Solveig Chilla, Monika Rothweiler et al.: Kindliche Mehrsprachigkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.06.2022

Solveig Chilla, Monika Rothweiler, Ezel Babur: Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen - Störungen - Diagnostik. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2022. 3., aktualisierte Auflage. 140 Seiten. ISBN 978-3-497-03124-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Bindung und Bildung: Grundlagen für (Mehr-)Sprachigkeit
Gestische, mimische und lautliche Lebensausdrücke sind biologische, zoologische, ja auch onto-genetische Äußerungen (vgl. dazu: Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27385.php). Der anthropos, der Mensch, unterscheidet sich vom gestisch, mimisch und lautlich ausdrückenden Zôon, dem Tier, insbesondere durch seine Fähigkeit, sich denkend sprachlich zu äußern. Sprachen werden somit zu anthropologischen Alleinstellungsmerkmalen des Menschen als Muttersprachen, Dialekte und Fremdsprachen. In der sich immer interdependenter, interkultureller, entgrenzter entwickelnden Welt kommt der Sprach-, Verständigungs- und Kommunikationsfähigkeit der Menschen untereinander eine existentielle Bedeutung zu. In Bildungs- und Erziehungsprozessen wird deshalb auf die Sprachbildung ein besonderer pädagogischer, sozialer, ethischer, moralischer und intellektueller Wert gelegt. Dabei ist wichtig und hilfreich, wenn sich die Menschen mehrsprachig verständigen können.
Entstehungshintergrund
Sprache erlernt und erwirbt man durch Sprechen. Diese allgemeine, tautologische Feststellung ist zu ergänzen durch die intellektuellen Herausforderungen, die sich durch die Conditio Humana und dem Streben nach einen guten, gelingenden, individuellen und kollektiven Leben der Menschen ergeben. Die Muttersprache eignet sich der Mensch durch Nachahmung und Erfahrung an. Der Homo loquens lernt sprechen durch Bildung. Denn Sprache ist ein grammatikalisches System, das aufbaut auf kulturellen und sozialen Einflüssen und Veränderungsprozessen. In den Sprachwissenschaften werden die Bedingungen des (Erst-)Spracherwerbs, der linguistischen und kommunikativen Kompetenz und des Mehrsprachenerwerbs thematisiert. Wir sprechen von Monolingualität, wenn ein Mensch eine Sprache (die Muttersprache) spricht, und von Multilingualität, wenn er in zwei oder mehr Sprachen kommunizieren kann. In den Sprachwissenschaften freilich wird diese grobe Unterscheidung relativiert – weil Sprache und Sprechen immer komplex, mehrsinnig und mehrdeutig ist. Dadurch wird auch in den Sprachwissenschaften die Unterscheidung in „Mutter“- und „Fremd“-sprachen vorgenommen. Bi- und multilinguale Sprachkonzepte basieren vielfach auf Sprach- und Kommunikationstheorien, wie z.B. der „One Person – One Language“- Konstellation, die im persönlichen Umfeld der sprechenden und kommunizierenden Person praktiziert, oder als “bi“- und „multilinguale“ Sprachkompetenz bezeichnet wird. Im differenzierten, nicht selten ideologisch ausgetragenen Diskurs über die individuelle und kollektive Bedeutung von Ein- und/oder Mehrsprachigkeit in Lebens- und Kommunikationsprozessen der Menschen, hat die Sprachforschung eindeutig nachgewiesen, dass das Lernen von und kompetentes Kommunizieren in Fremdsprachen persönlichkeits- und identitätsfördernd ist.
Autorin
Die Erziehungswissenschaftlerin Solveig Chilla von der Europa-Universität in Flensburg hat – in Zusammenarbeit mit der Bremer Germanistin und Sprachbehindertenpädagogin Monika Rothweiler und der Hamburger Oberstudienrätin Ezel Babur – 2010 die Studie „Kindliche Mehrsprachigkeit“ vorgelegt. Des weiteren hat Chilla zur Thematik 2017 die Untersuchung „Mehrsprachigkeit in der Kita. Grundlagen – Konzepte – Bildung“ (Rezension dazu unter www.socialnet.de/rezensionen/24691.php) publiziert.
Aufbau und Inhalt
Wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen, kann das nicht bedeuten, dass das Erlernen und Entwickeln der jeweiligen Muttersprache (Heritage Language, Erbsprache) an Bedeutung verliere und weniger intellektuelle und sorgliche Aufmerksamkeit erfordere; vielmehr kommt es darauf an, beiden sprachlichen und kommunikativen Bildungsprozessen gleichwertige, lebensweltliche Bedeutung zukommen zu lassen, und zu verdeutlichen, dass individuelle und kollektive, kulturelle und interkulturelle, nationale und internationale, lokale und globale Bedeutung zukommt. So ist es gerechtfertigt, der vor 12 Jahren erstmals und 2013 in weiterer Auflage vorgelegten wissenschaftlichen Studie eine dritte Fassung folgen zu lassen. Alleine das 13-seitige Literaturverzeichnis zeigt auf, dass der Diskurs um Mehrsprachigkeit einem New Turn erfordert, orientiert an den zivilisatorischen, inter- und transkulturellen, globalen Entwicklungen von Selbstverständlichkeiten, Alltäglichkeiten und Besonderheiten des menschlichen Lebens.
Wie in der Erst- und Zweitauflage thematisieren die Theoretikerinnen und Praktikerinnen des Lernens gleichberechtigt und kommunikativ den Diskurs um den Erwerb von mehreren Sprachen. Im ersten Kapitel geht es um „Erwerb mehrerer Sprachen“. Monika Rothweiler setzt sich morphologisch, syntaxisch, und semantisch mit der „(Sprach-)Erwerbsaufgabe auseinander und verdeutlicht mit Fallbeispielen die möglichen Lernverläufe und Fallstricke. Solveig Chilla führt diesen Denk- und Entwicklungsstrang weiter und arbeitet die unterschiedlichen Paradigmen und Unterschiede zum Erst- und Mehrsprachenerwerb heraus.
Im zweiten Kapitel werden die „Charakteristika des Spracherwerbs mehrsprachiger Kinder“ thematisiert, die verschiedenen Sprachmodi und Theorien vorgestellt und die individuellen, lokalen und globalen Entwicklungen zur Spracherhaltung, -bewahrung und -weiterentwicklung diskutiert.
Das dritte Kapitel betrachtet „Sprachstörungen bei mehrsprachigen Kindern“. Insbesondere bei Migrations- und Integrationsprozessen ist das Sprachenlernen als allgemeinbildende, intellektuelle Herausforderung bedeutsam. „Development Language Disorder“ (DLD) zeigt sich in besonderer Weise bei Kindern aus türkischen Herkunftsfamilien. Die Forschungsergebnisse von Chilla und Ezel Babur verweisen auf die Spannweite von charakteristischen, allgemeinrelevanten Charakteristika und Sprachproblemen und -störungen. Curricular, didaktisch und methodisch bedarf es neuer Aufmerksamkeiten und Revisionen beim Fach „Zweitsprache Deutsch“.
Im vierten Kapitel geht es um „Diagnostik im Kontext von Mehrsprachigkeit“. Hier ist die (sprach-)pädagogische Diagnostik in besonderer Weise gefordert, als fach(psychologie-)relevante und fächerübergreifende, interdisziplinäre Methodik: „Bei jedem sprachdiagnostischen Vorgehen gilt es, die lebensweltlichen, sozialen und intraindividuellen Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung zu ergründen“.
Im fünften Kapitel werden Hinweise und Anregungen zur „Unterstützung von mehrsprachiger Entwicklung“ gegeben. Sie werden als acht Grundsätze formuliert: Sprachstand ermitteln – zielorientiert handeln – evidenzorientiert und effektiv vorgehen – strukturieren – zutrauen – partnerschaftlich sein – empathisch sein – kompetent sein.
Im sechsten Kapitel werden vierzehn „Lösungshilfen“ als praxisrelevante Übungen angeboten. Das Sachregister erleichtert die Einbeziehung der Studie in den pädagogischen Alltag und macht den Forschungsbericht zum Handbuch.
Diskussion
Ist Mehrsprachigkeit moderne Normalität oder Luxus für Bevorzugte, Auserwählte und Kundige? Mit der Menschenrechtsforderung „Bildung für Alle“ stehen die humanen Herausforderungen ganz obenan. In den Bildungs- und Erziehungswissenschaften sind diese Anforderungen noch nicht ausreichend angekommen. Mit der Kompetenzvermittlung „kindliche Mehrsprachigkeit“ wird ein Anker gelegt, und es werden mehrdimensionale Perspektiven aufgezeigt.
Fazit
Mit der dritten Auflage der Forschungsstudie „Kindliche Mehrsprachigkeit“ wird auf die Dringlichkeit aufmerksam gemacht, fachspezifisch und fächerübergreifend die Bedeutung von Sprachenlernen und Sprachvermittlung in Bildungs- und Erziehungsprozessen neu zu denken!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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