Hermann Brandenburg, Stephan Dorschner (Hrsg.): Pflegewissenschaft 1
Rezensiert von Johannes Steinle, 08.03.2023

Hermann Brandenburg, Stephan Dorschner (Hrsg.): Teil. 1., Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in wissenschaftliches Denken und Theorie in der Pflege. Hogrefe AG (Bern) 2021. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. 399 Seiten. ISBN 978-3-456-86086-2. D: 40,00 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 49,50 sFr.
Thema
Das Werk ist das erste von insgesamt zwei Lehr- und Arbeitsbüchern zum Einstieg in die Pflegewissenschaft. Während sich der zweite Band, der im Januar 2023 ebenfalls in einer vierten, vollständig überarbeiteten und erweiterten Auflage erschien, der Einführung in die Methoden der Pflegeforschung widmet, thematisiert der hier besprochene erste Band das wissenschaftliche Denken und die Theoriediskussionen in der Pflege.
Herausgebende
Hermann Brandenburg ist Inhaber des Lehrstuhls für Gerontologische Pflege an der Vinzenz Pallotti University (ehemals Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar).
Stephan Dorschner ist Professor für Theorie und Praxis der Pflege an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und leitet den dortigen Fernmasterstudiengang Pflegewissenschaft/​Pflegemanagement.
Aufbau
Das Buch ist in zwei Teile untergliedert. Während der erste Teil in die Pflegewissenschaft einführt, widmet sich der zweite Teil den Theorien in der Pflegewissenschaft. Der Anhang ist umfänglich: Neben Informationen zu den Autor*innen und Herausgebenden, weiterführenden Internetadressen sowie ein Glossar und ein Sachwortverzeichnis ist zudem auch eine neun Seiten umfassende tabellarische Zusammenstellung der Theorien mittlerer Reichweite enthalten.
Dass das Werk als Lehr- und Arbeitsbuch für einen Einsatz sowohl in der Lehre als auch für das Selbststudium konzipiert ist, wird an den didaktischen Elementen deutlich (vgl. S. 18): In den Kapiteln finden sich eingestreute Lesetipps samt kurzen Inhaltserläuterungen, die der weiterführenden thematischen Auseinandersetzung dienen. Zudem sind die Kapitel mit einer Vielzahl an Beispielen und Studienaufgaben angereichert. Am Kapitelbeginn sind Lernziele definiert und am Kapitelende finden sich Literaturangaben zitierter Quellen sowie Fragen zur Überprüfung der gelesenen Inhalte.
In der vierten Auflage kam es zu einigen Überarbeitungen, wie die Herausgebenden im Vorwort herausstellen (S. 15): Die vormals ersten beiden Kapitel wurden in der vierten Auflage zusammengeführt und um die Themen Poststrukturalismus und Postmoderne ergänzt. Aktualisiert wurden zudem die Kapitel zum Radikalen Konstruktivismus und zur Ethik in der Pflegewissenschaft. Neu hinzugekommen sind Textabschnitte zu Rational-Choice-Theorien und ein Beitrag zu Theorieansätzen in der gerontologischen Pflege sowie ein Interview zur Implementierungswissenschaft.
Insgesamt sind neben den beiden Herausgebenden zehn Autor*innen mit Beiträgen an dem Werk beteiligt. Im Vorwort bedanken sich die Herausgebenden zudem bei Jürgen Georg, der als Lektor des Hogrefe Verlags das Buch betreut.
Inhalt
Der erste Teil des Lehr- und Arbeitsbuchs besteht aus zwei Kapiteln. Im ersten Kapitel „Pflegewissenschaft – eine Einführung“ wird zunächst grundlegend Pflege definiert und Dimensionen des Pflegebegriffes aufgezeigt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den vier Quellen des Wissens in der Pflege und der Frage, was eine Wissenschaft ausmacht und wie sich Pflegewissenschaft definieren lässt. Nach der Herausarbeitung einer eigenen Arbeitsdefinition von Pflegewissenschaft werden die historischen Entwicklungen der Pflegewissenschaft für den US-amerikanischen und den deutschsprachigen Raum nachgezeichnet. Das erste Kapitel schließt mit einem Beitrag von Reinhard Lay zu Ethik und Pflegewissenschaft, indem u.a. Ethikkodizes und weitere ethische Orientierungshilfen vorgestellt und die Rolle von Ethikkommissionen umrissen werden.
Im zweiten Kapitel wird in Wissenschaftstheorien eingeführt und zugleich ihre Relevanz für die Pflegewissenschaft erläutert. Begonnen wird mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, gefolgt vom interpretativen Paradigma und der Phänomenologie. Marcel Remme führt in den Radikalen Konstruktivismus ein, Manfred Schnabel widmet sich dem Poststrukturalismus und Diana Staudacher der Postmoderne.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit der Theorieentwicklung in der Pflegewissenschaft. Kapitel drei vermittelt zunächst Wissen darüber, was Theorien sind und wie diese eingeteilt werden können. Anschließend wird die Unterscheidung von Pflegetheorien und Pflegemodellen erörtert und wie diese eingeteilt werden können. Zum Ende des Kapitels wird die Frage nach Metaparadigmen in der Pflege diskutiert.
Sozialwissenschaftliche Theorieansätze und deren Bedeutung für die Pflege sind Thema des vierten Kapitels von Volker Fenchel. Schwerpunkte liegen dabei auf psychologischen Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorien, sozialpsychologischen Interaktionstheorien (z.B. symbolischer Interaktionismus) und soziologischen Systemtheorien (z.B. Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme).
Das letzte und mit Abstand längste fünfte Kapitel reflektiert kritisch pflegetheoretische Ansätze und Entwicklungen. Zunächst werden dabei – exemplarisch – drei Pflegetheorien großer Reichweite vorgestellt und inhaltlich diskutiert (Roper-Logan-Tierney-Modell, Selbstpflegedefizit-Theorie von Onem, personen- und interaktionsorientierter Ansatz nach Peplau). Sodann folgt eine kurze Diskussion, inwieweit bzw. ob überhaupt die Orientierung des deutschen Gesundheits- und Pflegesystems an angloamerikanischen pflegetheoretischen Ansätzen hilfreich und fruchtbar für das Pflegewesen hierzulande sein kann. Im Anschluss wird der Blick auf jüngere Entwicklungen innerhalb der Pflegewissenschaft gelenkt. Zunächst wird die Tendenz weg von Pflegetheorien großer Reichweite hin zu denen der mittleren und geringen Reichweite skizziert, die unterschiedlichen Eigenschaften der Reichweiten herausgestellt und darüber reflektiert. Zugleich werden zwei Beispiele aktueller Theoriedebatten dargelegt. Neben den Herausgebenden sind als Autor*innen der Unterkapitel zu nennen Gerd Bekel, Janet P. Specht und Meridean L. Maas. Danach richtet Manfred Hülsken-Giesler den Blick auf (neuere) Technik in der Pflege und thematisiert u.a. Ambient/​Active Assisted Living und Robotik in der Pflege. Volker Fenchel legt in einem neuen Unterkapitel Theorieansätze in der gerontologischen Pflege dar. Das Buch schließt mit einem Interview des Herausgebenden Hermann Brandenburg mit Matthias Hoben zur Implementierungswissenschaft. In einer Fußnote wird angekündigt, dass die Implementierungswissenschaft in der fünften Auflage des Buches weiter an Stellenwert gewinnen wird.
Diskussion
Das Lehr- und Arbeitsbuch macht seinem Namen alle Ehre. Die Inhalte der Kapitel sind durchaus anspruchsvoll und umfassend, zugleich aber verständlich und kompakt aufbereitet. Dabei besticht das Werk durch das didaktische Konzept. Zahlreiche und abwechslungsreiche Studienaufgaben setzen Impulse zum Weiterdenken und Anreize zur Diskussion mit Lehrenden und Kommiliton*innen. Abschließende Wissens- und Vertiefungsfragen bieten die Möglichkeit, das Gelesene zu reflektieren, Wissensstände zu prüfen und ggf. noch einmal nachzublättern. Lesetipps, die sich nach allen Kapiteln finden, werden nicht nur aufgelistet, sondern in wenigen Sätzen zusammengefasst und bieten so eine schnelle Einschätzung, ob die Literatur den eigenen Bedarfen und Vertiefungsinteressen entspricht. Neben gut konzipierten Grafiken finden sich zudem in Kästen Praxisbeispiele zur Veranschaulichung oder Hintergrundinformationen wie beispielsweise Biografien. Um Niederschwelligkeit bedacht, wird beim Zitieren englischsprachiger Literatur in Fußnoten auch eine deutsche Übersetzung angeboten. Das Buch eignet sich dabei nicht nur für Studierende der Pflegewissenschaft, Pflegepädagogik und des Pflegemanagements, sondern auch für Dozierende, die das Werk in der eigenen Lehre einsetzen möchten.
Fazit
Wer auf der Suche nach einer umfassenden Einführung in wissenschaftliches Denken und Theorien in der Pflege ist, dem sei dieses Lehr- und Arbeitsbuch empfohlen. Es gelingt den Herausgebenden und den beteiligten Autor*innen hervorragend, die äußerst anspruchsvollen und umfassenden Themenbereiche verständlich zu verdichten, Bezüge zur Pflegewissenschaft herzustellen und durch die facettenreichen didaktischen Elemente Angebote zum Weiterdenken und -arbeiten anzubieten.
Rezension von
Johannes Steinle
M.A. Angewandte Gesundheitswissenschaft
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Zitiervorschlag
Johannes Steinle. Rezension vom 08.03.2023 zu:
Hermann Brandenburg, Stephan Dorschner (Hrsg.): Teil. 1., Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in wissenschaftliches Denken und Theorie in der Pflege. Hogrefe AG
(Bern) 2021. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-456-86086-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29047.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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