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Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.02.2023

Cover Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen ISBN 978-3-462-05088-2

Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2021. 368 Seiten. ISBN 978-3-462-05088-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

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Erinnerungskultur und Erinnerungsverantwortung

Es ist beunruhigend, irritierend und skandalös, was in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen des ZDF 2020 zutage tritt: Fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung will einen Schlussstrich ziehen und sich nicht weiter mit dem Menschheitsverbrechen der Nazis beschäftigen. Die Meinungsforscher registrieren ein Bedürfnis nach „kollektiver Unschuld“. Mit der Bezeichnung „Holocaust“, als Judenvernichtung, können zwar Drei Viertel der Befragten vage etwas anfangen; doch über genaueres Wissen darüber verfügen nur rund 20 Prozent. „Auschwitz“ ist vielen Schülerinnen und Schülern nicht bekannt!

Entstehungshintergrund und Autor

Die Zeitzeugen des Menschheitsverbrechens werden weniger. Die Nachkommen der Ermordeten und (wenigen) Überlebenden versuchen, wie auch die Wenigen aus dem Tätervolk, zu verstehen, wie das „Volk von Goethe und Schiller“, „der Dichter und Denker“… es zulassen konnte, Menschen wegen ihres Glaubens und ihrer Kultur (die übrigens die der eigenen waren), Juden, zu ermorden. „Davon habe ich nichts gewusst!“ – „Damit habe ich nichts zu tun“ – das waren vielfach die entschuldigenden, distanzierten Antworten der Täter. Im Film „Inglourious Basterds“ von Quentin Tarantino (2009) gibt es eine Szene, in der sich eine Gruppe von Juden zusammen geschlossen hat, um nach 1945 untergetauchte Nazis aufzuspüren und hinzurichten. Der Film erregte viel Aufmerksamkeit und erzeugte vor allem bei den hilflosen Opfern Gefühle von Macht, Vergeltung und Rache.

Die Täter-Geschichte nach 1945 ist voller Widersprüche: Zu oft und zu systematisch versäumten es Justiz und Gesellschaft, die Verantwortlichen und Mitläufer der Gräueltaten zur Verantwortung zu ziehen; Strafverfolgungen wurden ignoriert oder verschleppt; eine angemessene, notwendige Erinnerungs- und Gedenkkultur versäumt. Achim Doerfer, Jurist und Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde in Göttingen, hat eine familiäre Holocaust-Geschichte. Seine Großmutter und Mutter überlebten das Verbrechen, sein Bruder ist Rabbiner in Israel. Er setzt sich für Integration und interreligiösen Dialog ein. Die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen als (1965) Nachgeborener einer jüdischen Familie in Deutschland „blieben merkwürdig blass“. Unvermögen, Verdrängung, Scham, Vergessen…: „Ich frage mich, ob es nicht eigentlich ganz normal wäre, Hass zu empfinden“. Das großbürgerliche, erfolgreiche, angenehme und bevorzugte Leben seiner Familienangehörigen in der Weimarer Republik und davor wurde durch die nationalsozialistische Rassenpolitik abrupt beendet. Drei Stolpersteine erinnern in Halle an seine jüdischen Vorfahren; in der jüdischen, israelischen Gedenkstätte Yad Vashem werden die Ermordeten und Überlebenden seiner Familie als „Shoa-Opfer“ genannt. Die Zeitzeugen, sowohl organisiert in Zusammenschlüssen und jüdischen Gemeinden, als auch als individuelle und literarische Mahner, stießen bei ihren Fragen nach dem „Warum“ und dem „Wer“ auf Verständnis dann, wenn sie die „Versöhnung“ in den Vordergrund brachte, auf Schweigen, Unverständnis und Zurückweisung, wenn sie „Vergeltung“ forderten. Dass sie sich wie Lämmer zur Schlachtbank und in die Gaskammer führen ließen und nicht gewehrt hätten, ist eine tradierte Erzählung; dass die Verfolgten und Vertriebenen Widerstand geleistet, sich manchmal sogar gerächt haben, eher eine Randerzählung; dass das deutsch-jüdische Verhältnis auch heute belastet und gefährdet ist, und eine echte Versöhnung ausbleibt, eine Tatsache. Diesen Fragen geht Achim Dorfer in seinem Buch nach, für das er als Titel den Ausspruch und die Begründung eines „Rächers“ aus der 1944 in Großbritannien von der Churchill-Regierung eingerichteten „Jewish Infantery Brigade Group“ gewählt hat: „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“.

Aufbau und Inhalt

Neben dem Prolog, in dem Doerfer die historischen Situationen andeutet, die öffentlichen, medialen Bemühungen skizziert und sein eigenes Empfinden, seine Zweifel und Erfahrungen einbringt, gliedert der Autor seine „Abrechnung“ (oder ist es eine „Bestandsaufnahme“?) in drei Teile. Im ersten Teil – „Jüdischer Widerstand und jüdische Rache“ verweist er auf die Existenz und die Wirkungen von jüdischen Widerstandsgruppen. Überraschend und irritierend für durchaus „informierte“ Zeitgenossen sind die zahlreichen Aktivitäten, die selbst in der bisherigen Widerstands- und Shoa-Literatur kaum thematisiert werden. Es geht um die militärischen Organisationen, wie z.B. die „Jewish Infantry Brigade Group“, die beim Flaggenappell die „zwölf Gebote des jüdischen Soldaten auf deutschem Boden“ vorlasen, wie: „Erinnere dich deiner sechs Millionen ermordeten Brüder…“ – „Betrage dich als Jude, der stolz auf sein Volk ist…“. Die (heute noch existierenden?) Netzwerke der Nazis sorgten dafür, dass die Täter aus Deutschland fliehen und nicht selten in Lateinamerika und anderswo weiter ihr nationalistisches Unwesen betreiben konnten. Bekannt ist, dass rund eineinhalb Millionen Juden und Jüdinnen mit Waffen Widerstand leisteten. Ein besonderes Augenmerk richtet der Autor auf den jüdischen Widerstand in den Gettos: „Geht nicht wie Schafe zur Schlachtbank“. Auch an die Aktivitäten in den Konzentrationslagern gilt es zu erinnern: „Seid stark und tapfer“. Mit dem „Nie wieder!“ und mit „Rache als Grundrecht“ traten auch die Mitglieder der „Gruppe Nakam“, deren Anführer Abba Kovner die Parole ausgab, dass mit der kriegerischen Niederlage der Deutschen die Vergeltung gegen den Holocaust nicht zu Ende sein könne und Rache נקמנות Recht und Pflicht eines jeden Juden gegen das Volk der Täter sein müsse. Die deutsche Gerichtsbarkeit freilich konnte (durfte) dieses Selbst- und Kollektivrecht nicht anerkennen. Aber statt sich rechtlich und ethisch damit auseinanderzusetzen, flüchtete sie sich in die Formalien der Verjährung.

Im zweiten Teil geht es deshalb um das „Versagen der deutschen Politik und Justiz nach 1945“. Nachweislich ist es nicht gelungen, das von den Nazis (wie auch zuvor schon von Ideologen und Menschenverächtern) gezeichnete Bild vom Juden als Schwarzhändler, Schieber, Wucherer… nach 1945 zu korrigieren. In den Gerichtsurteilen wurde eher gerechnet – „Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis“ –, als gerechtet. Eine notwendige Reform des Strafrechts wurde beaktet, nicht beachtet. Nur wenige Juristen, wie z.B. Fritz Bauer, und wenige Politiker leisteten und leisten aktiven Widerstand gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit (siehe z.B. dazu auch: Hyam Maccoby/Peter Gorenflos, Hrsg., Der Antisemitismus und die Moderne. Die Wiederkehr des alten Hasses, 2020, socialnet.de/rezensionen/2u7010.php). Die Auseinandersetzung en mit dem Denken, Tun, Begründungen und Rechtfertigungen von Mördern und Verbrechern wie Demjanjiuk, Zafke und Diess, wie auch die Bemühungen, nicht d i e Deutschen als Verursacher des Völkermordes zu benennen, sondern lediglich rund 1.500 Mörder und Totschläger dafür verantwortlich zu machen, wird vom Autor als „das größte Resozialisierungsprojekt der Geschichte“ bezeichnet: „Wie die Deutschen sich mit den Deutschen versöhnten“. Für Juden, egal welcher Staatsangehörigkeit oder Religiosität, ist es bedeutsam, dass es einen Staat gibt, den die Juden als Identifikations- (und Flucht-?)Stätte betrachten können. Dabei kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein, ob Israel ein Staat der Juden oder für Juden und Nichtjuden sein soll. Nicht akzeptabel und völkerrechtswidrig jedoch ist es, denen Zuspruch und Waffen zu geben, die den Staat auslöschen wollen. Am Beispiel von Lieferungen deutscher Raketen an Ägypten und andere Nahoststaaten diskutiert Doerfer die Problematik und politische Scheinheiligkeit. Es kann nicht ausbleiben, dass im Zusammenhang der deutsch-jüdischen Aussöhnung auch thematisiert werden muss, wie materielles Unrecht wiedergutgemacht werden kann. Die Fülle der Beispiele, wie gerecht oder ungerecht die materiellen, pekuniären Wiedergutmachungsleistungen Deutschlands gegenüber den Überlebenden und ihren Nachkommen ausfallen, lassen daran zweifeln, ob neben den Rechenmaschinen auch Empathie und Einsicht beteiligt sind.

Im dritten Teil erzählt der Autor „das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung“. Es geht ans Eingemachte. An Fragen, wie die deutsche Gesellschaft mit dem „Wir“ und den „Anderen“ umgeht; dem Bewusstsein von der Einheit der Menschheit in Vielfalt; von Höherwertigkeitsvorstellungen; von Diskriminierung; es ist die Skandalhaftigkeit, wie sie z.B. in Walsers Rede 1998 als Infragestellung der „Dauerrepräsentation unserer Schande“ zum Ausdruck kam; und es sind die populistischen Leugnungen des Holocaust, wie sie bis heute – sogar in Parteien – zu hören sind. Den Rufen nach einem „Schlussstrich“ gilt es endlich den Verstand entgegen zu setzen. Nicht unbedeutend bei den interkulturellen Bemühungen um Anerkennung von Schuld und ihren humanen Umgang damit, sind religiöse Fragen, wie sie z.B. beim christlich-jüdischen Dialog zum Ausdruck kommen: Die Juden sind die Christusmörder! Altes und Neues Testament als Kampfschriften? Lamento oder Laterne? Haltung oder Hass? Wenn es darum geht, wie die Erzählungen und Berichte der Zeit-ZeugInnen zu hören und zu bewerten sind, befindet sich die öffentliche Meinung in einem Dilemma: Gibt es gute und schlechte ZeitzeugInnen? Wie werden sie wahrgenommen? Wie kommen sie zu Wort? Wann werden sie gefördert, wann unterdrückt? „Die journalistische Aufarbeitung der Shoa in Deutschland ist schlecht, ja man lügt sich im Rahmen einer selektierenden und fehlgeleiteten Erinnerungskultur in die Tasche“. Mythen, Verklärungen und Illusionen sind Mittel zum Erinnern. Geschichtsklitterung kein Bindemittel, sondern Bagatellisierung von Unrecht, von Verbrechen und von Schande.

Diskussion

Anklagen, Contra-Positionen und kritische Nachfragen sind unbequem. „Man muss von massenhafter Verschonung von Täter:innen sprechen“ (S. 177). Vergessen können, als psychoanalytisches Mittel zur Lebensbewältigung, kann nicht heißen: Vergessen wollen! Vor allem dann nicht, wenn Erinnern bedeutet, sich der wirklichen, nationalen, ethischen Schuld beim Menschheitsverbrechen der Shoa bewusst zu sein (Friedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit?, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php). Das politische Postulat, dass die Deutschen, die Täter und die Nachgeborenen niemals vergessen dürfen, was Menschenhass, Rassismus, Rechtsradikalismus und Populismus Böses über die Menschheit bringen: „Nie wieder!“. Die Vereinten Nationen haben den 27. Januar eines jeden Jahres zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust proklamiert. Damit soll die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen „auf alle Zeiten… mit Scham und Entsetzen wach gehalten werden“. Der 27. Januar wurde gewählt, weil an diesem Tag, 1945, die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz befreit hat.

Die deutsche Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat bei ihrem Besuch am 27. April 2022 in der israelischen, nationalen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erneut an die Verantwortung der Deutschen für das nicht vergleichbare und nicht relativierbare Menschheitsverbrechen erinnert. Beim erstmaligen Besuch des Leiters von Yad Vashem, Dani Dayan, in Deutschland, anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung über den Holocaust im Deutschen Bundestag im Januar 2023, appelliert an die Menschen: Wennih r Antisemitismus seht, handelt sofort. Wartet nicht ab. Wenn man wartet, wird der Antisemitismus überdimensionale, monströse Ausmaße annehmen. Dann wird es unmöglich sein, ihn zu stoppen“. Nur dann, wenn es gelingt, „die Flamme des Gedenkens an den Holocaust am Leben“ zu erhalten, könne ein „Nie wieder!“ gelingen, überall in der Welt.

Fazit

Achim Doerfer, als Jude und Nachkomme von Holocaust-Opfern, als Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland, als Deutscher, will mit dem Buch, das auch als „Rache“ getitelt werden könnte, keinen Spaltkeil in die Gesellschaft treiben; vielmehr geht es ihm darum, „Versöhnung“ ernst und menschlich zu nehmen, mit Kritik am Gewordensein, und mit der Hoffnung auf ein Anders-Menschlich-Werden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.02.2023 zu: Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2021. ISBN 978-3-462-05088-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29097.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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