Josef Faltermeier, Nicole Knuth et al. (Hrsg.): Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, 04.02.2022
Josef Faltermeier, Nicole Knuth, Remi Stork (Hrsg.): Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 401 Seiten. ISBN 978-3-7799-6760-6. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Beiträge des Handbuches zeigen, wie Eltern, als Leistungsberechtigte und Familienmitglieder durch die Hilfen zur Erziehung in ihren erzieherischen Fähigkeiten gestärkt, sozial unterstützt und partnerschaftlich in Hilfekonzepte eingebunden werden können (S. 14). Die einzelnen Artikel liefern Anregungen und Überblicke, Konzepte und Methoden gelingender Zusammenarbeit mit Eltern. Es werden überdies gesellschaftliche Reformnotwendigkeiten, Herausforderungen und damit Entwicklungsentwürfe für Erzieherische Hilfen vorgestellt.
Eltern und Familie bei Fremdunterbringungen einzubinden, ist im zurückliegenden Jahrzehnt zunehmend ins Zentrum jugendamtlicher Arbeit, insbesondere der Hilfeplanung, gerückt, nicht zuletzt durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG). Ebenso ist das Interesse der Forschung am Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung gestiegen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt hierbei das 2016 gegründete Bundesnetzwerk Fachpolitik für Eltern und Familien in der Kinder- und Jugendhilfe (BEFJK e.V.). Seine Aufgabe besteht vorrangig darin, Eltern und Familien verstärkt in die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe einzubinden. Vor diesem Hintergrund heben die Herausgeber hervor, dass die Beiträge im Handbuch Informationen bündeln, gleichzeitig aber auch neue und spannende Ideen zur Zusammenarbeit mit Eltern aufgreifen und wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung vermitteln wollen. Ein zentrales Anliegen des Handbuches ist damit „die Kritik an der historisch gewachsenen und bis heute gegenwärtigen Praxis der Bewertung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Eltern, insbesondere in den stationären Angeboten“ (S. 12).
HerausgeberInnen
Josef Faltermeier ist Professor für Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Familien und Öffentliche Erziehung, Jugendhilfe und Forschung zu Benachteiligung.
Nicole Knuth ist Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung an der Fachhochschule Dortmund.
Remi Stork ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung an der Fachhochschule Münster.
Aufbau
Das in sechs Kapiteln gegliederte Handbuch beginnt im ersten Kapitel mit Herausforderungen und Spannungsfeldern in den Erzieherischen Hilfen. In ihnen sind Eltern und Familien als Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe eingebunden. Kapitel 2 thematisiert Perspektiven von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Kapitel 3 und 4 geht es zum einen um Rechte von Eltern, zum anderen um ihre Expert*innenrolle und auch in diesen Kapiteln um die Fragen, wie Eltern in den Hilfen zur Erziehung eingebunden werden können und welche Verbesserungen struktureller, konzeptioneller und methodischer Art notwendig sind. Wie können Institutionen als Kooperationspartner*innen von Eltern ihren Aufgaben einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit diesen gerecht werden? Dies ist Gegenstand der Beiträge des fünften Kapitels. Zentrale Institutionen sind Jugendämter, die Pflegekinderhilfe wie auch die Sozialpädagogische Familienhilfe. Das sechste Kapitel greift noch einmal ausführlich das methodische Handeln bei der Unterstützung von Eltern auf. Dabei stehen Themen im Fokus wie „Ins Gespräch kommen“ oder der Familienrat als Brücke zwischen privater Lebenswelt und professioneller Hilfe.
Inhalt
Auf der Grundlage eines empirischen Falles diskutiert Werner Schefold die Hilfebiographie von „Hanna Früh“, einer Mutter, deren Kinder fremdplatziert sind. Der Fall Hanna Früh ist der Arbeit „Verwirkte Elternschaft“ (2001, 2019) von Josef Faltermeier entnommen. Eingangs stellt Werner Schefold dar, was Hilfe und Hilfebiographie umfassen. Durch den Blick auf hilfebezogene Ereignisse und Erfahrungen bzw. verweigerte Hilfe werden Verhältnisse sichtbar und erschließen sich Bedürftigkeiten und unzulängliche Unterstützung. Hanna Frühs Lebensprojekt sind ihre Kinder. Werner Schefold zeigt, dass spezialisierte und institutionalisierte Hilfe bei Hanna Früh nicht dazu beigetragen haben, dass ihr Lebensprojekt gelingt, nämlich eine stabile Familie nach außen und innen aufzubauen. Vor diesem Hintergrund sieht Hanna das Jugendamt aufgrund eines unterschiedlichen Hilfeverständnisses in „ständiger Gegnerschaft“ (S. 25), nicht zuletzt durch die Unterbringung ihrer Kinder in Pflegefamilien. Für Hanna sind die Hilfen erfolglos, sie bleiben aus, missglücken und sind mit Auflagen versehen, die sie nicht erbringen kann. Auf der Basis der Einzelfallstudie formuliert Werner Schefold abschließend kollektive Merkmale von Familien fremduntergebrachter Kinder und hilfreiche Alternativen. Sie sieht der Autor in sicheren Lebensumständen, Hilfen im Alltag, Lebenshilfe als Hilfe für das eigene Selbst im Leben, subjektive Rechte und Hilfe zur wechselseitigen Verständigung.
In inhaltlicher Verbindung zum Einführungsbeitrag von Werner Schefold entwirft Josef Faltermeier eine biographieanalytische Skizze von Familien in der Fremdunterbringung. Sein Beitrag befasst sich mit den Auswirkungen von Armut auf die Erziehung und das Erziehungsverhalten von Eltern in prekären Lebensverhältnissen, in denen Bildung, Gesundheit und soziale Teilhabe zumeist nur sehr begrenzt möglich sind. Der Autor spricht erzieherische Herausforderungen an und zeigt, dass trotz aller elterlicher Anstrengungen eine Fremdunterbringung nicht immer vermeidbar ist. Oftmals führt diese zu Entfremdungsprozessen von den leiblichen Eltern. Faltermeier entwirft den Orientierungsrahmen von Family Partnership als ein gesellschaftliches Rollenskript mit dem Ziel, eine Entfremdung zwischen Eltern und Kind(ern) zu verhindern. Vorab skizziert der Autor das Konzept einer Verlaufskurve des Erleidens. Dabei wird deutlich, wie wichtig die Partizipation von Eltern bei Fremdunterbringung ihrer Kinder ist, nicht zuletzt wegen ihres Expert*innenwissens, aber auch, um Brüche in den Lebensgeschichten der Kinder zu begrenzen. Family Partnership ist ein Lebensmodell mit einer bedarfsorientierten öffentlichen Unterstützung für einen bestimmten Zeitraum. Wie ein solches Modell funktioniert, stellt der Autor im Praxismodell der „Erziehungspartnerschaft“ dar, indem u.a. alle beteiligten Personen am Alltag des Kindes durch Übernahme konkreter Tätigkeiten und als informierte Dritte teilnehmen, sich an Absprachen orientieren, die sich ferner an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder ausrichten und auch, indem Erziehungs- und Entwicklungssituationen des Kindes gemeinsam reflektiert werden.
„Eltern zwischen Selbstbehauptung und Unterwerfung“ – reflektiert Peter Hansbauer, indem er Machtverhältnisse in der Kinder- und Jugendhilfe in Entscheidungsverläufen, vor allem am Beispiel von Hilfeplanung, in den Blick nimmt. Im Beitrag werden unterschiedliche Konzepte von Macht verdeutlicht. Auf diesem Hintergrund skizziert der Autor anschließend sein Verständnis von Machtverhältnissen, um diese dann zwischen Eltern und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, vor allem des Jugendamtes, zu betrachten. In der Regel herrsche eine funktionsbedingte Machtasymmetrie. Sie resultiere aus der Doppelfunktion des Jugendamts, nämlich Hilfe anzubieten und gleichermaßen Kontrollinstanz zu sein (S. 67). Lassen sich machtasymmetrische Entscheidungen fairer gestalten? fragt der Autor im Hinblick auf die Hilfeplanung. Dazu benennt Hansbauer abschließend skizzenhaft einige Aspekte. Ein Faktor elterlicher Stärke könne Information (z.B. in Bezug auf „Marktkenntnis“) sein. Unterstützung für Eltern können auch Ombudsstellen schaffen. Aushandlungsprozesse selber lassen sich durch Fachkräfte so gestalten, dass sie die ihnen potenziell zur Verfügung stehenden Machtmittel nicht einsetzen.
Den Blick auf Eltern als Akteur*innen richtet Jörgen Schulze-Krüdener in seinem Beitrag, indem er eingangs den Anspruch formuliert, in den Erzieherischen Hilfen die Stärken, Ressourcen und Fähigkeiten von Familien so in den Vordergrund zu rücken und diese so zu sensibilisieren, dass sie in die Lage versetzt werden, bestmögliche Entscheidungen treffen zu können. Dazu bedarf es jedoch einer Qualifizierung professionellen Handelns in den Erzieherischen Hilfen durch die Fachkräfte. Sie sieht Schulze-Krüdener auf der theoretischen Ebene in der Zusammenführung von relationaler Professionalität mit relationaler Agency. Die Qualifizierung „lenkt den Blick von einem Mangel an Verwirklichungschancen hin zu einer Vorstellung von Eltern und Familien als Gestaltende ihrer Lebenspraxen“ (S. 83) und damit, dass es in den Erzieherischen Hilfen um die Stärkung von Eltern und Familien gehe.
In ihrem Artikel argumentieren Marc Schrödter, Vinzenz Thalheim und Katharine Freres für eine bedingungslose Jugendhilfe, indem sie auf der Basis internationaler Ansätze die Stigmatisierung von Eltern und Kindern in den unterschiedlichen Bereichen stationärer Erziehungshilfe professionalisierungstheoretisch thematisieren. Es werden dabei „drei Strategien zur konkreten Bearbeitung des Stigmatisierungsproblems in der Heimerziehung diskutiert“ (S. 88). Die als Säulen bezeichneten Strategien der De-Stigmatisierung sind Öffentlichkeitsarbeit, Erziehungspartnerschaften und Normalisierung. Nach der Darstellung bisheriger Ansätze zur Lösung des Stigmatisierungsproblems werden die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der drei Strategien zur De-Stigmatisierung reflektiert. Im Resümee wird darauf verwiesen, Jugendhilfeleistungen so zu organisieren, dass sie nicht stigmatisierend wirken. Dies kann in der Sicht der Autor*innen gelingen, indem erzieherische Hilfen nicht mehr an die Prüfung eines erzieherischen Bedarfs gebunden, sondern als Sozialleistung allen Eltern und Kindern zugänglich sind.
Perspektiven von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen spricht das zweite Kapitel des Handbuches in zwei Beiträgen an:
Eric van Santen fragt, ob Pflegeverhältnisse eher als Zwischenstation oder dauerhafter Lebensort zu verstehen seien und welche Folgerungen sich für die Einbeziehung der Eltern ergeben. Der Autor bezieht sich in seinen Überlegungen auf empirische Ergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie auf eine Befragung bei Jugendämtern zur Praxis der Pflegekinderhilfe. Eine zentrale Rolle für die Pflegekinderdienste spielt in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Rückkehroption wie auch die Häufigkeit der realen Rückkehr zu den leiblichen Eltern. van Santen stellt fest, dass die Pflegekinderhilfe bislang der Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern keine besondere Priorität zugewiesen hat, dass aber mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) die Arbeit mit den leiblichen Eltern gestärkt wird, nicht zuletzt untermauert durch die Empirie, die zeigt, dass der Anteil der Pflegekinder, der in die Familie zurückkehrt, – geplant oder ungeplant – viel höher sei als oftmals angenommen (S. 121).
Severine Thomas und Carolin Ehlke stellen in ihrem Beitrag zu Careleaver und ihre Eltern zunächst dar, welche Bedeutung Eltern wie auch Pflegeeltern für Care Leaver in der Ablösungsphase aus stationären Erziehungshilfen und nach ihrem Verlassen zukommt. Im Zentrum des Beitrags stehen vier Fallskizzen, in denen unterschiedliche Verläufe in der (Pflege-)Eltern-Kind-Beziehung nach dem Übergang aus den stationären Erziehungshilfen vorgestellt werden. In der Phase des Leaving Care ordnet sich, nicht nur rechtlich, die Beziehung zu den leiblichen Eltern noch einmal neu. Wenngleich es in der Leaving-Care-Arbeit vor allem auch um die Vorbereitung auf die Entwicklung von Eigenverantwortung geht, sollten auch die vorhandenen sozialen Beziehungen verstärkt im Blick der Arbeit sein, nicht zuletzt, um den jungen Menschen eine Option zu erhalten, biographische Themen und Fragen zur Zugehörigkeit zu bearbeiten.
Um Rechte von Eltern geht es im Kapitel 3 in den beiden Beiträgen von Reinhard Wiesner und Reinhard Joachim Wabnitz. Wiesner stellt Hilfe zur Erziehung als Hilfe für die Beziehung von Eltern und Kind bzw. Jugendlichem im Verständnis des SGB VIII dar, indem er auf die Differenz zum Jugendwohlfahrtsgesetz rückverweist. Elternarbeit bei stationären Hilfen erfordere neben anderem die „Auslotung des Veränderungspotenzials bei den Eltern“ (S. 151) wie auch eine „Vermittlung und Begleitung des Hilfeprozesses“ (S. 151). Damit Elternarbeit gelingt, bedarf es struktureller Änderungen und neuer Ansätze, so der Autor, u.a. in Bezug auf die Beteiligung der Adressat*innen wie auch die Kooperation und Transparenz der am Hilfeplan und -prozess beteiligten sozialen Dienste. Im letzten Teil des Artikels widmet sich der Autor der Pflegekinderhilfe als Thema der aktuellen Reformdebatte.
Reinhard Joachim Wabnitz' Beitrag befasst sich mit Rechtsansprüchen bei Erzieherischen Hilfen nach dem SGB VIII. Vor diesem Hintergrund erörtert der Verfasser u.a. allgemein das Recht auf Erziehung (§ 1 des SGB VIII), die Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie (§ 16 des SGB VIII), Beratung und Unterstützung (§ 17), gemeinsame Wohnformen von Mutter/​Vater und Kindern (§ 19), um sich anschließend den Rechtsansprüchen bei Hilfen zur Erziehung (§§ 27 bis 35) und auch den Rechtsansprüchen im Bereich der Verfahrensvorschriften zuzuwenden.
Kapitel IV und V sind Herzstücke des Handbuches. Geht es im vierten Kapitel um Eltern als Expert*innen im Hinblick auf erzieherische Hilfen, so stehen im fünften Kapitel Institutionen als Kooperationspartner*innen von Eltern im Zentrum der Betrachtung. Viele Beiträge sind von dem Interesse getragen, auf der Grundlage forschungsbezogener Projekte Vorschläge zur Qualifizierung der Praxis vorzustellen.
Der erste Beitrag des vierten Kapitels zeigt, wie Eltern in der Kinder- und Jugendhilfe zu Co-Forschenden in Qualitätsdialogen werden können. Letztere sind auch neun Jahre nach der Implementierung von Qualitätsdialogen im SGB VIII nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel, insbesondere trifft dies auf die Einbeziehung der Nutzer*innen zu. Timo Ackermann und Remi Stork zeigen pointiert anhand eines Projekts auf, welche Herausforderungen sich bei der Gestaltung eines Qualitätsdialogs zwischen Jugendlichen, Eltern und Sozialarbeiter*innen stellen und welche Umsetzungsschritte sich ergeben. Sie reichen von Zuhören, Dokumentieren und Verstehen, über Dokumentieren, Analysieren und Ergebnisse bündeln bis zu Forderungen formulieren, Ergebnisse festhalten und kommunizieren. Die Autoren stellen fest, dass Eltern in Qualitätsdialogen und Praxisforschung eigene Kompetenzen einbringen, z.B. eine eigenständige Expertise und Lernbereitschaft. In ihrem Resümee schließen Timo Ackermann und Remi Stork mit der Feststellung, dass die Einbindung von Eltern in Qualitätsdialoge die Praxis der Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe vom Kopf auf die Füße stellt (S. 190).
Der nachfolgende Beitrag von Nicole Knuth steht in enger Verbindung zu dem Beitrag über Qualitätsdialoge. Er setzt sich mit der Frage auseinander, „welcher Anspruch mit einer Partizipation von Eltern verbunden wird und was überhaupt unter „Elternpartizipation“ zu verstehen ist bzw. wie sich dieser Begriff ggf. von der „Elternarbeit“ unterscheidet“ (S. 192). Grundlage des Beitrags sind Projekte zur Elternpartizipation der Autorin. Drei Befunde aus Interviews sind in der Sicht von Nicole Knuth besonders relevant für Elternpartizipation:
- Heimerziehung als kritisches Lebensereignis für Eltern und damit verbunden Beteiligung in der Anfangszeit als zentraler Zugang für Eltern,
- Machtasymmetrien in der Heimerziehung,
- Partizipation nicht bei Eltern voraussetzen, sondern ermöglichen.
Aus den Befunden ergeben sich entsprechend die praktischen Weiterentwicklungsbedarfe, zumal das SGB VIII zwar mit starken Elternrechten konzipiert wurde, dass die Praxis aber gleichwohl noch nicht von dieser Philosophie geprägt ist. Hier ist eine Organisationsentwicklung vonnöten, die eine beteiligungsorientierte Haltung der Mitarbeiter*innen fördert.
Der Artikel von Corinna Petri, Ina Ruchholz und Dirk Schäfer setzt sich auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aus Praxisentwicklungsprozessen mit der Beteiligung von Eltern in der Pflegekinderhilfe auseinander. Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass trotz gesetzlicher Grundlagen (§ 37 (1) SGB VIII) die Zusammenarbeit der leiblichen Eltern mit der Pflegekinderhilfe und auch mit den Pflegeeltern erheblicher Verbesserung bedarf. Die Autor*innen liefern aufgrund ihrer Forschungsergebnisse Anregungen für konzeptionelle Neuausrichtungen in der Praxis. Ein Schlüsselprozess für die gelingende Zusammenarbeit mit Eltern ist an den Anfang der Hilfe zu setzen, nämlich die Trennung als Krise für die Eltern, u.a. in Gestalt von Schuldgefühlen, und in der Folge eine neue Rolle zu finden. Die Autor*innen beschreiben im zweiten Teil ihres Beitrags Grundsätze und Resultate der Praxisentwicklungsprozesse auf der Ebene von Handlung und Haltung. Vor allem die Gestaltung der ersten Phase in der Zusammenarbeit mit Eltern ist von großer Bedeutung. Hilfreich sind in der Regel auch Willkommens-Broschüren und Flyer, die über Abläufe von Pflegeverhältnissen zwischen Eltern und Pflegeeltern mit Blick auf das Kind informieren. Der Beitrag verdeutlicht, dass die Zusammenarbeit grundsätzlich und Elternpartizipation überhaupt voraussetzungsreich sind. Der Beitrag liefert dafür vielfältige Anregungen.
Michaela Berghaus' Ausführungen zu Eltern als Expert*innen in Kinderschutzverfahren entstammen narrativ angelegten Interviews. Die Interviews richten sich auf das Erleben von Eltern, die ihre Erfahrungen mit Fachkräften öffentlicher und freier Jugendhilfeträger sowie Familienrichter*innen schildern. Der Kontakt zum Jugendamt ist im Blick elterlichen Erlebens zwischen dem Gefühl von Bevormundung und Kooperation und damit als Druckmittel bzw. als Zuwachs an Handlungsoptionen angesiedelt. Entsprechend divergierender „Selbst- und Fremdzuschreibungen weichen die Einschätzungen der Fachkräfte und Eltern hinsichtlich des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung voneinander ab“ (S. 230). Beide Seiten haben oftmals einen unterschiedlichen Bewertungsmaßstab in Bezug auf eine Kindeswohlgefährdung. Sie wird in der Sicht von Eltern oftmals als Schuldzuweisung verstanden und weckt negative Assoziationen. Im Vergleich zu weiteren sozialen Diensten weisen die interviewten Eltern dem Jugendamt eine hohe Relevanz und gleichzeitig eine zu hohe Macht zu, der sie sich ausgeliefert fühlen. Zusammenfassend erleben die Eltern zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung massive Belastungen mit starken Auswirkungen auf das persönliche und familiale Leben. Auseinandersetzungen zur Kindeswohlgefährdung implizieren immer auch, das Elternwohl im Blick zu behalten. Dieses gelinge in professionstheoretischer Sicht am ehesten durch eine Interaktion auf Augenhöhe, so Michaela Berghaus abschließend.
Der erste Beitrag des fünften Kapitels von Wolfgang Trede schließt an diesen Anspruch an, indem sich der Autor mit der Frage auseinandersetzt, wie Fachkräfte in eine partnerschaftliche Zusammenarbeit kommen und diese auch bei Krisen aufrechterhalten. Oder anders formuliert, wie Fachkräfte des Jugendamtes im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle, von Vertrauen und Eingriff eine gelingende Kommunikation mit Eltern gestalten sowie gleichzeitig das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen im Blick behalten (S. 245). Der Autor reflektiert zuerst das rechtlich fundierte Verhältnis zwischen Jugendamt und Eltern und geht dann auf den fachlichen Diskurs zur Eltern- und Familienarbeit zwischen Partizipation, Lebensweltorientierung, Ambulantisierung und Kinderschutz ein. In einem Exkurs stellt Wolfgang Trede die Einführung des Handlungsansatzes von Signs of Safety im Kreisjugendamt Böblingen vor. Signs of Safety ist ein in Australien seit den 1990ger Jahren für die Kinderschutzarbeit entwickelter ressourcen- und stärkenorientierter Ansatz. Erste Erfahrungen deuten in der Sicht des Autors darauf hin, dass dieses Konzept geeignet ist, mit Eltern und ihrem Netzwerk auch in Krisen und im Kinderschutz zu einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zu gelangen. In seinem Fazit merkt der Verfasser an, in Deutschland gelinge es noch zu wenig, gut entwickelte theoretische Konzepte und empirische Ergebnisse für die Praxis anschlussfähig zu machen.
Einen Bericht aus der Praxis zur Elternberatung in der Pflegekinderhilfe in Bremen liefert der Beitrag von Judith Pöckler-von Lingen und Sabine Simon. Ziel der Praxis ist es, die Kinder in ihrer Entwicklung im Kontext zweier Familien zu unterstützen. Die Autorinnen zeigen, welche Hindernisse auf dem Weg von der Idee bis zur Umsetzung zu überwinden waren. Sichtbar werden im Bericht die Sorgen und Ängste der Pflegefamilien wie auch der leiblichen Eltern und die mit ihnen verknüpften Stolpersteine in internen Kooperationen, in der Einzelberatung wie auch der Gruppenarbeit. Anregungsreich sind die vorgestellten Materialien und Methoden in der Einzelberatung, die Darstellungen zu den Kontakten zwischen Eltern und Kind, die Kooperationsgespräche zwischen Eltern und Pflegeeltern, u.a. die Vermittlung zwischen den familialen Kulturen. Die Verfasserinnen stellen fest, dass durch die Arbeit mit den Beteiligten eine Verbesserung in der partizipativen Zusammenarbeit erreicht werden konnte.
Der Beitrag von Sabrina Langenohl reflektiert die Rückführung von Kindern aus Heimen und Pflegefamilien. Auszugehen ist davon, die Rückkehr aus einer stationären Unterbringungsform als geplante und vorbereitete Rückkehr vorzubereiten. Denkbar ist aber auch eine ungeplante und unbegleitete Rückkehr. Die Autorin betrachtet die unterschiedlichen Gelingensbedingungen für eine Rückführung aus den unterschiedlichen stationären Hilfeformen. Rückführung beginne eigentlich bereits mit der Vorbereitung der Fremdunterbringung, so die Autorin (S. 279) und sollte schon Gegenstand der Hilfeplanung sein. Jeder Pflegekinderdienst – so die Forderung – sollte deshalb ein Konzept für die Rückführung vorhalten. Den Mittelpunkt des Artikels bilden Ausführungen zu dem idealtypischen Ablauf einer Rückführung, mit dem Verlaufsmuster vor der Fremdunterbringung – während der Fremdunterbringung – dem Rückführungsprozess und der Nachbetreuung. In ihr geht es vorrangig um eine Stabilisierung des Erreichten und wie nach dem Ende der Hilfe der weitere Weg sein kann. In den verschiedenen Phasen der Rückführung geht es vor allem um das Entwickeln passender Kooperationsmodi, um eine gute Beratung von Eltern und Pflegeeltern, aber auch um eine fachlich fundierte Diagnostik.
Ingrid Klein möchte mit ihrem Beitrag „zu einem besseren Verständnis für die Konfliktbewältigung von Müttern, die von der Inobhutnahme ihrer Kinder betroffen oder bedroht sind, beitragen“ (S. 296). Dabei steht das Bedrohungserleben der Mütter und ihr Bewältigungshandeln im Mittelpunkt der Erörterung. Die Bewältigungslogik folgt dem Bedrohungs-Bewältigungsmodell. Im Fallbeispiel 'Frau Groß' steht die Perspektive von Frau Groß und die anschließende Interpretation des Fallbeispiels im Zentrum der Darstellung. Die Autorin resümiert, die Faktoren des Bewältigungs-Bedrohungs-Modells wie Hilfestellungen, die Reichweite ihrer Kontrolle, Kommunikationsstrukturen wie auch die auf Mitbestimmung ausgerichteten Hilfestrukturen seien wichtige Scharnierstellen.
Zentrale Merkmale von Partizipation in den ambulanten Erziehungshilfen am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) sind nach Anja Frindt informiert, beteiligt und selbstbestimmt. So eröffnet Beteiligung überhaupt erst die Chance zum Erwerb von Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung (S. 310). Nach den Rahmenbedingungen der SPFH formuliert die Autorin Betroffenen- und Beteiligungsrechte von Eltern. Von zentraler Bedeutung zum Beginn der Hilfe sind Vertrauen und Arbeitsbündnisse. Sie sind die Grundlage für die Phase der Zusammenarbeit, zur Formulierung gemeinsamer Ziele und Gestaltung der Hilfeplanung. In ihr geht es vor allem um die Stärkung der Ressourcen.
Im abschließenden sechsten Kapitel befassen sich die Artikel mit methodischem Handeln in der Unterstützung von Eltern.
Mit den Anforderungen und Aufgaben für Fachkräfte und mit ihren Kompetenzen in Erziehungshilfen setzt sich Matthias Moch auseinander. Dies sind neben grundlegenden Fähigkeiten in der Fallarbeit vor allem Kompetenzen, Spannungsfelder zwischen verschiedenen Interessen, Wertsetzungen und wahrzunehmen, zu verstehen und auf jene so einzuwirken, dass sich durch die Hilfe Handlungsperspektiven für die Adressat*innen eröffnen. Der Autor veranschaulicht diese Kompetenzen am Fallbeispiel „Tim und seine Mutter“. Matthias Moch hebt in Bezug auf den professionellen Habitus in der Elternarbeit den Aufbau eines Arbeitsbündnisses, einer fachlichen und persönlichen Beziehung und schlussendlich einer Meta-Reflexion hervor.
Birgit Lattschar fragt in ihrem Beitrag, wie Gespräche mit Eltern in Konfliktsituationen konstruktiv geführt und welche Techniken und Methoden eingesetzt werden können. Nach der Benennung von Räumen und Orten, der Vorbereitung und Struktur von Gesprächen liefert die Autorin Anregungen zu den Techniken und Methoden, u.a. zum Visualisieren, zum schriftlichen Festhalten, zum räumlichen Arrangement von Gesprächen (z.B. Stühle einsetzen) und auch zum Stellen von Fragen.
Den Familienrat als Brücke zwischen Lebenswelt und professioneller Hilfe thematisiert an einem Praxisbeispiel Heike Hör. Nach der Darstellung des Grundanliegens von Familienrat, seinem Leitbild und Verfahren im Kontext von Jugendhilfe/​Kinderschutz und seinen Phasen wird dessen Arbeitsweise aus verschiedenen Blickwinkeln am Projekt des Stuttgarter FamilienRates anhand dreier Interviews zu Erfahrungen und Einschätzungen gezeigt: anhand der Arbeit des Sozialen Dienstes sowie des Pflegekinderdienstes des Jugendamtes Stuttgart sowie der Arbeit des Familienrates in den Niederlanden.
Was bedeutet eigentlich, Eltern zu unterstützen im Falle fremduntergebrachter Kinder? fragt Marion Moos. Was sind die Wünsche von Eltern und Familien? Und welche Handlungsstrategien zur Stärkung der Unterstützung von Eltern und welche Konzepte sowie Rahmenbedingungen für eine angemessene Hilfe sind vonnöten? Die Ergebnisse sind dem Praxisforschungs- und -entwicklungsprojekt „Heimerziehung als familienunterstützende Hilfe“ entnommen. Wie in anderen Beiträgen bereits werden die Relevanz der Gestaltung des Hilfebeginns und gemeinsam die Grundlagen der Zusammenarbeit zu erarbeiten sowie handlungsorientierte Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten hervorgehoben. Gleichwohl gilt es auch, nicht präsente Eltern im Blick zu haben.
Diskussion
Hilfen zur Erziehung nehmen jährlich über eine Million junge Menschen und ihre Eltern nach den §§ 27 ff. in Anspruch. Zunehmend stärker richtet sich das Forschungs- wie auch das Praxisinteresse aus auf „die jungen Menschen als Subjekte“ (S. 9). Gleichzeitig stehen jedoch Eltern und Familien noch nicht im Fokus, obwohl das KJSG die Einbeziehung von Eltern und Familie bei Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen unterstreicht. Diese wenigen Gedankenstriche skizzieren den Entstehungshintergrund des Handbuches und was noch bedeutsamer ist seine Relevanz für die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession.
Der auf sechs Kapitel ausgelegte Band ist plausibel aufgebaut. Nach theoretisch fundierten Beiträgen (erstes Kapitel), beginnend mit einer Fallstudie, mit nachfolgenden Beiträgen und Reflexionen zu Erziehen in prekären Lebensverhältnissen, zur Frage von Macht und Ohnmacht, zu Eltern als Akteur*innen und Begründungen für eine bedingungslose Jugendhilfe, folgt ein knappes, in der Sicht des Rezensenten, zu knappes zweites Kapitel zu Perspektiven von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, zumal doch die jungen Menschen als Subjekte Anlassgeber für Erzieherische Hilfen sind. So rücken verstärkt Kapitel vier, fünf und sechs ins Zentrum des Betrachtungshorizontes. Sie bilden das Herzstück des Handbuches. Und dies auch in qualitativer Hinsicht. Mir gefällt die durchgängige empirische Fundierung der Beiträge dieser drei Kapitel. Das Datenmaterial bildet die Grundlage zur Begründung von Partizipation und professioneller Zusammenarbeit mit den Eltern.
Hervorzuheben ist, dass neben dem Handlungsfeld Heimerziehung auch die Pflegekinderhilfe unter dem Dach der Erzieherischen Hilfen einen gleichrangigen Platz in den Erörterungen gefunden hat. Aufgrund des Facettenreichtums der Inhalte und ihrer Ausrichtung auf praktische Relevanz finden Professionelle vielfältige Anregungen, seien dies Anregungen zur Kooperation mit Eltern, zur Partizipation, zur Unterstützung von Eltern wie auch zu methodischem Handeln.
Fazit
Aufgrund der insgesamt durchgehend auf die Praxis der Hilfen zur Erziehung ausgerichteten Beiträge ist das Handbuch eine wertvolle Quelle nicht nur für Fachkräfte, sondern auch für Studierende und Wissenschaftler*innen in ihrer hochschulischen Lehre.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt
Prof. em. an der Universität Trier, Fach Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
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Zitiervorschlag
Hans Günther Homfeldt. Rezension vom 04.02.2022 zu:
Josef Faltermeier, Nicole Knuth, Remi Stork (Hrsg.): Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6760-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29057.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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