde, weswegen ein Gesellschaftsentwurf am Terminus „Sozialismus“ festhalten sollte, wird im dritten Kapitel „Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie“ in der Auseinandersetzung mit Friedrich Engels Kriterien eines zeitgemäßen Sozialismus herausgearbeitet. Wie bereits als Hauptthese des Buches in der Einführung benannt, muss der Sozialismus heute wieder zur Utopie werden. Hierfür ist es nötig, ihn „im Plural (zu) buchstabier(en)“ (S. 39) und ihn nicht allein als ökonomisches Programm im Sinne einer Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln zu verstehen, mit der alle anderen Ungleichheiten mehr oder minder automatisch überwunden wären.
Um einen „Kompass sozialistischer Transformation“ (S. 50) zu entwickeln, bedarf es neben der Diskussion um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel auch ein Verständnis der sogenannten Kapitalistischen Landnahme verbunden mit dem Expansionsparadoxon, der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise sowie der Debatte um ein neues Erdzeitalter. Dieses wird im vierten Kapitel „Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän“ entwickelt.
Unter dem ersten Faktor versteht Dörre, der dabei auf Rosa Luxemburg rekurriert, die stete Notwendigkeit des Kapitalismus, sich auszudehnen – mit widersprüchlichen Folgen: „Je erfolgreicher die Akkumulations-, Wachstums- und Kommodifizierungsmaschine arbeitet, desto wirkungsvoller untergräbt sie die Selbstreproduktionsfähigkeit sozialer und natürlicher Ressourcen, ohne die moderne kapitalistische Gesellschaften nicht überlebensfähig sind“ (S. 52). Diese Annahme impliziert Dörre zufolge jedoch nicht einen automatischen Zusammenbruch des Systems, insofern historisch gesehen immer wieder neue Mechanismen der Aufschiebung des Kollapses, wie das Kreditsystem oder der Sozialstaat, herausgebildet wurden.
Der zweite Faktor, die ökonomisch-ökologische Zangenkrise, bedeutet, „dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, hohe Ressourcen- und Energieintensität auf fossiler Grundlage) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt“ (S. 61). Zur Linderung der kapitalismusimmanenten Krisen wäre also (verstärktes) Wirtschaftswachstum nötig, das aber die Klimakrise forcieren würde.
Hinsichtlich des neuen Erdzeitalters, dem dritten Faktor, zeichnet der Autor die Diskussion um die Begrifflichkeiten „Anthropozän“ bzw. „Kapitalozän“ nach. Anthropozän meint, „dass die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der Reproduktion auch von außermenschlicher Natur geworden ist“ (S. 63). Debattiert wird in diesem Kontext unter anderem, inwiefern der Begriff eine falsche Abstraktion darstellt, insofern es „die Menschheit“ nicht gibt, sondern unterschiedlichste „Klassen, Schichten, Geschlechterverhältnisse(), Nationen, Ethnien, Zentrum und Peripherie, asymmetrische() Machtverteilungen und Herrschaftsmechanismen“ (S. 69). Dennoch möchte Dörre den Begriff nicht verwerfen, sondern mit ebendiesem gesellschaftlich geschaffenen Inhalt füllen.
Weshalb jedoch können diese drei Ausdrücke der Krise nur durch eine sozialistische Transformation überwunden werden? Dieser Frage geht der Autor im fünften Kapitel „Gründe: Warum nachhaltiger Sozialismus?“ nach, in dem mehrere Konfliktachsen des heutigen Systems – Stagnation der Wirtschaft, Ungleichheit als Wachstumsbremse und die Gefahr eines Ökozids – erläutert werden. Unter anderem kritisiert der Autor die Vorstellung, dass alle Menschen in gleicher Weise von ökologischen Krisen betroffen sind (S. 84) und in diesem Kontext auch die „theoretische und politische Marginalisierung des Klassenbegriffs, wie er für einen Großteil der wachstumskritischen Literatur charakteristisch ist“ (S. 85). Diesen Mangel möchte er überwinden und dabei zugleich dafür argumentieren, dass keine kapitalismusimmanenten Lösungen für die Zangenkrise existieren – zumal dieses System, dem Autor zufolge, die Probleme überhaupt erst hervorbringt (s. auch Kapitel sechs, S. 108 ff.).
Im sechsten Kapitel „Nachhaltigkeit: Eine neue Rechtfertigungsordnung“ werden die „normativen Grundlagen“ (S. 96) der vom Autor vorgeschlagenen Politik entwickelt. Dörre zufolge können die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen als normative Basis dienen. Unter anderem haben sie den Vorteil, konkreter als „die luftigen Formeln vom guten Leben oder eines resonanten Gemeinwohls“ (S. 96) zu sein. Diese Ziele zeichnen sich unter anderem dadurch aus, einen starken Fokus auf Soziale Fragen zu legen – die Bekämpfung der Armut und des Hungers sowie die Verringerung der Ungleichheit innerhalb und zwischen den Nationen sind hier vor allem zu nennen. Diesen Fokus auf das Soziale vermisst Dörre bei politischen Programmen wie dem EU-Green-Deal sowie bei vielen Studien zur Klimapolitik, denen er eine „politische Ignoranz gegenüber sozialen Nachhaltigkeitszielen und deren Konfliktträchtigkeit“ (S. 111, Hervorh. i. O.) vorwirft.
„Heutzutage gehören die Karten auf den Tisch“ (S. 117), weswegen nach der Herausarbeitung der normativen Basis im siebten Kapitel die „Fundamente: Konturen nachhaltig sozialistischer Gesellschaften“ dargelegt werden. Zahlreiche Einzelelemente einer neuen Gesellschaftsordnung wie eine neue Rechtsstruktur, kollektive Eigentumsformen, Wirtschaftsdemokratie, Kreislaufwirtschaft, living wages, Verkürzung der Arbeitszeit, die Aufwertung der Sorgearbeit und Nachhaltigkeitsräte werden ausführlich diskutiert. Der nachhaltige Sozialismus unterscheidet sich von der jetzigen Ordnung zusammengefasst vor allem darin, dass „anstelle des Gewinnstrebens soziale Bedürfnisse, Kooperation, kollektives Lernen, und solidarische Sozialbeziehungen die Dynamik bestimmen“ (S. 118). Sukzessive wird er „verinnerlicht“, er wird „habitualisiert und bestimmt als inkorporierte Struktur, als verinnerlichtes Äußeres, zunehmend die Auswahl individueller und kollektiver Handlungsstrategien“ (S. 149).
Im achten Kapitel „Produktivkräfte: Digitaler Sozialismus?“ wird sich ausführlich mit dem Konzept des Digitalen Sozialismus als vermeintliche Antwort auf die Wachstumskrise des Kapitalismus auseinandergesetzt. „Effizienz: Demokratische Planung, humane Arbeit, befreites Leben“ heißt das neunte Kapitel, in dem unter anderem Schlüsselsektoren für einen Nachhaltigkeitswende in den Fokus genommen werden. Der Banken- und Finanzsektor ist Dörre zufolge „die Herzkammer der (…) Landnahmen des Sozialen“ (S. 167), weswegen er zerschlagen und die Form des öffentlichen Eigentums bekommen sollte (S. 170). Als solches könnte der Finanzmarkt systematisch in den Dienst für nachhaltige Investitionen unter anderem im Verkehrs-, Energie- und Gebäudesektor genommen werden.
Damit die Transformation gelingt, muss der Einsatz von entsprechenden Instrumenten wie Kredite und Investitionen sowie die Maßnahmen auf den unterschiedlichen Politikfeldern geplant werden. Der Autor plädiert für die Einführung dieser planwirtschaftlichen Elemente und einer neuen Kombination von Markt und Plan in der zukünftigen Ökonomie. Argumente gegen die Planwirtschaft weist er auch damit zurück, dass diesen eine falsche Prämisse über die Marktwirtschaft zugrunde liegen würde: Auch in dieser werde ständig innerhalb des unternehmensinternen Subsystems geplant, so zum Beispiel in der Automobilindustrie (S. 179). Unternehmen an sich sowie der Wettbewerb zwischen diesen sollen nicht abgeschafft werden. Jedoch verändern sich die Maßstäbe: Die Konkurrenz „wird nicht mehr über Löhne, sondern über Zuverlässigkeit und Produktqualität ausgetragen“ (S. 183) und Erfolgsindikatoren schließen auch die jeweilige Behandlung der Natur mit ein.
Im zehnten Kapitel „Katastrophen: Sozialismus oder Pandemie“ setzt sich Dörre mit der Corona-Pandemie und deren Konsequenzen für die Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne einer sozialen Nachhaltigkeit auseinander. Er zeichnet nach, dass durch die Pandemie und die Maßnahmen zur Bekämpfung dieser die ökonomisch-ökologische Zangenkrise enorm verschärft wurde. Die Impfstoffe sind ein zentrales Beispiel für seine generelle Forderung nach der Entwicklung von neuen Eigentumskonzepten, in diesem Fall der Behandlung der Impfstoffe als globales öffentliches Gut, um der Realisierung der SDGs ein stückweit näher zu kommen (vgl. S. 215 ff.).
„Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!“ lautet das elfte Kapitel, in dem Dörre auf die Möglichkeiten der Schaffung von Mehrheiten für seine Utopie des Sozialismus reflektiert und dabei Hindernisse und Spaltungslinien nicht ausgeblendet. „Zum Schluss: Sozialismus im Handgemenge“ greift vier kritische Fragen auf, die Dörre zufolge bei Veranstaltungen, auf welchen er seinen Entwurf vorgestellt hat, immer wieder gestellt wurden. Unter anderem finden sich hier eine Verhältnisbestimmung zum bzw. Kritik des Konzepts der imperialen Lebensweise und einer Zukunftsvision im Falle des Ausbleibens der sozial-ökologischen Transformation.
Diskussion
Dörres Werk – das seinem eigenen Anspruch nach lediglich einen „Essay“ darstellt – zeichnet sich dadurch aus, dass zum einen eine alternative nachhaltig-sozialistische Gesellschaft umrissen wird und zum anderen sämtliche andere Theorien und Überlegungen im Umkreis der Debatten um die Klimakrise, der sozial-ökologischen Transformation und des Postwachstums aufgegriffen, in sein eigenes Verständnis eingeordnet und/oder kritisiert werden. Der Autor legt also nicht einfach eine (weitere) Utopie einer besseren Welt, wie er sie sich vorstellt, vor, sondern setzt diese ins Verhältnis zu anderen Verortungen der globalen Herausforderungen sowie alternativen Ansätzen zur Lösung dieser.
Beispielhaft seien hier die Auseinandersetzungen mit Hartmut Rosas „Resonanztheorie“ (S. 96), Stephan Lessenichs „Externalisierungsgesellschaft“ (S. 257), Ulrich Brands und Markus Wissens Konzept der imperialen Lebensweise (S. 255 ff.), Andreas Malms „Ökoleninismus“ (S. 207), zumindest implizit mit Maja Göpels „Die Welt neu denken“ (S. 199) bzw. der vielen „Wir“-Floskeln in anderen Analysen aus dem Postwachstumsdiskurs zu nennen. In diesem Kontext ist auch die kritische Auseinandersetzung mit den Apologet*innen des Verzichts hervorzuheben (S. 144): Eine Fokussierung auf eine Veränderung des Lebensstils wie eine Reduzierung des Fleischkonsums stellen für ihn „Vereinfachungen“ dar, die „einer politischen Ökonomie der Nachhaltigkeit“ (S. 144) widersprechen, insofern sie soziale Ungleichheiten und sich daraus zur Aufhebung derselben sich ergebende Ansätze wie living wages, Lieferkettengesetze, den Ausbau der sozialen Infrastruktur und Fragen der Produktion im Allgemeinen vernachlässigen.
En passant werden also falsche Vorstellungen argumentativ widerlegt, die in zahlreichen gesellschaftlichen Debatten kursieren. So weist Dörre beispielsweise darauf hin, dass der Trend zur Digitalisierung neben der Einsparung von monotoner Tätigkeit zu einer zunehmenden Polarisierung von Beschäftigung führen wird. In der Plattformökonomie kommt es zu prekärer Beschäftigung; nicht rationalisiert werden Berufe, für die hohe Qualifikation und für die keine besondere Ausbildung notwendig ist. Bei Letzteren lohnt sich häufig aufgrund des niedrigen Lohnniveaus der Einsatz von Maschinerie nicht. Sofern Menschen als abhängig Beschäftigte jedoch weiterhin auf die Lohnzahlung angewiesen sind, ist nicht realisierbar, was unter den Bedingungen permanenter Fortentwicklung der Technik möglich wäre: weniger Gesamtarbeitszeit der Gesellschaft und dadurch eine zunehmende Zeitsouveränität all ihrer Mitglieder, die sich die Arbeitszeit kollektiv und kooperativ aufteilen (S. 187 f.). Diese Ausführungen kontrastieren mit der ansonsten üblichen Besprechung, in der Digitalisierung entweder technikblind als große Verheißung gepriesen oder aber als Schreckgespenst angesichts eines zunehmenden Wegfalls von Arbeitsplätzen ausgemalt wird. Bei Dörre lässt sich lernen, dass die gesellschaftlichen Konsequenzen nicht eine Frage der Produktionsmethoden, sondern des ökonomischen Systems sind.
Und er entwickelt nicht einfach nur eine Utopie im Wolkenkuckucksheim, sondern hat – und erfüllt – den Anspruch, die Konturen dieser aus der Analyse und Kritik des Bestehenden zu entwickeln. So weist er, wie dargelegt, unter anderem nach, dass dem kapitalistischen System ein beständiges Expansionsstreben und eine Untergrabung der Natur immanent ist und dies wiederum die sogenannte ökonomisch-ökologische Zangenkrise begründet. Teilt man diese Analyse, ergeben sich daraus einige Elemente der Transformation, wie zum Beispiel die Einhegung des Gewinnstrebens, das den Expansionsdrang hervorruft.
Dabei ist es eines der wenigen – wenn nicht gar das einzige deutschsprachige – Buch auf diesem Feld, das die sozialen Fragen innerhalb Deutschlands als auch mit Blick auf den Globalen Süden systematisch mitdenkt. Unter anderem wird auch reflektiert, welche neuen sozialen Fragen eine sozial-ökologische Transformation der Ökonomie aufwirft. Am Beispiel des Kohleausstiegs in der Lausitzregion arbeitet Dörre einen Paradigmenwechsel heraus: „Der veränderte Inhalt der Transformation, also der Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, verwandelt den alten industriellen Klassen- mehr und mehr in einen sozial-ökologischen Transformationskonflikt“ (S. 104). Es ergeben sich neue Spannungen „innerhalb von Klassenfraktionen, die, sozial gesehen, ein Leben führen, das sich durch großen Abstand zu den Lebensstilen und dem Luxuskonsum herrschender Klassen auszeichnet“ (S. 105). Diese neuen Polarisierungen müssen Wissenschaftler*innen analysieren und sie müssen bei Transformationsvorschlägen nicht nur berücksichtigt, sondern zum wesentlichen Bezugspunkt gemacht werden.
Das bedeutet beispielsweise auch, dass man es sich zu einfach macht, wenn schlicht weniger Wachstum gefordert wird. Wachstum kann zwar nicht mit einem höheren Lebensstandard gleichgesetzt werden (s. hierzu bspw. die Arbeiten von Stefanie Hürtgen), aber ohne es entstehen keine Arbeitsplätze und insofern sind lohnabhängige Beschäftigte hier wie im Globalen Süden abhängig von der Möglichkeit rentabler Investitionen in den produktiven Sektor. Diesen blinden Fleck sämtlicher Postwachstumstheorien, die verkennen, dass Kapitalwachstum in unserer Gesellschaft nun mal das verbindlich gemachte Gemeinwohl darstellt, von dem wir alle abhängen, überwindet Dörre in seinen Ausführungen zur Zangenkrise.
Natürlich können bei einer solch umfangreichen und umfassenden Analyse viele Dinge nur angerissen werden, sodass der/die Leser*in mit zahlreichen Denkanstößen zurückgelassen wird – eine gute Basis zur selbstständigen Auseinandersetzung. Vor allem die ersten Kapitel erscheinen jedoch partiell redundant aufgrund von Wiederholungen. Und selbstredend können nicht alle Ausführungen, zum Beispiel zur notwendigen Kommodifizierung zum Zwecke der Aufwertung der Sorgearbeit, im Detail überzeugen. Auch „Wachstumssubjekt“ (S. 193) als Gegenbild zu Erich Fromms „Marketingcharakter“ scheint kaum ein gelungener Terminus, da Wachstum vermutlich nicht nur von der Verfasserin mit Wachstumszwang, Optimierungserfordernissen und neoliberalen Perfektionierungsansprüchen an das Subjekt in Verbindung gebracht werden. In der Gesamtschau jedoch handelt es sich um das vermutlich wichtigste, analytisch stärkste Werk, das im deutschsprachigen Raum zum Thema sozial-ökologische Transformation vorliegt.
Fazit
Inhaltlich ist vor allem das systematische Mitdenken der sozialen Fragen – sowohl in Bezug auf Deutschland als auch den Globalen Süden – hervorzuheben, die von vielen anderen auf diesem Feld gänzlich ausgeblendet oder sogar ignorant übergangen werden, wenn schlicht höhere Preise auf tierische Produkte und Billigwaren oder weniger Wachstum unter Ausblendung der Folgen für die ärmsten Staaten gefordert werden. Unabhängig davon, ob die Leser*innen allen Argumenten zustimmen, eröffnet es überhaupt den Raum für eine argumentative Auseinandersetzung. Es werden fundierte Fakten dargelegt und Argumente entwickelt, sodass sich diese Analyse völlig abhebt von anderen engagierten Schriften, die zu häufig zu einem rein moralischen Appell degenerieren. Die Widmung des Essays lautet: „Anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels und für die Aktivisten in der Klimabewegung unserer Zeit“. Dörre hat genau genommen nicht Engels Weg zurück von der Wissenschaft zur Utopie bestritten, sondern Wissenschaft und Utopie im Hegelschen Sinne aufgehoben.
„Gut möglich, dass meine Botschaft ungehört verhallt; es bliebe dann bei der Wortmeldung eines soziologischen Einzelkämpfers aus einer politischen Generation, für die abzutreten zur vornehmsten Aufgabe geworden ist“ (S. 254). Es bleibt zu hoffen, dass Klaus Dörre mit seiner Einschätzung der Wirkung des Buches nicht recht behalten wird.
Rezension von
Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der OTH Regensburg
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