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Timm H. Lohse, Christoph Schneider-Harpprecht: Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 03.03.2022

Cover Timm H. Lohse, Christoph Schneider-Harpprecht: Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung ISBN 978-3-525-62016-8

Timm H. Lohse, Christoph Schneider-Harpprecht: Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung : vom Clou des Kurzgesprächs. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2020. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. 188 Seiten. ISBN 978-3-525-62016-8. D: 23,00 EUR, A: 24,00 EUR.

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Autor

Timm Lohse war viele Jahre als seelsorgerischer Berater tätig und hat mehrere Bücher zum Thema der Kurzberatung verfasst.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist zuerst 2003 erschienen. Es war der Ausgangspunkt zu einer pastoralpsychologischen Beratungsschulenbildung mit einem Trägerverein, einem mehrstufigen Ausbildungsangebot, Trainerwesen und weiteren Büchern von Lohse und anderen Gleichgesinnten (www.kurzgespraech.de). Parallel zur Entwicklung wurde das Buch mehrfach wiederaufgelegt und nun für die 5. Auflage überarbeitet und erweitert.

Aufbau und Inhalt

Eine Hinführung benennt als Ziele des Buches, das Kurzgespräch als Beratungsform darzustellen und den Beratern zu helfen, eine ‚postkommunikative Depression‘ zu vermeiden, die sich nach unbefriedigenden kürzeren Kontakten mit Klienten häufig einstellen soll. Das Kurzgespräch wird allgemein durch die vier Merkmale Sprache, Anerkennung der Person, Mäeutik und Seelsorge charakterisiert. Diese Merkmale, die später noch ausführlicher behandelt werden, führen in der Interpretation des Autors ‚auf kurzem Weg zum Kern der ratsuchenden Persönlichkeit‘. Die Kürze ist dabei durch die Achtung vor der Autonomie der Ratsuchenden, die nicht zum hilfebedürftigen Beratungsfall entmündigt werden sollen, geboten.

Kapitel 1 benennt Kenntnisse und Fertigkeiten, die als Voraussetzungen der Kurzberatung nötig sind. Eine auf Sprachentwicklung und -philosophie aufbauende Reflexion unterscheidet dabei zwischen der lexikalischen und der persönlichen Bedeutung von Worten, Letztere findet sich individuell im ‚Bedeutungstiefengrund‘ jedes Wortes einer Person. Es folgen ein paar Seitenhiebe auf den Psychojargon und politisch korrekte Ausdrucksweisen. Zur individuellen Sprachlichkeit wird weiter die ‚Sprachmodulation‘ erläutert, hier geht es um den Sinn-Beitrag der non-verbalen, paraverbalen und inszenatorischen Aspekte des Sprechens. Zur ‚Sprachverständigung‘ geht Lohse auf die Filterfunktion in der Verarbeitung von sprachlichen Äußerungen durch den Angesprochenen ein. Ein auf Problembearbeitung eingestellter Filter blendet den Ressourcenaspekt im Gespräch aus.

Situativ muss der Angesprochene sich mit der Gelegenheit des Kurzgespräches identifizieren. Die immer mögliche Ausrede, dass es zwischen Tür und Angel gerade nicht passt, soll das Kurzgespräch nicht behindern. Der Berater soll die Gelegenheit bejahen. Weiter sind komplementäre Asymmetrien im Kurzberatungsgespräch enthalten. Dem angesprochenen Helfer wird eine überlegene Position zugeschrieben, dem Ratsuchenden eine unterlegene. In gegenläufiger Weise ist dafür Letzterer der Experte, was die eigene Lebenssituation und ihre Problemgehalte angeht, während der Ratgeber hier ahnungslos ist. Die verschränkten Verhältnisse lassen sich in der Kürze der Zeit nicht kommunikativ auflösen. Berater im Kurzzeitkontext müssen diese Asymmetrien, die ständig zu Fallen im Gespräch zu werden drohen, mit Fingerspitzengefühl handhaben.

Beim Gesprächsmuster des ‚Konfliktkarussells‘ dreht sich die ratsuchende Person im Kreis und der Berater muss aufpassen, nicht auf das Karussell einzusteigen. Ratsuchende zeigen in ihrem Verhalten Opfer-, Sackgassen- oder Desorientierungsmuster. Statt den Details im Problemverständnis nachzujagen, sollen Berater sich nicht auf Konflikte, sondern auf die ratsuchende Person konzentrieren und ihr helfen, außerhalb von eingespielten Problempfaden Ressourcen zu aktivieren.

Im Abschnitt ‚Fertigkeiten‘ werden Hinweise zum Sprachverständnis und zur Sprachverwendung gegeben. Hier geht es um die Auflösung von Nominalisierungen, das Achten auf Füllpartikel, das Nachhaken bei zu allgemeinen Äußerungen oder die Entwicklung einer Sensibilität für ideosynkratische Begriffsfelder des Gesprächspartners. Konjunktive in den Formulierungen des Gegenübers sollen in den Indikativ Präsens oder das Futur umformuliert werden, um Nachdenklichkeit zu erzeugen. Bei non- und paraverbalen Signalen ist auf Kongruenz zu achten.

Mit diesem Handwerkszeug arbeitet das Kapitel 2 den ‚Clou‘ des Kurzgesprächs heraus. Dieser besteht zum einen in der Erweiterung des Fokus über die Engführung auf das Problem hinaus. Es sollen die ungenutzten Potenziale des Ratsuchenden angesprochen werden. Zum anderen besteht der Clou im ‚mäeutischen Impuls‘. Diesen sieht Lohse in der Tradition des platonischen Sokrates, der seine Rolle in den Gesprächen mit den athenischen Mitbürgern als Hebammenkunst – Mäeutik – dargestellt hat. Der Impuls setzt für Lohse voraus, dass man sich gegenüber der inhaltlichen Problemstellung abstinent zeigt und streng auf die Präsentationsform achtet, um im Aufnehmen und Umformulieren den persönlichen Intentionen des Gegenübers zu einem freieren Ausdruck zu verhelfen und eigenständige Problemlösungen voranzubringen. Der Impuls wird dann so konstruiert, dass eine Äußerung des Gegenübers …

  • beginnend mit einer Fragepartikel,
  • unter Aufnahme von Schlüsselwörtern des Gegenübers und
  • mit einer – eigentlich verkehrten – Absenkung der Stimme zum Ende des Fragesatzes beantwortet wird.

Beispielsweise wird so aus der Äußerung „Hoffentlich wird es mir gelingen…“ die Antwort „Worauf hoffen Sie.“

Der Fortgang dieses Kapitels behandelt dann Elemente einer ‚Steuerungskompetenz‘, die den Clou der Kurzzeitberatung zur Geltung bringt. Hier werden zum Beispiel die Verlangsamung des Gesprächs durch den ‚Willen zur Ruhe‘, die Aufmerksamkeitslenkung auf die Ressourcen oder die Kreativitätsförderung durch die Arbeit mit Metaphern und Erzählungen behandelt. Zentral wird – Steve de Shazer folgend – hervorgehoben, dass die Problemlösung durch Begleitung, Ermutigung und Formulierungshilfe, nicht aber als ‚Einmischung in die inneren Angelegenheiten‘ eines anderen gesucht werden soll.

Kapitel 3 stellt die Frage nach dem Zweck des Kurzzeitgesprächs. Mit Rückgriff auf ein biblisches Verständnis wird die seelsorgerische und beratende Hilfe von der therapeutischen Hilfe wie von dem Tun aus einem Helfersyndrom heraus abgegrenzt.

Kapitel 4 behandelt eine Reihe von Einsatzfeldern für das Kurzgespräch. Praktiker schildern hier als Co-Autoren die spezifischen Einsatzmöglichkeiten u.a. in der Krankenhausseelsorge, der Schulsozialarbeit, der Arbeit mit Migranten, der Supervision, der Telefonseelsorge oder im normalen Gemeindepfarramt. Die meisten Autoren verfahren dabei so, dass zunächst der Einsatzort kurz vorgestellt wird und dann Gesprächsbeispiele aus diesem Bereich wiedergegeben und erläutert werden.

Kapitel 5 ergänzt das vorherige Kapitel mit etwas ausführlicheren und allgemeineren Reflexionen des Co-Autors Schneider-Harpprecht zum Kurzgespräch in der Alltagsseelsorge. Er führt aus, dass der Seelsorgealltag zu einem großen Teil aus Kurzgesprächen besteht, die nicht ungenutzt bleiben sollten. In einer theologischen Reflexion lokalisiert er die Kurzzeitseelsorge zwischen der beratenden und der Alltagsseelsorge. Im Weiteren stellt er den systemischen Hintergrund des Kurzgesprächs dar und führt den Ansatz auf die lösungsorientierte Kurzzeittherapie zurück. Das Besondere sei hier der Bruch mit der Überzeugung, dass Veränderung langwierig sein müsse. Beispiele biblischer Kurzinterventionen verbinden den Ansatz mit der christlichen Tradition.

Kapitel 6 stammt dann wieder vom Hauptautor und versammelt Trainingsvorschläge zu den sechs zentralen Themen des Buches mit konkreten Vorschlägen für die Eigenarbeit und für ein Tandemlernen. Die Vorschläge sieht er als sinnvoll auf der Basis eines einführenden Trainingskurses der AgK e.V.

Diskussion

In Gegenbewegung zu sehr langwierigen psychotherapeutischen Behandlungen wurden viele Ansätze zu Kurzzeittherapien entwickelt. Auch in der psychoanalytischen Tradition, in der die Langzeittherapie am stärksten vertreten wird, gibt es diese Bewegung. Sie kann sich auf ihren in der Therapietechnik erstaunlich flexiblen Gründer berufen. Der hielt es nicht für unprofessionell, Gustav Mahler im Jahr 1910 auf einem längeren Spaziergang zu behandeln.

Dass auch die Beratungstheorie dieser Bewegung folgt, ist bei der großen Nähe von Beratung und Therapie kaum überraschend und das vorliegende Buch steht hier nicht allein. Dabei ist die Motivation des Autors, die vielen Gelegenheiten der Tür- und Angelgespräche ernsthaft zu utilisieren, also so zu gestalten, dass sich die professionelle Beratertätigkeit auch hier bewähren kann, sehr überzeugend.

Lohse verortet seinen Ansatz als praktische Seelsorge. Das mag die Laizisten in der Welt der sozialen Professionalität etwas befremden, viele Mitarbeiter, die unter dem weiten Dach der christlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland tätig sind, wird das aber vielleicht umso mehr ansprechen.

Als Vertreter einer praktisch-theologischen Arbeit hebt Lohse sich sprachlich deutlich von der psychologischen Begrifflichkeit ab. Das erscheint an sich legitim, wirkt aber etwas wie Maskerade, denn bei näherem Hinsehen erkennt man die gewohnten Begriffe wie die Ressourcenorientierung, die SMART-Regel, das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun. Insgesamt ist der Ansatz vor allem eine Aneignung der Arbeiten von de Shazer. Die sprachbewusste Ablehnung des Psychologenjargons verschleiert dabei die Herkunft der Begriffe und Konzepte. Zudem sucht der Autor auch Anschluss an die philosophische Begrifflichkeit, die beispielsweise bei Heidegger und seinem Begriff der ‚Sage‘, auf den er wiederholt zurückgreift, auch etwas eigentümlich ist und zur Jargonbildung geradezu einlädt. Die philosophische Grundierung ist aber insgesamt für mich ein erfreuliches Charakteristikum des Ansatzes. Problematischer sind dagegen die Anleihen beim Neurolinguistischen Programmieren. Dass es sich hier um Pseudowissenschaft handelt, ist in der Fachdiskussion nicht mehr strittig. Das ignoriert der Autor. Für die Überarbeitung des Buches hat er nur noch konsonante Quellen herangezogen, die neuere Fachdiskussion jenseits des Jahres 2000 wurde für die 5. Auflage nicht erschlossen. Die Literatur ist im Wesentlichen die der Erstauflage und stammt aus der Zeit vor der Jahrtausendwende.

Auch der zentrale Punkt der mäeutischen Impulse erscheint schwierig. Es handelt sich hier um eine Variante der etwas obskuren Ideolektik. Die Beispiele zu der mäeutischen Praxis sind auch zum Teil recht schräg. So wird aus „Meinen Hund will ich natürlich mitnehmen.“ der ‚Zaubersatz‘ „Was ist ihre Natur.“ Aus „Ich kann einfach nicht anders.“ wird der Impuls „Wie entfachen sie sich.“ Das Ergebnis dieser Art Zauberei wird nur durch die Einschätzung des Autors legitimiert. Da muss man überlegen, ob man Lohse hier folgen will.

Leichter fällt das bei den nicht wenigen überzeugenden Passagen, die das Buch auch enthält. Was Lohse etwa über den Willen zur Ruhe oder zu einer angemessenen Verabschiedung sagt, wirkt durch und durch erfahrungsgesättigt und ist besonders gelungen. Insgesamt bleibt aber von dem Buch ein eher zwiespältiger Eindruck.

Fazit

Ein Anleitungsbuch für kurze Beratungssituationen, das zum einen von einer reichhaltigen praktischen Erfahrung profitiert und sich im Fahrwasser der Kurzzeittherapie, vor allem de Shazers bewegt, das sich zum anderen aber aus eher obskuren Quellen speist.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 35 Rezensionen von Carl Heese.

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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 03.03.2022 zu: Timm H. Lohse, Christoph Schneider-Harpprecht: Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung : vom Clou des Kurzgesprächs. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2020. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-525-62016-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29037.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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