Wolf Lotter: Unterschiede
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.04.2022
Wolf Lotter: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber (Hamburg) 2022. 280 Seiten. ISBN 978-3-89684-293-0. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.
Kreative, individuelle, kollektive, kulturelle und interkulturelle Vielfalt
Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 deutlich gemacht, dass die Menschen pluralistisch und in Vielfalt leben. Sie forderte auf, sich dieses Menschheitssinns bewusst zu sein und im individuellen, lokalen und globalen Bewusstsein „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Im wissenschaftlichen Diskurs wird dieser notwendige Perspektivenwechsel mit zahlreichen, auffordernden Appellen und Konzepten unterfüttert. Hilfreich sind dabei keinesfalls die pessimistischen, fatalistischen, wahrheitsverleugnenden Kakophonien, sondern die optimistischen Hoffnungen, dass eine bessere, gerechtere Eine Welt möglich ist. Es lohnt sich, und es ist lebensbejahend und –erhaltend, „anders zu sein und das Anderssein zu verteidigen“.
Entstehungshintergrund und Autor
„Diversity“, das ist ein Zauberwort, wenn es darum geht, Friedfertigkeit, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in die Welt zu bringen: Alle Menschen sind gleich in ihrer anthropologischen Existenz. Sie sind verschieden in ihrer Individualität – und deshalb gleich! Es ist „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, die (die) Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Mit dieser globalen Ethik, wie sie in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Menschheitssinn zum Ausdruck kommt, kann es gelingen, sich auf die Suche nach Aufklärung und Realisierung für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen auf der Erde zu machen.
Der deutsch-österreichische Journalist und Autor Wolf Lotter meldet sich in zahlreichen Beiträgen und Publikationen zu Wort (Innovation. Streitschrift für ein barrierefreies Denken, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25046.php; Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php). Ein falsch verstandener „Gleichheits“-Begriff, als „Gleichmacherei“, macht nicht gleich und gerecht, sondern nur ungleicher und ungerechter. Was die Menschheit braucht ist das zivilisatorische „Wir als Vielfalt“; denn: „Unterschiede sind die Quellen allen Fortschritts, die wichtigste Quelle menschlicher Kreativität und damit auch unsere einzige Chance in einer Welt, in der sich die alten Gewissheiten vor unseren Augen in heiße Luft auflösen“. Es ist der Dreischritt von Innovation, Zusammenhang und Unterschied, der einen Licht-, keinen Tunnelblick ermöglicht.
Aufbau und Inhalt
Lotter gliedert sein Essay „Unterschiede“ in fünf Kapitel. Im ersten setzt er sich mit der Kompetenz auseinander, Vielfalt und Diversität als wichtigste Kraft der Wissensgesellschaft zu erkennen und zu praktizieren. Im zweiten unternimmt er eine „Inventur“, als Bestandsaufnahme, wie wir geworden sind, was und wie wir sind, wie wir uns selbst machen und gemacht und manipuliert werden. Es sind Erkenntnisprozesse vom Wollen und Sollen, von Erwartungshaltungen und Grenzen, ein knapper Durchmarsch von der Genesis bis zur Inklusion, von intellektuellen Standpunkten bis zu kakophonen Beckmessern. Das dritte Kapitel befasst sich mit „Gerechtigkeit“, und dabei mit der erst einmal verstörenden Diktion: „Warum Gleichheit nicht gerecht ist“. Denn die Fähigkeit, sich in das Denken und Sein des anderen Menschen hineinversetzen zu können, ist mit vielen Stolpersteinen, Schluchten und Stoppstraßen versehen. Um Unterschiede auszuhalten und zu leben, braucht es des Intellekts und der Emotion. Sie sind nicht als Sternschnuppen zu haben, auch nicht im Selbstbedienungsladen zu erwerben, sondern brauchen Regeln und Ordnungssysteme: „Vielfalt ohne Aushalten gibt es nicht. Differenz ohne Ertragen des Anderen ebenso nicht“. Beim vierten Kapitel geht es um „Wettbewerb“, der nicht egoistisches „Ich-will-alles-und-das-sofort“, und eben so wenig „Der-Mensch-darf-alles-machen-was-er-kann“ sein darf. „Wer bin ich?“ – und die Nachfrage: „Wenn ja, wie viele?“ (Richard David Precht), das sind Vergewisserungen, die geistig und körperlich als „Menschengesellschaft“ kundgetan werden. Das fünfte Kapitel will auf die Vielfalten des Wünschens, Hoffens, Gelingens und Scheiterns einige Antworten geben: „Versöhnung – Wie wir lernen, Unterschiede zu li (e)ben“. Es sind weder Freifahrtscheine, noch Sonderangebote, sondern Freiräume, die ausgestattet sind mit den Möbeln und Werkzeugen, wie „Respekt“, „Kompetenz“, „Klarheit und Wahrheit“. In die Wohnung führen fünf Stufen: Das Selbst-Tun und Sich-Zutrauen, also lernen – Das Wissen von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten – Die Einsicht und Überzeugungskraft – Die Bewertung – Die Umsetzung.
Diskussion
Die Frage nach den Unterschieden und Vielfalten des menschlichen Daseins chargieren zwischen den zahlreichen Möglichkeiten und Imponderabilien des Lebens, die fordernd, gelingend, strauchelnd oder scheiternd sich vollziehen. Es sind An- und Zumutungen, Aufforderungen und Verzichten, die es gilt zu denken und zu tun. Vom Philosophen und Neurologen Viktor Frankl (1905 – 1997) stammt das Gedicht, das die Bedingungen von Nähe und Distanz, von Aktion und Reaktion, von Gleichheit und Unterschied auf den Punkt bringt:
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht,
unsere Reaktion zu wählen.
In unserer Reaktion liegen
Unser Wachstum und unsere Freiheit.
Im literarischen, ästhetischen und anthropologischen Diskurs lassen sich vielfältige An- und Ausrufe aufspüren, die Antworten auf die Frage: „Wie wird aus Vielfalt Gerechtigkeit?“ geben; etwa, wenn die US-amerikanische Poetin und Menschenrechts-Aktivistin June Jordan (1936 – 2002) aufforderte: „Hey, Du dort/lass uns zusammenkommen/​unter diesem Baum/der noch nicht gepflanzt ist“; oder, wenn der Schweizer Umweltaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) zur „positiven Subversion“ aufrief:
Wo kämen wir hin
wenn alle sagten
wo kämen wir hin
und niemand ginge
um einmal zu schauen
wohin man käme
wenn man ginge.
Fazit
Wolf Lotter gelingt es, scheinbar und tatsächlich schwierige Imponderabilien des individuellen und globalen Zusammenseins der Menschheit eindringlich und verständlich darzustellen. Es sind intellektuelle Aufforderungen, die Unterschiede und Vielfalten des humanen Daseins zu reflektieren und in ein gutes, menschenwürdiges Handeln umzusetzen: „Gute Unterschiede leben – das zeigt uns eine Möglichkeit auf, mit anderen zusammenzuleben, ohne sie als Feinde, Konkurrenten oder Gegner zu verstehen“. Das ist heute, in den Zeiten des Unfriedens und des Krieges, notwendiger denn je!
Dr. Jos Schnurer
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.04.2022 zu:
Wolf Lotter: Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Edition Körber
(Hamburg) 2022.
ISBN 978-3-89684-293-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29038.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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