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Jürgen Beushausen, Kirsten Rusert et al. (Hrsg.): Fehlerkulturen in der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle, 26.07.2023

Cover Jürgen Beushausen, Kirsten Rusert et al. (Hrsg.): Fehlerkulturen in der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-8252-5844-3

Jürgen Beushausen, Kirsten Rusert, Martin Stummbaum (Hrsg.): Fehlerkulturen in der Sozialen Arbeit. Orientierungshilfen auf dem Weg zu einer fehlerreflektierten Professionalität. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2022. 250 Seiten. ISBN 978-3-8252-5844-3. D: 26,90 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 34,70 sFr.

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Einführung in das Thema

In Wirtschaft und Gesellschaft existieren seit vielen Jahrzehnten starke Bemühungen, den Umgang mit Fehlern zu verbessern und eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren, um Sicherheit und Wirksamkeit von Produkten und Dienstleistungen zu erhöhen (Althof 1999). Wie so oft war auch hier der Krieg der Vater der Dinge: Pionierhaft waren die Anstrengungen der Alliierten im zweite Weltkrieg zur Reduktion von Unfällen in den Luftstreitkräften, sie wurden weitergeführt in der zivilen Luftfahrt und in Hochsicherheitsbereichen der Industrie, dann in der Autoindustrie aufgenommen und sind schließlich in der Breite der Gesellschaft angekommen. In der Medizin hingegen sind der Umgang mit Behandlungsfehlern und Patientensicherheit seit Beginn der wissenschaftlichen Medizin Thema und schon seit Jahrzehnten professioneller Standard.

Die Soziale Arbeit hingegen liess in Praxis, Forschung und Lehre das Thema bis vor wenigen Jahren liegen: Die Arbeiten zum Umgang mit Fehlern bleiben vereinzelt und unsystematisch. 2007 gibt ein Themenheft von Sozial Extra einen Anstoß (Karrer 2007; Schneider 2007). Im Bereich des Kinderschutzes geben gravierende Einzelfälle mit Fehlern von Fachstellen wie der «Fall Kevin» 2006 in Bremen (Biesel et al. 2022) Anlass zur Reflexion von Fehlern von Fachkräften. Daraus gehen in der letzten Dekade für den Kinderschutz starke Impulse hervor (Biesel 2008; Wolff et al. 2013). In der Methodenlehre der Sozialen Arbeit hingegen scheint der Umgang mit Fehlern (Braches-Chyrek 2019; Hochuli Freund & Stotz2017; Walter 2017) abgesehen von affirmativen Globalappellen zur Fehlerfreundlichkeit weitgehend inexistent. Von Spiegel (Spiegel & Sturzenhecker 2018) beleuchtet das Thema ab der 2018er-Auflage des bekannten Standardwerks zum methodischen Handeln. Jüngere persönliche Reflexionen zu Fehlern (in) der Sozialen Arbeit finden sich von Schwabe (2022) und mit sozialpolitisch-kritischer Konnotation Seithe (2012). Als ich 2011 das Thema «Ungewissheit, Risiken und Fehler als Lernchance» zu Workshops für Praxisausbildner recherchierte, fand sich kaum Literatur und keine publizierte reflexive Praxis der Sozialen Arbeit zum Thema Fehler und Fehlerkultur: Einziges Beispiel für ein Fehlermelde- und Beschwerdesystem für Klienten war ein Sozialdienst in Berlin, der eine an Ombudschaft orientierte Meldestelle eingerichtet hatte – einzigartig im deutschsprachigen Raum.

Dabei ist die fachliche Auseinandersetzung um Fehler, Fehlerfreundlichkeit, lernende Organisationen und eine Kultur des offenen Umgangs mit Fehlern bereits traditionsreich. Sie wird aber immer noch kontrovers geführt zwischen einer Null-Fehler-Toleranz, wie sie in der Autoindustrie oder technischen Hochrisikosystemen propagiert wird und einer Fehlereuphorie in Management und Kreativwirtschaft (Hochreither 2004; Schaefer 2014), die ein affirmatives «Nur durch Fehler kannst du lernen» konstatiert. Ein erster Diskurs um Fehler, deren Prävention, Bewältigung und Reflexion in der Sozialen Arbeit war daher überfällig, denn «If somehow service users have been harmed yesterday, they have to be healed today and other users can be helped more effectively tomorrow (Sicora 2018, Übersetzung ww).

Hintergrund des Buches

Anstoß für das Buch gab die gemeinsame Lehrtätigkeit der Herausgeberschaft an der Hochschule Emden/Leer, die aus unterschiedlichen Perspektiven blinde Flecken und eine strukturelle Vernachlässigung des Themas «Fehler und Fehlerkultur» in der Sozialen Arbeit aufwarf. Den «Stein des Anstoßes» gab eine (im Buch vorgestellte) Studie zu Fehler(kultur)verständnissen in der Praxis der Sozialen Arbeit von Stummbaum/​Harrer-Amersdorfer, die bei 17 Fachkräften der Sozialen Arbeit ein defensives und berufsethisch wie fachlich-methodisch erschreckendes Professionsverständnis offenbarte und zur Auseinandersetzung mit dem Thema «Fehler in der Sozialen Arbeit» herausforderte.

Die Herausgeber

Jürgen Beushausen ist Professor für Soziale Arbeit an der Diploma Hochschule und Dekan im Masterstudiengang «Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit». Er ist zudem tätig als Supervisor und in der Weiterbildung.

Kirsten Rusert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin am Lehrerbildungszentrum der Universität Vechta und tätig als Mediatorin, ihre Arbeitsschwerpunkte sind Transformative Bildung im Fokus von Digitalisierung, Migration, Inklusion und Konfliktbearbeitung.

Martin Stummbaum ist Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Augsburg mit Schwerpunkten wie methodische Professionalität, partizipative und Praxisforschung, Innovationsprozesse, Gesundheitsförderung und Nachhaltigkeit.

Aufbau und Inhalt des Buches

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die von einer bezugswissenschaftlichen Annäherung über die theoretische Grundlegung und praktische Anwendung von Konzepten zu Hilfen bei der Gestaltung einer professionellen Fehlerkultur führen. Ich beschreibe im Folgenden einzelne Beiträge vertieft, andere summarisch.

Der einleitende Beitrag von Stummbaum und Harrer-Amersdorfer problematisiert die defizitären Fehler(kultur)verständnisse von 17 untersuchten Fachkräften der Sozialen Arbeit, die zum Anlass für das Buch wurden. In den 36 geschilderten Praxisfällen bleiben den interviewten Fachkräften die vorgekommenen Fehler unbewusst oder werden bagatellisiert, in Abrede gestellt oder als «brauchbare Illegalität» umgedeutet. Die Interviewpartner signalisieren Theorie- und Methodenferne, referieren auf Alltagstheorien und zeigen eine überaus defensive Professionalität hinsichtlich des Umgangs mit Fehlern, dies mit Rekurs auf das Technologiedefizit nach Luhmann & Schorr (1982) und ein Paradigma der «Sozialen Arbeit von Menschen mit Menschen».

Teil 1 versucht die Annäherung an ein Fehlerverständnis der Sozialen Arbeit über deren Bezugswissenschaften, dabei kommen Anthropologie, Pädagogik, Rechts- und Gesundheitswissenschaften sowie Organisationssoziologie zu Wort.

Der Beitrag von Hundeck versucht eine philosophisch-anthropologische und ethische Grundlegung von Fehlern als Krisen und Umwege und als Modus menschlicher Freiheit. Der Autor verwechselt allerdings den Begriff des Fehlers mit dem des «guten Fehlers» (schadensarm und lernreich). «Gute Fehler» (Sicora 2018, 685) haben Umwege und damit Lernprozesse zur Folge – aus dem Umweg lernt aber nur, «wer die Landschaft überlebt» – und dies besser ohne Selbstamputation des unter einem Felsen eingeklemmten Arms, wie sie Aaron Ralston nach 127 Stunden im Bluejohn Canyon in Utah vornahm, um sein Leben zu retten (Ralston 2011). Bei der Umdeutung von Fehlern als anthropologische Notwendigkeit, kulturelle Möglichkeit und Modus positiver menschlicher Freiheit unterschlägt Hundeck die potenziell gravierenden Folgen von Fehlern, die z.B. der folgende Beitrag zu justiziablen Fehlern im Kinderschutz im Folgenden deutlich macht.

Der Beitrag von Weingardt setzt sich mit dem Verhältnis von Fehlervermeidung und Fehler(un)kultur und einem interdisziplinären neue Ansatz der Fehlerkultur auseinander. Er reflektiert das Fehlervermeidungsdenken auf neuere gesellschaftliche Entwicklungen hin – die medialen Verstärker, der Fokus auf individuelle Fehlleistungen, Selbstoptimierung als gesellschaftlicher Trend und die immer noch verbreitete schulische Sozialisationskultur zur Fehlervermeidung. Demgegenüber fordert er eine offene, professionelle und fehlerreflexive Kultur. Dabei schärft er und das ist besonders wichtig für die Soziale Arbeit, einen Fehlerbegriff, der optimale, suboptimale und unerwünschte Varianten differenziert und so normative Bewertungen von Fehlern auch unter ungewissen normativen oder fachlichen Standards erlaubt. Seine Empfehlungen zur Fehlerkultur in Organisationen sind allen Führungspersonen in sozialen Einrichtungen dringend zu empfehlen.

Maile-Pflughaupts Beitrag fordert den Erwerb von Fehler-Kompetenz im Hochschulstudium. Dazu fokussiert sie auf einen kompetenztheoretischen Bildungsbegriff, der bereits mit der Grundidee von Wissenschaftlichkeit zum kritischen Umgang mit Fehlern, zur ständigen Akkommodation und zum «Wissen, was man weiss – und was nicht» befähigen soll, leider bietet der Beitrag nicht viel Neues zur Hochschulbildung und vor allem wenig, das auf fehlerreflexive Handlungsorientierung im Studium verweist.

Christ und Rusert gehen auf die strafrechtliche Verantwortung von Fachkräften ein, die bei sozialpädagogischen Fehler auf die Anklagebank führen kann. Sie beschreiben typische strafrechtliche Risiken von in der Jugendhilfe durch Fachkräfte gemachte Fehler, reflektieren den medial bekannt gewordenen Fall «Anakin» und das als fahrlässige Tötung juristisch beurteilte Handeln der im Fall zuständigen Sozialarbeiterin.

Löber beschreibt den Weg der Medizin vom Qualitäts- über das Risiko- zum Patientensicherheits-Management am Beispiel eines deutschen Universitätskrankenhauses. Auf einen Rückblick in die Geschichte der Medizin folgen Ausführungen zu Risiken und Fehlern vom Critical Incident bis zum Behandlungsschaden sowie eine systematische Darstellung des Patientensicherheitsmanagements und seiner Kernprozesse.

Büchner geht auf Fehler aus organisationssoziologischer Perspektive ein, sie kritisiert den Mythos der rationalen Organisation angesichts organisationaler Dynamiken wie Blame Games, Verantwortungs- und Verantwortlichkeits-Pingpong. Sie thematisiert die besondere Fehler-Vulnerabilität sozialer Einrichtungen, die sie gern von High-Reliability-Organisationen oder dem Fehlermanagement in der Luftfahrt lernen lassen möchte. Sie macht allerdings wenig Hoffnung auf Transfer dieser Management- und Kooperationskonzepte, da Soziale Arbeit nicht im gleichen Maß technologiebasiert arbeitet und auch Digitalisierung oder Algorithmen keinen Ausweg versprechen.

Teil 2 legt Grundlagen für ein Fehlerverständnis der Sozialen Arbeit in handlungstheoretischer, psychoanalytischer, systemischer und konstruktivistischer Perspektive.

Birgmeier stellt handlungswissenschaftliche und «widerfahrnisphilosophische» Reflexionen zur Kultivierung von Fehlern in der Sozialen Arbeit an. Er kontrastiert professionelles Handeln mit Kamlahs Begriff der «Widerfahrnis» (Kamlah 1972) und verweist auf die ubiquitäre Fehleranfälligkeit allen Handelns durch Kontingenzen, Zufälle und die hohe Ungewissheit im sozialarbeiterischen Handeln. Dabei wird der Fehlerbegriff allerdings auf Irrtümer und Scheitern ausgeweitet, was ihn nicht gerade präziser macht. Die Empfehlungen zur Fehlerkultur beziehen sich eher auf den Umgang mit Ungewissheit, Zufällen, Nebenwirkungen und Kontingenzen im professionellen Handeln als auf die Prävention, Bewältigung und Wiedergutmachung von Fehlern.

Hongler versucht eine psychoanalytische Sicht sozialpädagogischer Professionalität im Umgang mit Fehlern. Allerdings geht es im Beitrag zu Allmachtsphantasien und Idealisierungen nicht um den Umgang mit Fehlern, sondern um negative Gefühle in herausfordernden Beziehungssituationen, die Regulierung von Nähe und Distanz, die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung und das Offen- und Aushalten von Widersprüchen, Paradoxien und Ambivalenzen in den Beziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe – unter Bezug auf die psychoanalytische Pädagogik. Anstelle der Analyse von Fehlern, wie dies Oser & Spychiger (2005) mit ihrem «etwas ist nicht so, funktioniert nicht so, darf nicht so sein» konzeptualisieren, steht der Appell zur «Negative Capability», der Fähigkeit, Paradoxes, Ambivalentes, Zweifel und Verunsicherung auszuhalten und darüber nachzudenken. Auch das ist eine sozialarbeiterische Kompetenz, aber was sie zur Vermeidung von Fehlern beiträgt, fragte ich mich beim Lesen.

Beushausens systemischer Zugang zu einer Theorie der Fehler landet, wo die radikalkonstruktivistische Systemtheorie immer landet – bei Konstruktion, Selbstreferentialität und Nicht-Instruierbarkeit von Menschen. Fehler entstünden dann, wenn dies nicht beachtet würde oder Fachkräfte sich immunisierten. Der Beitrag bleibt überaus allgemein und wenig instruktiv, der konstruktivistische Relativismus kommt hier deutlich an seine Grenzen, der Erklärungswert bleibt mir fraglich.

Abstrakt und enggeführt schien mir auch der Beitrag von Kleve, der Fehler mit Luhmann auf die nicht angemessene Balance von Hilfe und Nicht-Hilfe reduziert. Luhmanns Leitunterscheidungen gesellschaftlicher Systeme bleiben allerdings deutlich zu grob, um einen Erkenntniswert für praktische Sozialarbeit zu generieren. Kleves Kritik an Sozialbehörden («selbstreferentielle Abschottung und bürokratischer Selbsterhalt») und freien Trägern («Sicherung des Nachschubs an neuen Fällen») wirkt befremdlich und stereotyp.

Der dritte Abschnitt gibt Orientierungshilfen auf dem Weg zu einer Fehlerkultur in der Sozialen Arbeit.

Beushausen kategorisiert im ersten Beitrag Risiken, Nebenwirkungen, Fehler und Schäden in Anlehnung an mehrere psychotherapeutische Untersuchungen. Der Beitrag bleibt begrifflich unscharf und wechselt mehrfach die Inhalte der verwendeten Begriffe. Die Überblicksgraphik erschloss sich mir nicht, aber die darauf folgende tabellarische Systematisierung ordnet unethisches und unprofessionelles Verhalten sowie institutionsbedingte Fehler sinnvoll und schafft so eine Auslegeordnung zum Thema. Der Beitrag ist im Teil 3 allerdings ordnungsfremd, da er Grundbegriffe expliziert und nicht zur Fehlerkultur instruiert.

Rosenbauer beschreibt den Weg zu einer machtsensiblen Fehlerkultur über Ombudschafts- und Beschwerdestellen in der Kinder- und Jugendhilfe und zeigt den Weg, den «unheard voices» in der Jugendhilfe eine Stimme zu geben. Das Engagement für den Schutz von vulnerablen jungen Menschen und ihren Familien vor Grenz- und Rechtsverletzungen durch Fachkräfte und Institutionen wird stark deutlich, sowohl den Beitrag als auch die dargestellte Konzeption von Beschwerdestellen bewerte ich als eminent wichtig.

Janßen, Völschow und Stein beschreiben die EU-Roadmap zum professionellen Umgang mit Betroffenen von Früh- und Zwangsehen. Die Herausforderungen der typischen, durch die große Abhängigkeit von ihren Familien bedingten Ambivalenz, der Hard-to-Reach-Charakter der Klientel, und das «one-chance-problem» werden als potentielle Fehlerquelle beschrieben und reflektiert. Die Roadmap zeigt hierzu einen Weg zur Prävention auf.

Drei weitere Beiträge thematisieren die Fehlerquellen bei der Digitalisierung von Arbeit mit Flüchtlingen (Rusert), beschreiben eine Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Kart) und Lernprozesse aus Fehlern und Irrtümern im Kinderschutz (Biesel und Brandhorst).

Der vierte Abschnitt gibt Gestaltungshilfen für eine professionelle Fehlerkultur in sozialen Einrichtungen.

Biesel und Brandhorst setzen ihre fundierten Überlegungen zum Lernen aus Fehlern im Kinderschutz fort. Der Beitrag gibt starke Anregungen für eine offen-kritische Fehlerkultur, er fordert Achtsamkeit als Haltung, den Einbezug von Wissen aus High-Reliability-Organisationen und eine entsprechende Lernkultur, ein starker Impuls fürs organisationale Lernen. Effinger schließlich thematisiert Selbstkompetenz als Schlüssel zum Umgang mit der Angst vor Fehlern und im abschließenden Beitrag denkt Stummbaum über die Weiterentwicklung der Fehlerprofessionalität in der Sozialen Arbeit nach.

Diskussion

Das Buch stellt ein bedeutsames Thema für die Professionalität Sozialer Arbeit zum ersten Mal ins Licht der Fachöffentlichkeit, lotet das Thema systematisch aus und ist daher ein sehr wichtiger Beitrag dazu.

Allerdings bestätigt sich mindestens in Teilen der Beiträge das Lamento der Praktiker Sozialer Arbeit (auch derer in der anlassgebenden Studie) über den geringen Nutzen von Theorie: Ein Teil der theoretischen Beiträge (besonders von philosophischer, soziologischer und konstruktivistisch-systemischer Seite) verwischt die Begrifflichkeiten zu Risiken, Irrtümern, Fehlern und Schäden und bleibt diffus und teils begrifflich nicht konsistent. Die Systemtheorien leisten in ihrem konstruktivistischen Relativismus und den vagen Reflexionen um Komplexität und Kontingenz kaum einen hilfreichen Beitrag – der zweite Abschnitt trägt nach meiner Auffassung dementsprechend eher wenig zur Orientierung bei. Den Blick in Psychotherapie und Medizin fand ich hilfreich, um sich von dort Anregungen zu holen, allerdings vermisste ich schulpädagogische, arbeits- und handlungspsychologische Perspektiven ebenso wie die Sicht der kognitiven Verhaltenstherapie. Dass Pioniere wie Fritz Oser und Maria Spychiger mit ihrem grundlegenden Werk «Lernen ist schmerzhaft» (2005) oder Bienenstein & Rother (2009) kaum reflektiert wurden, fand ich bedauerlich. Auch internationale Perpektiven (Sicora 2017, 2018) hätten das Buch bereichert. Dies bietet starke Perspektiven für weitere Auflagen dieses für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit überaus wichtigen Buchs.

Die praxisnahen Beiträge sind konkret, deren Autoren wissen um Fehler, sind in der Lage, diese einzuschätzen und geben Wege an, eine professionelle Fehlerkultur für ihre Handlungsfelder zu entwickeln. Von diesen Beiträgen ist viel zu lernen. Besonders wertvoll fand ich den Beitrag zu Fehlern im Kinderschutz sowie den zu Ombuds-, Fehlermelde- und Beschwerdestellen, etwas, das ich seit Jahren in der Praxis Sozialer Arbeit zum Schutz von Klienten vor fehlerhaftem, übergriffigem oder unethischem Handeln von Fachkräften und sozialen Einrichtungen vermisse und das auch heute (2023) noch wohl eher die Ausnahme als die Regel des Umgangs mit Fehlern in Sozialeinrichtungen sein wird.

Fazit

Das Buch ist Studierenden, Praktikern und Lehrenden der Sozialen Arbeit dringend zu empfehlen, es sollte, wie Stummbaum im letzten Beitrag anregt, ins Studium und dort in die Methodenlehre der Sozialen Arbeit integriert werden und so auf Sensibilisierung für Fehlerprofessionalität bereits im Studium hinarbeiten. Empfehlenswert ist es auch für Leitungen sozialer Einrichtungen, um eine professionelle Fehler- und Lernkultur in den Einrichtungen zu etablieren.

Literatur

Althof, W. (1999). Fehlerwelten: Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Beiträge und Nachträge zu einem interdisziplinären Symposium aus Anlaß des 60. Geburtstages von Fritz Oser. Opladen: Leske + Budrich.

Bienenstein, S. & Rother, M. (2009). Fehler in der Psychotherapie: Theorie, Beispiele und Lösungsansätze für die Praxis. Wien: Springer.

Biesel, K. (2008). Zwischen Fehlervermeidung und -offenheit: Wo stehen die sozialen Hilfesysteme? In: Sozial Extra. 32. Jg. (11-12). S. 6–10

Biesel, K., et al. (2022). Lehrbuch Kinderschutz. Weinheim: Beltz Juventa.

Braches-Chyrek, R. (2019). Soziale Arbeit – die Methoden und Konzepte. Opladen Toronto: Verla Barbara Budrich.

Hochreither, P. (2004). Erfolgsfaktor Fehler: Persönlicher Erfolg durch Fehler: Verlag Business Village.

Hochuli Freund, U. & Stotz, W. (2017). Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Kamlah, W. (1972). Widerfahrnis und Handlung. In: Kamlah, W. (Hg.). Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim: Bibliographisches Institut. S. 34–40.

Karrer, B. (2007). Fehler in der Sozialen Arbeit? Ein Gespräch mit Hans Thiersch. In: Sozial Extra. 9/10. Jg. S. 34–36

Luhmann, N. & Schorr, K.-E. (1982). Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In: Luhmann, N./Schorr, K.-E. (Hg.). Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 11–40.

Oser, F. & Spychiger, M. (2005). Lernen ist schmerzhaft: zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim: Beltz.

Ralston, A. (2011). 127 Hours – Im Canyon: Fünf Tage und Nächte bis zur schwierigsten Entscheidung meines Lebens. Berlin: Ullstein.

Schaefer, J. (2014). Lob des Irrtums: Warum es ohne Fehler keinen Fortschritt gibt. München: Bertelsmann.

Schneider, S. (2007). Fehler in Beratungsrozessen: Positionierungen sozialpädagogischer Fachkräfte. In: Sozial Extra. 31. Jg. (9/10). S. 41–44

Schwabe, M. (2022). Die „dunklen Seiten“ der Sozialpädagogik Ideale, Negatives und Ambivalenzen. Ibbenbüren: Münstermann.

Seithe, M. (2012). Schwarzbuch Soziale Arbeit [electronic resource]. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: Imprint: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Sicora, Alessandro (2017). Reflective Practice and Learning from Mistakes in Social Work. Cambridge: University Press.

Sicora, Alessandro (2018). Learning from mistakes in social work. Imparare dagli errori nel servizio sociale. European Journals of Social Work 21/5, S. 684–696.

Spiegel, H. & Sturzenhecker, B. (2018). Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. München: Reinhardt.

Walter, U. M. (2017). Grundkurs methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit mit Online-Zusatzmaterial. München: Ernst Reinhardt Verlag.

Wolff, R., et al. (2013). Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse. Opladen: Budrich.

Rezension von
Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten/Schweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Widulle.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Widulle. Rezension vom 26.07.2023 zu: Jürgen Beushausen, Kirsten Rusert, Martin Stummbaum (Hrsg.): Fehlerkulturen in der Sozialen Arbeit. Orientierungshilfen auf dem Weg zu einer fehlerreflektierten Professionalität. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2022. ISBN 978-3-8252-5844-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29067.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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