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Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.): Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren

Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Hans Michael Straßburg, 19.07.2023

Cover Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.): Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren ISBN 978-3-456-86039-8

Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.): Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren. Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren. Hogrefe AG (Bern) 2022. 384 Seiten. ISBN 978-3-456-86039-8. D: 59,95 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 80,00 sFr.

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Thema

Mehrere Studien belegen, dass heute bei jedem 5. Kind eines Jahrgangs bereits im Säuglings- und Kindergartenalter der Verdacht auf eine psychische Störung besteht, wobei die Epidemiologie der einzelnen Auffälligkeiten stark von der Fokussierung auf das klinische Bild und dessen Schweregrad abhängig ist.

Autor:innen und Entstehungshintergrund

Es ist das große Verdienst der Herausgeber, dem Professor für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik Rüdiger Kißgen und der Kinder- und Jugendpsychiaterin Kathrin Sevecke, für dieses Werk 21 renommierte Autoren aus verschiedenen Fachdisziplinen gefunden zu haben, die einen Überblick über Grundlagen, Klinik und Therapiemöglichkeiten geben. Nach der multidisziplinären Erarbeitung der Leitlinien in der AWMF zu dem Thema vor einigen Jahren ist dies jetzt eine ausführlichere Zusammenfassung des aktuellen Kenntnisstandes.

Aufbau und Inhalt

In 18 Kapiteln werden die heute unterschiedenen altersspezifischen Verhaltensstörungen vorgestellt. Zu Beginn gibt die Sozialpädiaterin Ute Thyen einen Überblick über die Entwicklung des Kindes bis zum 6. Lebensjahr, wobei im Gegensatz zur Kapitelüberschrift die pränatale Reifung des Feten nur gestreift wird. Von großer Bedeutung für das weitere Verständnis des Buches ist die Einführung in die verschiedenen Klassifikationen psychischer Störungen auf der Basis der Internationalen Klassifikation ICD-10, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) sowie der seit 2016 eingeführten Diagnostischen Klassifikation DC: 0–5. Hierin werden die Achsen Klinische Störungen, Beziehungskontext, körperliche Gesundheit und Krankheit, psychosoziale Stressoren und Entwicklungskompetenzen differenziert. Die Vorgänger-Klassifikation ist die Einteilung Zero to Three, auf die auch immer wieder eingegangen wird. Die seit dem 1.1.2022 verwendete ICD-11 wird nicht berücksichtigt.

Bei den klinischen Störungen der frühen Kindheit werden zuerst die Symptome, diagnostische Kriterien und Behandlungsmöglichkeiten der Autismus-Spektrum-Störung, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, einer globalen Entwicklungsverzögerung, einer Störung der Sprachentwicklung und der entwicklungsbezogenen Koordinationsstörung beschrieben. Sensorische Verarbeitungsstörungen werden als mögliche Erklärung für viele Verhaltensauffälligkeiten erwähnt und ausführlichere diagnostische Verfahren einschließlich Bildgebung eingefordert.

Angststörungen beim Kleinkind werden in Trennungsangst, soziale Angststörung und generalisierte Angststörung differenziert und mittels einer Vielzahl verschiedener Fragebögen verifiziert. Beim selektiven Mutismus werden mögliche Grunderkrankungen (z.B. genetische Anomalien) nur ansatzweise erwähnt.

Affektive Störungen bei Kleinkindern, insbesondere depressive Störungen der frühen Kindheit, dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörungen, Zwangsstörungen und andere schwere Verhaltensstörungen werden beschrieben und Therapieansätze angeführt. Neben möglichen psychosozialen Belastungen spielt hierbei auch eine bisher nicht definierbare genetische Disposition eine Rolle. Wichtigste Behandlungsmaßnahmen sind kombinierte Eltern-Kind-Therapien.

Ein ausführliches Kapitel behandelt Schlaf- Fütter- und Schreistörungen. Dabei werden die differentialdiagnostisch in Frage kommenden Grundkrankheiten nur angedeutet erwähnt, z.B. auch der Einsatz eines Schlaflabors. Besonders bei Fütterstörungen sollte rechtzeitig an ein stationäres Therapiesetting gedacht werden. Klare Aussagen werden bei diesen oft passageren funktionellen Verhaltensstörungen zu den weit verbreiteten paramedizinischen Behandlungsmaßnahmen gemacht: für Osteopathie, kraniosakrale Therapie und Akupunktur konnten in gut evaluierten Studien keine eindeutigen Therapieeffekte nachgewiesen werden. Beim chronischen Schreisäugling können gewisse Verbesserungen durch das sog. Pucken (Swaddling) erreicht werden, wobei hier vor allem die Vermeidung eines Schütteltraumas durch einen nervlich dekompensierten Erwachsenen von Bedeutung ist.

Es ist eine besondere Herausforderung, die klinischen Symptome eines verhaltensauffälligen Kleinkindes mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in Zusammenhang zu bringen. Wie bei allen hier behandelten Störungen ist in hohem Maße eine subtile Anamneseerhebung und Verhaltensbeobachtung notwendig – ob Fragebögen wie der PTSDSSI dabei besonders hilfreich sind, sei dahingestellt.

Diskussion

Die Feststellung, dass psychische Störungen im Erwachsenenalter durch die möglichst frühe Erkennung und Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit effektiver vermieden werden könnten, ist heute trivial. Manche der in diesem Buch vorgestellten klinischen Symptome mögen Eltern beunruhigen, sind aber langfristig ohne wesentliche Bedeutung – andere sind es um so mehr. Bei fast allen hier beschriebenen Verhaltensstörungen besteht in jedem Fall ein großer Forschungsbedarf, – das gilt trotz großer weltweiter Bemühungen vor allem für die Autismus-Spektrum-Störungen, die Aufmerksamkeitdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen und die Zwangsstörungen, die Depressionen sowie die Schlaf- und Fütterstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter.

Das Buch hat leider fast keine Abbildungen, dafür reichlich komplexe Tabellen. Es beschränkt sich meist auf die Beschreibung der klinischen Symptome, auf die standardisierten Fragebögen und allgemeine Aussagen zum therapeutischen Vorgehen. Neuropsychologische und physiologiche Grundlagen sowie die klinische Differentialdiagnostik können nur gestreift werden. Einige Kasuistiken lockern den über weite Strecken eher trockenen Text auf – leider fehlen hier aber meist Aussagen zum langfristigen Verlauf der betroffenen Kinder. Die Literaturangaben berücksichtigen relativ wenig kinder- und jugendmedizinische Aspekte. Erstaunlicherweise werden die aktuell in einer interdisziplinären Gruppe überarbeiteten Leitlinien der AWMF zu den psychischen Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern kaum berücksichtigt (Registernummer: 028–041, Entwicklungsstufe: S2k, Fertigstellung Dez. 2023).

Fazit

Das Buch erlaubt dem Kinderarzt und den klinisch tätigen Therapeuten einen Einblick in die noch aktuelle Nomenklatur psychischer Störungen in den ersten Lebensjahren, weniger geeignet ist es meines Erachtens für Studenten und für sozialpädagogische Fachkräfte. Hier müssten noch viel mehr physiologische und klinische Grundlagen berücksichtigt werden. In jedem Fall ist es eine verdienstvolle Zusammenstellung des noch gültigen Kenntnisstandes und eine Aufforderung, die vorliegende Problematik im interdisziplinären Kontext weiter mit wissenschaftlich sauber evaluierten Studien zu bearbeiten.

Rezension von
Prof. i.R. Dr. Hans Michael Straßburg
Universität Würzburg
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Es gibt 1 Rezension von Hans Michael Straßburg.

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ISSN 2190-9245