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Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit

Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Norbert Wohlfahrt, 18.01.2022

Cover Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit ISBN 978-3-86281-168-7

Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit. Zur Kritik der Sinnfrage. Klemm & Oelschläger (Münster) 2021. 112 Seiten. ISBN 978-3-86281-168-7. D: 14,80 EUR, A: 15,30 EUR.
Reihe: Edition Endzeit - 1.

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Hintergrund

Das vorliegende Buch stellt den Band 1 einer Schriftenreihe dar, die von Jürgen Hoßdorf und Claudia Reuther herausgegeben wird. Die in der Edition Endzeit veröffentlichte Buchreihe tritt mit dem Anspruch an, dem allgemeinen Krisen- und Katastrophenbewusstsein „mit einer entschiedenen Ermunterung zu destruktiver Kritik entgegen zu treten“. Die Schwerpunkte der Buchreihe sind kritische Beiträge zu politischer Kultur, Pädagogik und Philosophie. Der Band 1 der Schriftenreihe will den Anspruch von Philosophie und Metaphysik, dem allgemeinen Sinnstreben eine höhere Weihe verleihen zu wollen, destruieren. Dies wird an den Philosophen Günther Anders, Theodor W. Adorno, Albert Camus, Wilhelm Schmidt und dem Psychiater Viktor E. Frankl vorgeführt.

Aufbau und Inhalt

In einem einleitenden Kapitel mit der Überschrift „Die unverwüstliche Sinnfrage“ geht Jürgen Hoßdorf von der Feststellung aus, dass zur Beantwortung der Frage nach der andauernden Sinnsuche und Sinnstiftung ein Blick auf die Lebensweise der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig ist. Dabei fällt zunächst der Tatbestand auf, dass der freie Wille eine unbedingte Voraussetzung seiner Entfaltung hat: das Recht mit seinen Ge- und Verboten. Die zentrale rechtlich kodifizierte Bedingung – so der Autor – ist die Anerkennung des Eigentums. In der Verfolgung ihrer materiellen Zwecke (alle Bürgerinnen und Bürger versuchen an Geld als allgemeines Zugriffsmittel auf den Reichtum der Gesellschaft zu kommen) treten die durch das Eigentum verursachten sozialen Gegensätze als zentrale Bedingung der Interessenverfolgung auf: die Einen verfügen über Arbeitsplätze, die Anderen benötigen diese, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Hoßdorf argumentiert nun, dass für die Verfolgung der Interessen unter marktwirtschaftliche Bedingungen nicht nur das Recht und die Gewalt des Staates vonnöten ist, sondern auch die dazugehörige Moral: alle sollen sich an Tugenden bzw. Prinzipien orientieren, bei denen es um Leistung und Dienstbarkeit geht. Anstatt den Ursachen ihrer materiellen Schädigungen auf den Grund zu gehen, produzieren die an der Verfolgung ihres privaten Glücks festhaltenden Subjekte jede Menge Rechtfertigungswissen. Diese subjektiven Deutungen sind allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht eine Erklärung und Begründung für Erfolg oder Scheitern in der Gesellschaft darstellen, sondern eine subjektive Sichtweise nach Maßgabe der individuellen Interessen zum Zuge kommen lassen: das ist, so Hoßdorf, die Suche nach Sinn. Neben der Religion werden in kurzen Abschnitten die Esoterik und die Psychologisierung der Moral als hervorzuhebende Angebote der Sinnproduktion abgehandelt. Zusammenfassend betrachtet – so der Autor – sind die Spielarten des Sinns und der Sinnfindung vielfältiger Natur und reichen von der puren biologischen Vermehrung bis zu methodologischen Überlegungen der Metaphysik. Die folgenden Kapitel wollen dies exemplarisch anhand philosophischer Überlegungen der Sinnstiftung analysieren. Hierzu greift Jürgen Hoßdorf auf die Überlegungen ausgewählter Autoren zurück.

Im zweiten Kapitel, in dem Günther Anders Ausführungen zur „Antiquiertheit des Sinnes“ betrachtet werden, bilden dessen Überlegungen zur Veränderung des Wesens der Arbeit und den daraus resultierenden Folgen für die Sinnerfahrung den Ausgangspunkt. In einer Welt, in der alles zum Mittel gemacht wird, interessiert Anders nicht, warum dies so ist und welchen Zwecksetzungen dies gehorcht, sondern die damit verbundene objektive Sinnlosigkeit und das daraus resultierende Gefühl subjektiver Sinnlosigkeit. Anders geht es – das ist der Kern der Kritik von Hoßdorf – gar nicht um die Bestimmung, was wie warum zum „Mittel“ wird, sondern um eine falsche Konstruktion von der Technik drangsalierter Menschen. Weil für diese in der Industriegesellschaft kein objektiver Sinn mehr verfügbar ist, ihr Bedürfnis nach Sinn aber weiter existiert, plädiert Anders für einen 'pragmatischen' Sinn, eine Moral, die sich an nicht mehr und nicht weniger als dem Überleben der Menschheit orientiert.

Das dritte Kapitel befasst sich mit Theodor W. Adorno unter der Überschrift „Metaphysik nach Ausschwitz“. Adornos These, dass Ausschwitz „das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod“ bestätigt, kritisiert Hoßdorf als „denkwürdiges Konstrukt“ (S. 61). Denn dass Adorno das auf die Identität der Sache gehende Denken als gewalttätig beklagt, ist an der logischen Kategorie der Identität nicht nachvollziehbar, da das Denken als Denken auf den Gegenstand gar nicht praktisch einwirkt. Adornos Metaphysik hebt auf das Moment der Spekulation ab und er meint damit, dass zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen ein fortwährender Korrekturbedarf besteht. Adorno polemisiert gegen das Allgemeine, weil es eine Abstraktion ist, die dem Besonderen nicht gerecht wird – dieser Skeptizismus richtet sich grundsätzlich gegen jede Form des Erkennens, weil die Subjekte sich der Realität der Herrschaft der Identität unterworfen haben. Adornos Überlegungen münden – so Hoßdorf – in einem nicht auflösbaren Hin und Her von Sein oder Nichtsein der Transzendenz und Adorno will hierin einen im Denken verankerten Widerspruch aufgedeckt haben. Dieser bleibt aber blutleer. Denn – so der Autor – die Metaphysik der Adornoschen Transzendenz hilft nicht weiter: „alle Probleme, die ein Mensch hat, selbst sein Sterben, sind Probleme in seinem Leben“ (S. 74). Die metaphysischen Probleme sollte er denen überlassen, die mit Adorno an der Unmöglichkeit weiter arbeiten, das zu denken, was doch gedacht werden muss.

Das vierte Kapitel bezieht sich auf Albert Camus und seine „Philosophie des negativen Sinns“. Camus hält die Sinnfrage für die dringlichste aller Fragen, weil das Heimweh nach Sinn das bestimmende Moment allen menschlichen Tuns ist. Hiervon ausgehend entdeckt er die Welt als „Theater des Absurden“, denn die im Sinn enthaltene Kategorie der Einheit und Identität ist nirgendwo vorhanden. Der Stein ist „fremd“, die Natur „verneint“ uns, selbst die Geliebte bleibt uns fremd. Der Sinn, der Camus als Antwort auf diese „Absurdität“ in den Sinn kommt, ist negativ bestimmt: es gilt, diese Absurdität auszuhalten, weil in ihr die einzig sicher verfügbare Wahrheit für den Menschen liegen soll. In seinen literarischen Werken bebildert Camus dieses absurde Dasein als einen Trost, der trotz aller Trostlosigkeit immer verfügbar ist. Man muss sich den den Stein immer wieder nach oben schleppenden Sisyphos „als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (S. 80).

Das fünfte Kapitel wendet sich mit Wilhelm Schmid einem „philosophischen Praktiker bei der Arbeit“ zu. Bei Wilhelm Schmid handelt es sich um einen Autor, der „mit seiner Philosophie der Lebenskunst das entsprechende Know-How zum Kult des Selbst beisteuern kann“ (S. 81). Am Beispiel des Buches von Schmid zu Reinhold Messner wird exemplarisch ein Beispiel für gelungene Lebenskunst gegeben, weil dieser dafür steht, die Situation des modernen Menschen zu durchleben. Dieser ist – so die Kritik von Hoßdorf – gar kein real existierender Mensch, sondern ein ziemlich unwirkliches Wesen, das in seiner geistigen Verfasstheit nur im Bewusstsein des Philosophen existiert. Der moderne Mensch ist nach Schmid vor Alternativen gestellt, die sich nicht nach Maßgabe der eigenen Interessen entscheiden, sondern dadurch bestimmt sind, „geschehen zu lassen, was die Umstände, in diesem Fall die 'Moderne', ermöglichen, ja sogar einfordern“ (S. 85). Schmid fasziniert am Begriff der Moderne die Freiheit, die er als Befreiung des Individuums von belastenden Bindungen versteht und für die stellvertretend die Bergsteigerei von Reinhold Meßner als „Ausbruch aus den Normen“ (S. 87) versinnbildlicht wird. In dem der Mensch sich auf diese Art und Weise selbst entwirft, wird er zum Lebenskünstler, der sich in gelungener Weise als Gesamtkunstwerk verstehen darf. Ein solches Verständnis von Lebenskunst erfordert auf der anderen Seite, die alltäglichen Notwendigkeiten zu akzeptieren und Messners Handeln ist insofern ein Vorbild auch für den Nicht-Bergsteiger, der seinen Alltag als Entwurf seiner Selbst bewerkstelligen kann und dadurch bei aller „Leere“ in diesem sein gelungenes Selbst erfahren kann.

Das abschließende sechste Kapitel thematisiert mit Viktor E. Frankl „Die Psychologie des Sinns“. Frankl, der von 1942 bis zum Kriegsende in vier Konzentrationslagern interniert war, hat im KZ entdeckt, dass Insassen, die z.B. einen Widerstand im Lager organisieren, mit diesem von ihm so genannten Sinn in der Lage waren, in Grenzsituationen zu überleben. Dies führt bei ihm zum Aufbau eines logotheoretischen Lehrgebäudes, in dessen Zentrum der Mensch in seiner Doppelbestimmung als psycho-physisches Wesen und als geistige Person steht. Für Frankl repräsentiert Sinn keine individuell verfügbare Moral, sondern etwas Objektives, das gesucht und gefunden werden muss. Insofern ist der Mensch ein Sinn-Sucher, der, indem er die für sein Handeln passenden Werte findet, diesem damit einen konkreten Sinn verleiht. Zur Motivation schlechthin des menschlichen Handelns wird damit der „Wille zum Sinn“ (S. 101). Dieser wird von Viktor E. Frankl als anthropologische Konstante verstanden, es existieren aber andererseits objektive Sinn-Universalien, die im Logos zuhause sein sollen. Beide Seiten – so Hoßdorf – komplementieren sich bei gelungener Sinnfindung zu seelischer Harmonie. Es ist nun die Leistung der Logotherapie (auf der Logotheorie aufbauend), das moralische Bewusstsein der Menschen zu aktivieren und diese durch die Orientierung auf Werte neu zu positionieren. Nicht die Änderung der den Menschen bedrückenden objektiven Welt, sondern die Änderung seiner Selbst ist das Ziel der Logotherapie, die dazu anhält, den Wertehaushalt so umzustellen, dass die jeweilige Lebenssituation ausgehalten werden kann.

Diskussion

Jürgen Hoßdorf hat auf 111 Seite eine dicht gedrängte, analytisch höchst anspruchsvolle Kritik der Sinnfrage vorgelegt. Seine These, dass es die bürgerlichen Konkurrenzverhältnisse und ihre Durchsetzung durch den Staat sind, die die Basis von „Sinn und Sittlichkeit“ darstellen, ist schlüssig entwickelt. Sie macht deutlich, dass die Sinnfrage zu nicht viel mehr als dem Aushalten und durch Moral und Werte überhöhten Akzeptieren von sozialen Verhältnissen dient, die den „pursuit of happiness“ zum Maßstab und das Scheitern daran zur Regel haben. Dabei gelingt es Hoßdorf in seiner exemplarischen Sichtung von philosophischen Einlassungen zur Sinnfrage, deren Modernität gegenüber der alten Welt von Tradition und Religion aufzuzeigen und den identischen Kern offen zu legen. Ein überaus kenntnisreich geschriebenes Buch, dessen Lektüre über das Fachpublikum hinaus empfohlen werden kann und sich grundlegend von den vielfältigen Angeboten zur Sinnfrage unterscheidet, deren „Sinn“ zumindest dem Rezensenten nach der Lektüre klarer geworden ist.

Fazit

Das Buch ist für Studierende und Lehrende, nicht nur in den Fächern Philosophie und Psychologie, eine wertvolle Lektüre und ihm ist bei all denen, die sich mit Sinnfragen und ihrer Sinnhaftigkeit im weitesten Sinne befassen, eine weite Verbreitung zu wünschen.

Rezension von
Prof. i.R. Dr. Norbert Wohlfahrt
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Es gibt 48 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.

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ISSN 2190-9245