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Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski et al. (Hrsg.): Praxis Krisenintervention

Rezensiert von Peter Flick, 26.01.2022

Cover Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski et al. (Hrsg.): Praxis Krisenintervention ISBN 978-3-17-035577-4

Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.): Praxis Krisenintervention. Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflege- und Rettungskräfte. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 286 Seiten. ISBN 978-3-17-035577-4.

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Thema

Der Begriff „Krisenintervention“ umfasst ein breites Spektrum von Problemen, das von temporären Lebenskrisen bis hin zu schweren psychischen Störungen und Traumatisierungen reicht. Das in der dritte Auflage überarbeitete Handbuch »Praxis Krisenintervention« wendet sich mit seinen 24 Beiträgen von Expert*innen an Studierende, ausgebildeten Laien und professionelle Helfer*innen, die ihre theoretischen und praktische Kenntnisse erweitern oder überprüfen wollen.

Darüber hinaus wird auch ein breites Lesepublikum angesprochen, denn zweifellos haben psychische Krisen auch eine „seismographische Funktion“ (H. Keupp, 44). Ihre spezifischen Störungsbilder zeigen den Verlust der Bindungskräfte in unserer Gesellschaft an und den defizitären Zustand einer Krisenhilfe, die hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt.

Herausgeber*innen und Autor*innen

Die Herausgeber*innen sind Dipl.-Psych. Wolf Ortiz-Müller, Psychologischer Psychotherapeut und Dozent für Krisenintervention, Dr. med. Stefan Gutwinski, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberarzt an der Tagesklinik und Psychiatrischen Institutsambulanz Wedding/​Berlin sowie Silke Birgitta Gahleitner, Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit der Alice-Salomon-Hochschule. Die 24 Autor*innen repräsentieren ein breit gefächertes Berufsspektrum von „Helfer*innen“, die es alltäglich mit Krisen zu tun haben.

Aufbau und Inhalt

Ich gebe einen Überblick über den Aufbau des Buches und das Spektrum der behandelten Themen. Das Buch ist in drei große Teile gegliedert:

Teil I: Theorie – Krisenintervention verstehen

  • Heiner Keupp beschreibt die Veränderungen gesellschaftlicher Krisenerfahrungen im „globalisierten Netzwerkkapitalismus“. Keupp betont in seinem sozialpsychologischen Beitrag insbesondere die Konsequenzen für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die dem Prozess der sozialen Desintegration ausgeliefert sind.
  • Wolf Ortiz-Müller skizziert unter der Überschrift „Krisenkonzepte der 1940er –1970er Jahre: Traumatische Lebensveränderungs- und Entwicklungskrise“ (48 ff.) eine Entwicklungsgeschichte der Krisenkonzepte und erläuert die heute gängigen Verlaufs – und Handlungsmodelle der Krisenformen.
  • Der Beitrag von Silke Birgitta Gahleitner knüpft an die sozialpsychologischen Thesen Keupps an und betont anhand eines Fallbeispiels die Bedeutung fehlender sozialer Bindungen bei schweren Krisenerfahrungen. Gerade „komplex traumatisierte Menschen“ seien besonders stark auf „krisenqualifizierte Versorgungsstrukturen angewiesen“ (72).
  • Manuel Rupp beschreibt wesentliche Unterscheidungsmerkmale zwischen Notfall und Krise und stellt spezifische Vorgehensweisen der Hilfe dar. Die Helfer*innen müssen in der Notfallsituation eine Entscheidung treffen, was weiter zu geschehen hat, alleine oder in einer Notfallkonferenz.
  • Wolfram Dorrmann offeriert sein in langjährige Praxis bewährtes didaktisches Konzept der Weiterbildung zum Thema Suizidprohylaxe.

Teil II Praxis – Mit den Nutzer*innen arbeiten:

  • Ilse Eichenbrenner und Detlev Gagel analysieren die bestehenden Verbindungen zwischen Sozialpsychiatrischen Dienst und ambulantem Krisendienst.
  • Stefanie Schreiter undStefan Gutwinskin befassen sich mit derProblematik derWohnungslosen, die durch die Maschen des Hilfenetzes zwischen Suchthilfe, sozialpsychiatrischer Hilfe und Wohnungslosenhilfe fallen.
  • Jonathan Henssler und Carlos Escalera geben Hinweise, wie Krisen bei Menschen mit geistiger Behinderung erkannt und behandelt werden können.
  • Eva M. Reichelt befasst sich mit dem Problemen der Krisenintervention bei Migrant*innen, insbesondere mit den kulturspezifischen Besonderheiten im Blick auf Krankheit, Hilfestellung und Erwartungshaltungen.
  • Der Beitrag von Sigrid Meurer behandelt das Thema Suizidgefährdung bei Jugendlichen.
  • Burkhart Brückner befasst sich mit psychischen Krisen und der Suizidgefährdung alter Menschen.
  • Tomislav Majić und Stefan Gutwinski analysieren die Genese und Formen von Substanzgebrauchsstörungen und mögliche therapeutische Haltungen.
  • Volkmar Aderhold berichtet über Erfahrungen in den skandinavischen Staaten im Umgang mit Psychosen, insbesondere in einem außerstationären Setting.
  • Claudia Schmitt und Stefan Gutwinski stellen erprobte Haltungen und Strategien im Umgang mit Menschen mit Borderline Störungen vor.
  • Katharina Purtscher-Penz und Bernhard Penz führen in die theoretischen Grundlagen der Akutintervention im Traumabereich ein. Sowohl für betroffene Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche stellen sie sowohl Basiswissen als auch praxisnahe Strategien vor.
  • Manuel Rupp befasst sich mit der Komplexitä von Opferschaft – Täterschaft und einem professionellen Umgang mit diesen hoch belastenden Dynamiken gewalttätiger Patienten.
  • In Petra Risaus Beitrag geht es um die wachsende Bedeutung der Online Beratung, der die Hilfelandschaft radikal verändert, worauf professionelle Hilfsangebote reagieren müssen.

Teil III: Krisenintervention aus Sicht der Angehörigen und Krisenerfahrenen)

  • Iris Hölling setzt sich kritisch mit der Frage auseinander, was das Hilfesystem den Psychiatriebetroffenen zu bieten hat und wo es eher mit seinem bestehenden Angebot Selbsthilfepotenziale untergräbt.
  • Anja Link und Christiane Tilly, selbst ehemals Nutzerinnen der Krisendienste, blicken auf ihre Erfahrungen der Interaktion zwischen Helfer*innen und Nutzer*innen aus der Perspektive der »Vielmelder/​Heavy User« von Krisendiensten zurück.
  • Reinhard Peukert geht auf die Perspektive der Angehörigen ein, die sich häufig von den Krisen ihrer Kinder, Partner, Geschwister oder Eltern überfordert und vom bestehenden Hilfesystem im Stich gelassen fühlen. Er plädiert für neue Rollenbilder des präventiven Krisenhelfers, der als „Familiengast“ durch seine Präsenz und Begleitung in „subakuten Krisen“ weitere Zuspitzungen der Krise verhindert.

Diskussion

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber*innen fest, dass Krisenintervention „als Thema und häufig genug bereits als eigenes Tätigkeitsfeld – in nahezu jeder Einrichtung präsent (sei), die mit Menschen arbeitet.“ (23). Das ist sicher richtig, was die gestiegene gesellschaftliche Sensibilität für seelische Krisen angeht. Aber umso deutlicher wird auch die Diskrepanz zur Realität. Wenn man den derzeitigen Zustand ambulanter Krisendienste und die psychiatrische Infrastruktur betrachtet, so entsprechen sie nicht dem Bedarf und dem, was „eigentlich fachlicher Standard“(23) ist, wie die Herausgeber*ìnnen feststellen.

Um so wichtiger erscheint mir der III. Teil des Buches. Dort kommen auch die Betroffenen und ihre Angehörigen zu Wort, wie in den Beiträgen von Iris Hölling und Reinhard Peukert. Hölling legt dar, „wie Psychiatrie – Betroffene sich Hilfe vorstellen“(Hölling) und Peukert die Forderung nach einer „niedrigschwellige Krisenhilfe“ (Peukert), die diese nicht nur in „hoch zugespitzen Krisensituationen“ ermöglichen, sondern schon präventiv in Gefährdungssituationen, die die Angehörigen von kranken Familienmitgliedern überfordern

Fazit

Das Handbuch wird seinem Anspruch gerecht, interessierten Leser*innen eine erste Orientierung über Angebote und Erfahrungen im weiten Feld der Krisenintervention zu bieten. Wertvoll erscheint das Buch gerade dort, wo es individuelle Grenzen des Helfenkönnens ebenso thematisiert wie die strukturellen Mängel des „Krisenschutzes“, die uns allen in der Flutkastrophe des Jahres 2021 und der Pandemiekrise drastisch genug vor Augen geführt werden.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 26.01.2022 zu: Wolf Ortiz-Müller, Stefan Gutwinski, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.): Praxis Krisenintervention. Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflege- und Rettungskräfte. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. ISBN 978-3-17-035577-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29071.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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