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Ingeborg Andreae de Hair, Andrea Basedow et al.: Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 20.04.2023

Cover Ingeborg Andreae de Hair, Andrea Basedow et al.: Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen ISBN 978-3-7799-6686-9

Ingeborg Andreae de Hair, Andrea Basedow, Hedi Gies, Katja Haller, Rita Köllner et al.: Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen. Standards und Werkbuch für Spurensuche und Fährtenlesen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 258 Seiten. ISBN 978-3-7799-6686-9. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

In diesem Band geht es um diagnostische Verstehensprozesse in der Traumapädagogik als Ergänzung zu klassifikatorischen Diagnoseverfahren.

AutorIn oder HerausgeberIn

Die neun Autor*innen des Buches sind langjährige Expert*innen im Bereich der Traumapädagogik, die meisten von ihnen sind aktive Mitglieder im Fachverband Traumapädagogik und wirkten an der „Arbeitsgruppe traumapädagogisch diagnostisches Verstehen“ mit.

Entstehungshintergrund

Seit 2013 befasst sich eine Arbeitsgruppe des Fachverbands Traumapädagogik mit Fragen des traumapädagogisch diagnostischen Verstehens. Ein Positionspapier zu diesem Thema wurde erarbeitet und bei der Tagung „Traumasensibles Verstehen“ 2017 in Frankfurt präsentiert. Das Buch umfasst sowohl das Positionspapier und Fachbeiträge der Tagung als auch einen „Werkzeugkoffer“, in dem zahlreiche Methoden, die den Verstehensprozess unterstützen sollen, vorgestellt werden.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Teil I bildet das Positionspapier „Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen“ des Fachverbands Traumapädagogik – Netzwerk für Psychosoziale Fachkräfte e.V. Der zweite Teil besteht aus drei Tagungsbeiträgen der Frankfurter Tagung, und Teil III umfasst als „Werkbuch“ zahlreiche Methoden, die den Verstehensprozess sowohl für Fachleute als auch für die Adressat*innen der traumasensiblen Arbeit unterstützen sollen.

Am Beginn steht das Positionspapier der Arbeitsgruppe mit dem Titel „Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen“. Einführend wird deutlich gemacht, dass traumapädagogisches Verstehen auf einer traumasensiblen Grundhaltung aufbaut, „aus der heraus ein Einlassen auf einen Menschen und eine Neugier für seine Lebensgeschichte entsteht“ (Arbeitsgruppe traumapädagogisch diagnostisches Verstehen 2022, S. 11). Die Grundhaltung ist durch die fünf Säulen des „Guten Grundes“, der Wertschätzung, Partizipation, Transparenz sowie „Spaß und Freude“ gekennzeichnet. Es geht um das prozesshafte Verstehen eines Menschen und weniger um das diagnostische Verständnis eines Falles. Daher wird auch nicht von „Fallverstehen“ gesprochen, und die Kinder/​Jugendlichen werden als Expert*innen für den Umgang mit ihren Lebenserfahrungen gesehen. Als Elemente des traumapädagogisch diagnostischen Verstehensprozesses werden die Dokumentation, das aktuelle Verhalten bzw. Bild des Kindes, seine Ressourcen, Traumaerfahrungen, Bindungserfahrungen und Biografiearbeit aufgezählt. Abschließend wird auf die „Vogelperspektive“, das Betrachten von einer „Metaebene“ aus und auf die Bedeutung der Interventionsplanung, für die ein diagnostischer Verstehensprozess Voraussetzung ist, eingegangen. Diesen Elementen werden auch die diagnostischen Verfahren im dritten Teil des Bandes zugeordnet.

Der zweite Teil des Buches trägt den Titel „Impulse zum diagnostischen Verstehen aus der Wissenschaft“ und umfasst drei Tagungsbeiträge. Im kurzen Beitrag „Diagnostisches Verstehen in der traumasensiblen Arbeit“ geht Andrea Basedow auf den Diagnosebegriff und auf Diagnoseprozesse in der Sozialen Arbeit ein. Silke Birgitta Gahleitner und Heiner van Mil ordnen in „Psychosoziale Diagnostik – und wie wir zum ‚traumapädagogisch diagnostischen Verstehen‘ kamen“ letzteres als einen sozialpädagogischen und hermeneutischen Zugang ein, der von klinischer Diagnostik abzugrenzen ist. Sie betonen die Bedeutung einer „Gestaltungsdiagnostik“ für eine sinnvolle Hilfe- und Interventionsplanung und schlagen ein integratives Modell vor, das klassifikatorische, Biografie- und Lebensweltdiagnostik kombiniert. Auch sie plädieren dafür, auf den Fallbegriff zu verzichten, um der durch das Trauma „erlebten Objektivierung eine starke Subjektivierung“ (Gahleitner, van Mil 2022, S. 40) entgegenzusetzen. Einen besonderen Beitrag stellt „Verstehen und verstanden werden. Expert*innen und Profis über Unmöglichkeiten von klassischer Diagnostik und die heilende Kraft des gemeinsamen Verstehens“ von Anita Ebert, Anja Sauerer, Saphira Pausini, Katharina Vogel und Wilma Weiß dar, ist er doch von Adressatinnen der Traumapädagogik und Fachkräften gemeinsam geschrieben. Sie fordern, dass traumainformiertes Fachwissen nicht nur den „Profis“, sondern auch den „Expert*innen für herausfordernde Lebensumstände“ zur Verfügung gestellt werden muss, da Wissen das Verstehen und damit die persönliche Autonomie fördert. Betont werden die große Bedeutung der Anerkennung des Schmerzes, der mit den belastenden Lebenserfahrungen verbunden ist, und des gemeinsamen Verstehens. Wenn sich Fachkräfte auf einen solchen Verstehensprozess einlassen können, kann Traumapädagogik zu einem Teil der „Bewegung für eine mitfühlendere Gesellschaft“ (Ebert et al. 2022, S. 55) werden.

Den umfangreichsten Teil des Buches bildet der Abschnitt III „Werkbuch zum traumapädagogisch diagnostischen Verstehen“. Zahlreiche Autorinnen und Autoren stellen Methoden zur Verfügung, die Fachkräften und „Expert*innen“ bessere Verstehensmöglichkeiten eröffnen sollen. Fast 60 verschiedene Methoden werden vorgestellt (im Anhang des Buches werden sie für die Leser*innen nochmals alphabetisch und nach Schwerpunkten aufgelistet). Vorangestellt sind Bemerkungen zur Handhabung des Werkbuchs und zur Sicherung (z.B. durch Methoden zur Reorientierung).

Aufgrund des Umfangs können die Methoden hier nicht einzeln vorgestellt werden. Sie decken eine große Bandbreite ab: Vorschläge für Indoor und Outdoor, für Klient*innen unterschiedlichster Altersgruppen, kurze Anwendungen von wenigen Minuten wie die „Übungen mit der Hand“ und längere wie die „Traumapädagogische Interaktionsanalyse“, bekannte Methoden wie die „5-4-3-2-1-Übung“ und weniger bekannte Methoden wie die „Schneckenpost“,… Sie werden nach folgenden Kategorien gruppiert:

  • Informationssammlung: Aktuelles Verhalten/​aktuelles Bild
  • Informationssammlung: Ressourcen
  • Trauma
  • Bindung
  • Biografie, Übergänge, Schnittstellen
  • Dokumentation als Schnittstellenfunktion
  • Auswertende Elemente: Vogelperspektive

Die einzelnen Methoden werden nicht nur beschrieben, es wird auch angeführt, an welche Zielgruppe sie sich richten, wie viel Zeit die Durchführung in Anspruch nimmt, welches Material dafür benötigt wird u.v.m. Auch weiterführende Literatur wird angegeben, und häufig finden sich Abbildungen, die das vorgestellte Tool veranschaulichen. Kleine Symbole neben den Titeln erleichtern die Orientierung, welches diagnostische Element angesprochen wird und wie die Methode eingesetzt wird.

Abschließend wird ein Ausblick auf die Interventionsplanung gegeben. Dieser auf das diagnostische Verstehen folgende Schritt kann im Rahmen dieses Bandes allerdings nicht vertieft werden.

Diskussion

In diesem Buch wird der wichtige Schritt gesetzt, diagnostisches Verstehen nicht nur in Hinblick auf bestimmte Störungsbilder und bestimmte Berufsgruppen wie Psychiater*innen oder Psycholog*innen zu reduzieren, sondern auch als (trauma-)pädagogische Aufgabe zu verorten. Der traumasensiblen Grundhaltung entsprechend wird mehr Augenmerk auf Ressourcen, Kreativität und Stärken gelegt als auf Defizite, Symptome und krankheitswertige Störungen. Wie Gahleitner und van Mil (2022, S. 33) zutreffend feststellen, bilden Fachkräfte im pädagogischen Bereich und in der Sozialen Arbeit ständig bewusst und unbewusst diagnostische Einschätzungen über ihre Klientinnen und Klienten. Umso wichtiger ist es, sich diese Prozesse zu bewusst zu machen, sie zu reflektieren und fachlich zu fundieren.

Manche der vorgestellten Methoden lesen sich eher als traumapädagogische Interventionen und weniger als Verfahren, um diagnostisch relevantes Wissen zu generieren. Das ist nicht weiter störend, denn die Autor*innen des Buches betonen schließlich auch, dass traumapädagogisch diagnostisches Verstehen prozesshaft ist und daher auch als Teil der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gesehen werden kann. Durch die Beziehungsarbeit mit den Klient*innen können die Fachkräfte eine bessere diagnostische Einschätzung für ihre Arbeit und die weitere Hilfeplanung gewinnen; sie können dadurch aber auch gemeinsame Verstehensprozesse mit den Klient*innen einleiten.

Im „Werkbuch“ sind zahlreiche Beispiele versammelt, die verschiedene inhaltliche Schwerpunkte haben und methodisch unterschiedlich aufgebaut sind. So ist es für Fachkräfte einfach, Verfahren zu finden, die der eigenen Arbeitsweise entsprechen bzw. aus dem Pool an Verfahren jene auszuwählen, die für bestimmte Klient*innen besonders geeignet sind.

Manche Fragen, die Fachkräfte in der Praxis oft beschäftigen, bleiben im Buch aber unbeantwortet: Wie kann man herausfinden, ob es im Leben des Kindes sichere Bindungspersonen gegeben hat? Wie können Pädagog*innen und Fachkräfte der Sozialen Arbeit ein Verständnis von inneren Arbeitsmodellen und Bindungsrepräsentanzen ihrer Klient*innen erlangen? Wie kann man traumatische Erfahrungen von anderen belastenden Erfahrungen und Einflüssen der Klient*innen abgrenzen? Wie kann man feststellen, welche Erfahrungen des Kindes sich besonders nachhaltig auf die kindliche Entwicklung und seine Probleme mit sich und anderen ausgewirkt haben und welche weniger Impact haben? Woran kann man festmachen, ob es sich um prognostisch günstige oder ungünstige Konstellationen handelt? Auch diese Aspekte sind für eine traumasensible Hilfeplanung relevant.

Auch eine ausführlichere Auseinandersetzung mit anderen diagnostischen Zugängen im Kontext der Traumapädagogik hätte den Band bereichert. Von verschiedenen Autor*innen wurde der Fokus auf das diagnostische Konstrukt der PTBS für traumatisierte Menschen problematisiert (z.B. Becker 1997, Wittmann 2020). Vor allem bei Kindern und Jugendlichen werden das subjektive Erleben und die Auswirkungen früher Traumata auf die kindliche Entwicklung durch das Konstrukt der PTBS nicht angemessen abgebildet. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit klinischen Diagnosen und ihren Limitationen für die Traumapädagogik wäre aber notwendig, damit pädagogische und psychosoziale Fachkräfte besser verstehen können, worin die Chancen eines traumapädagogischen diagnostischen Verstehens liegen.

Wünschenswert wäre es schließlich auch, wenn sich der fachliche Diskurs an ein Thema heranwagen würde, das in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten ist: den Einsatz projektiver Verfahren, mit denen unbewusste Persönlichkeitsanteile und Dynamiken von Kindern und Jugendlichen besser verstanden werden können. Gewiss sind sie mit Bedacht anzuwenden, und gewiss können auch sie nur eine Ergänzung zu anderen (standardisierten) Diagnoseverfahren sein, doch gerade für die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen könnten sie weitere und tiefergehende Verstehensmöglichkeiten eröffnen.

Es bleibt zu hoffen, dass der Diskurs über diagnostische Fragen im Kontext traumasensiblen Handelns weitergeführt wird.

Fazit

Das vorliegende Werk behandelt einen wichtigen Aspekt der Traumapädagogik, dem nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Die vorgestellten Methoden geben Praktiker*innen reichhaltige Anregungen und sind so vielfältig, dass sie verschiedene Zielgruppen ansprechen und in unterschiedlichsten Settings angewendet werden können.

Literatur

Becker, D. (1997): Prüfstempel PTSD – Einwände gegen das herrschende Traumakonzept. In: Medico International (Hrsg.): Schnelle Eingreiftruppe „Seele“ (S. 25–47). Frankfurt/Main: Medico International.

Wittmann, L. (2020): Trauma. Psychodynamik – Therapie – Empirie. Stuttgart: Kohlhammer.

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 20.04.2023 zu: Ingeborg Andreae de Hair, Andrea Basedow, Hedi Gies, Katja Haller, Rita Köllner et al.: Traumapädagogisch diagnostisches Verstehen. Standards und Werkbuch für Spurensuche und Fährtenlesen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6686-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29107.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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