John Wall: Give Children the Vote
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, Dipl. Soz.-Päd. Philip Meade, 11.04.2022
John Wall: Give Children the Vote. On Democratizing Democracy. Bloomsbury (New York, NY 10018) 2021. 256 Seiten. ISBN 978-1-350-19626-1.
Thema
Die Frage, ob Kinder sich an Wahlen beteiligen können, wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit etwa drei Jahrzehnten diskutiert, in einigen Ländern wie den USA bereits seit den siebziger Jahren. In Deutschland hat sich die von Jugendlichen getragene Gruppe KinderRÄchTsZÄnker zuerst in den frühen 1990er Jahren für das Wahlrecht von Kindern eingesetzt.Zuvor waren in den achtziger Jahren ähnliche Forderungen von Erwachsenen, die sich als „Antipädagogen“ bezeichneten, erhoben worden.
In den meisten Ländern beginnt das aktive Wahlrecht bisher mit dem 18. Lebensjahr. Demgemäß können sich beispielsweise in Deutschland Personen erst ab diesem Alter an Bundestags- und Europawahlen beteiligen. In einigen Bundesländern wird Kindern bereits ab dem Alter von 16 Jahren die Beteiligung an Landtags- und Kommunalwahlen zugestanden. In Deutschland hat die seit Dezember 2021 im Amt befindliche Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart, in der laufenden Legislaturperiode das Wahlrecht generell auf 16 Jahre abzusenken. Ob es dazu kommt, ist fraglich, da hierfür eine Änderung des Grundgesetzes und somit die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag erforderlich ist, die dies bisher abgelehnt hatte. In Österreich wurde das aktive Wahlrecht auf allen politischen Ebenen bereits 2007 auf 16 Jahre abgesenkt. In der Schweiz hat der Nationalrat (nationales Parlament) am 16. März 2022 für eine Gesetzesinitiative gestimmt, das allgemeine Wahlrecht von 18 auf 16 Jahre abzusenken. Diese Regelung würde allerdings nur wirksam, wenn ein entsprechendes verfassungsänderndes Gesetz vom Nationalrat und dem Ständerat (Parlament der Kantone) sowie in einer Volksabstimmung beschlossen würde (zur Information siehe: https://www.srf.ch/news/schweiz/stimm-und-wahlrechtsalter-16-wichtige-huerde-geschafft). – In allen genannten Ländern dürfen sich – mit Ausnahme der Europawahlen – nur Personen an Wahlen beteiligen, die die Staatsbürgerschaft des Landes besitzen.
Das allgemeine Wahlrecht ist ein Grundelement jeder Gesellschaft oder jedes staatlichen Systems, das sich als demokratisch versteht. Seit Jahren treten vor allem Kinderrechtsorganisationen dafür ein, jungen Menschen ab einem früheren Alter die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen. Sie haben dafür verschiedene Varianten vorgeschlagen. Diese reichen von einer Absenkung des Wahlalters auf zum Beispiel 16 oder 14 Jahre („Wahlaltersabsenkung“) bis zu dem Vorschlag, dass Kinder von dem Zeitpunkt an Wahlen teilnehmen können, an dem sie den Willen dazu bekunden („Kinderwahlrecht“). Mitunter wird auch vorgeschlagen, dass Eltern oder Sorgeberechtigte das Wahlrecht im Namen ihrer Kinder ausüben, bis diese ein bestimmtes Alter, z.B. 18 Jahre, erreicht haben („Elternwahlrecht“ oder „Familienwahlrecht“) oder solange, bis ihre Kinder den Willen bekunden, selbst ihre Stimme abzugeben („Wahlrecht ab Geburt“). Alle diese Vorschläge sind es wert, diskutiert zu werden, da sie dazu beitragen könnten, das politische Gewicht der jungen Generationen zu vergrößern oder ein Gegengewicht zur Dominanz der älteren Bevölkerung zu bilden, die mit steigender Lebenserwartung bei geringer Geburtenrate in vielen, vor allem den eher ökonomisch privilegierten Gesellschaften anwächst.
Da Kinder unter 18 bzw. 16 Jahren bisher kein allgemeines Wahlrecht haben, werden ihnen mitunter spezielle Wahlverfahren angeboten, bei denen sie parallel zu den „richtigen“ Wahlen ihre politischen Präferenzen zum Ausdruck bringen können. In Deutschland sind dies die sogenannten U18-Wahlen, die jeweils etwa eine Woche vor den Bundestags-, Landtags- und Europawahlen veranstaltet werden. Die erste U18-Wahl fand 1996 im Berliner Bezirk Mitte statt. 2005 wurde erstmals eine landesweite U18-Bundestagswahl durchgeführt. Bei der Bundestagswahl 2021 haben 261.210 Kinder und Jugendliche ihre Stimme abgegeben. Die U18-Wahl wird vom Deutschen Kinderhilfswerk koordiniert. Mitveranstaltet wird sie vom Bundesjugendring, den Landesjugendringen, einigen Jugendverbänden und dem Berliner U18-Netzwerk. Dabei handelt es sich um eine Art „Vorbürgerschaft“, die in erster Linie der politischen Bildung der neuen Generationen dienen und ihr Interesse an politischen Fragen wecken soll.
Auf internationaler Ebene setzen sich einige von jungen Menschen geführte Organisationen wie We Want to Vote und die National Youth Rights Association in den USA seit Jahrzehnten aktiv für ein volles Wahlrecht unabhängig vom Alter ein. Hinzu kommen von Erwachsenen geführte Organisationen wie Amnesty International in Großbritannien, Children‘s Voice Association und das Freechild Institute in den USA oder die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen und die Generationenstiftung in Deutschland. Einige dieser Organisationen arbeiten heute in einem globalen Netzwerk namens Children‘s Voting Colloquium (https://www.childrenvoting.org) zusammen, dem fast hundert Aktivist*Innen und Wissenschaftler*innen angehören und deren Ziel die weltweite Abschaffung des Mindestalters für die Teilnahme an Wahlen ist.
Autor und Hintergrund
John Wall, der Autor des hier rezensierten Buches, gehört zu den Gründer*innen des genannten Netzwerks. Er will mit seinem Buch die Debatte um das Wahlrecht von Kindern beleben und mit wissenschaftlichen Argumenten untermauern. Wall ist auch Inspirator und Vertreter eines wissenschaftlichen Konzepts, das er childism nennt. Er versteht es in Analogie zu Konzepten wie Feminismus oder Postkolonialismus als kritischen Begriff, der ähnlich wie der in Deutschland eher verwendete Begriff des Adultismus (siehe: Liebel & Meade: Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder. Eine kritische Einführung. Bertz & Fischer, Berlin; erscheint im Herbst 2022) darauf abzielt, die Dominanz von Erwachsenen aus der Perspektive der Kinder zu dekonstruieren und ihre Subjektivität freizulegen. Wall hofft, damit die Vorstellungskraft in der sozialen Praxis und der wissenschaftlichen Forschung für die Bedeutung der Alterskategorie im gesellschaftlichen Leben zu steigern. Ihm geht es dabei nicht nur um eine gleichgewichtige Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern auch um eine grundsätzliche Neubestimmung der Position von Kindern in gesellschaftlichen Machtverhältnissen und eine Neukonzipierung des Denkens über das Verhältnis von Altersgruppen in der Gesellschaft. Zu diesem Zweck hat Wall das Childism Institute an der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey gegründet, wo er als Professor für Philosophie, Religion und Kindheitsstudien tätig ist. Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat erzahlreiche Schriften zum Thema veröffentlicht, die ebenso wie das vorliegende Buch bisher nur in englischer Sprache zugänglich sind.
Inhalt und Aufbau
Mit seinem neuen Buch will Wall demonstrieren, wie das Konzept des childism für die Debatte um das Wahlrecht von Kindern nutzbar zu machen ist. Es ist in sieben Kapitel gegliedert und schließt mit einem Plädoyer für das vom Autor sogenannte „proxy-claim right to vote“ ab (das wir unten näher erläutern und diskutieren).
In Kapitel 1 rekonstruiert Wall die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts als Grundelement demokratischer Staatsformen seit der Einführung der Polis im antiken Athen. Er zeigt, wie das Wahlrecht von einem Recht privilegierter Minderheiten auf alle als „erwachsen“ geltenden Bewohner*innen eines zunächst städtischen, dann staatlichen Territoriums ausgedehnt wurde. Es seien immer mehr Schranken beseitigt worden, bis auf die Schranke des vermeintlich zu geringen Alters. Den wesentlichen Grund, Kindern bis heute das Wahlrecht zu verweigern, sieht er darin, dass sie als „Eigentum anderer“ verstanden und auf die „Privatsphäre“ begrenzt wurden. Diese Begrenzung, die eng mit der Entstehung des bürgerlichen Musters einer von der Gesellschaft abgeschotteten Kindheit verbunden ist, geht mit der Vorstellung einher, dass öffentliche oder politische Angelegenheiten „nichts für Kinder sind“.
In den nachfolgenden drei Kapiteln setzt sich Wall mit den häufigsten Einwänden gegen das Wahlrecht von Kindern auseinander. In Kapitel 2 widerspricht er der Behauptung, Kinder hätten nicht die nötigen Fähigkeiten, um eine rationale Wahl treffen zu können. Er gesteht zwar unter Bezug auf die Neurowissenschaften ein, dass das Gehirn junger Kinder sich noch im Aufbau befinde und nicht für „komplexe politische Entscheidungen“ geeignet sei (S. 42), verweist aber auch auf Forschungen, wonach Kinder bereits in frühen Alter über „kognitive Fähigkeiten für Moralität und Empathie“ (S. 59) verfügten. Zudem hätten Kinder viele andere Fähigkeiten wie „eine große Lernfähigkeit, mathematische Geschicklichkeit, einen komplexen Sprachgebrauch, Selbstdarstellung durch Musik und Kunst, Mitgefühl für das Leiden, sogar große Weisheit“ (S. 41), die allesamt für eine aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben bedeutsam seien. Wenn es um das Wahlrecht geht, werde aber nur Kindern der Mangel an Fähigkeiten unterstellt, während diese bei Erwachsenen als selbstverständlich vorausgesetzt würden. An Wahlen teilzunehmen sei auch nicht dasselbe wie ein Auto zu fahren oder eine Heirat einzugehen, und bringe in keiner Weise Risiken mit sich, weder für die Kinder noch für die Erwachsenen. Als demokratisches Recht erfordere das Recht, an Wahlen teilzunehmen, nicht mehr und nicht weniger, als dies tun zu wollen.
In Kapitel 3 zerpflückt Wall den Einwand, Kinder verfügten noch nicht über das erforderliche Wissen, um komplexe, zur Entscheidung anstehende Sachverhalte beurteilen zu können. Dies werde nirgends spezifiziert und bei Erwachsenen auch nicht vorausgesetzt. Das einzige Wissen, das für die Teilnahme an Wahlen sinnvollerweise beachtet werden sollte, sei, sich selbst als politisches Wesen und im Verhältnis zu anderen zu sehen und schließlich zu verstehen, dass „das politische Leben offen für verschiedene Interpretationen“ (S. 77) sei. In Demokratien gehe es nicht um elitäres oder exklusives politisches Wissen, sondern um das Wissen, das sich aus den täglichen Erfahrungen ergebe. „Eine echte Demokratie legt das Wissen, das zählt, nicht im Voraus fest, sondern erzeugt es durch einen vielseitigen Dialog“ (S. 83).
In Kapitel 4 setzt sich Wall mit den Bedenken auseinander, dass die den Kindern mit der Beteiligung an Wahlen zufallende Macht unabsehbare gefährliche Folgen habe, da Kinder im Unterschied zu Erwachsenen besonders leicht manipulierbar seien. Dem entgegnet er, dass Kinder durch die Beteiligung an Wahlen nicht Macht über Erwachsene erhielten, sondern die Macht der Erwachsenen über Kinder begrenzt werde und die Sichtweisen und Meinungen von Kindern eher bei politischen Entscheidungen Beachtung fänden. Im Übrigen sei die Gefahr, manipuliert zu werden, nicht eine besondere Eigenschaft von Kindern, sondern ein allgemeines Problem, dem durch politische Bildung in allen Altersgruppen zu begegnen sei. Die Beteiligung an Wahlen würde die Gefahr der Manipulation sogar verringern, da sie neue Erfahrungen mit sich bringe und junge Menschen selbstbewusster und kritischer werden lasse.
In den nachfolgenden Kapiteln 5 und 6 zeigt Wall die positiven Effekte auf, die das Kinderwahlrecht zum einen für die jungen Menschen selbst, zum anderen für die Gesellschaft insgesamt habe. Regierungen würden dazu veranlasst, die Interessen und Erfahrungen von Kindern stärker zu beachten, und müssten sich bemühen, ihr Handeln auch jungen Menschen verständlich zu machen. Dadurch gewännen junge Menschen nicht nur mehr politischen Einfluss, sondern würden auch selbst „politisch wachsen“ (S. 119) und an Würde gewinnen. Der Einwand, das Recht, an Wahlen teilzunehmen, würde Kindern schaden, setze dieses Recht unzulässigerweise mit dem Recht zu arbeiten, zu heiraten oder Geschlechtsverkehr zu haben, gleich. Auch die Erwachsenen würden von der Beteiligung der Kinder an Wahlen profitieren, da sie „ein komplexeres und realistischeres Verständnis ihrer Gesellschaft“ (S. 148) bekämen. Sie würde Kinder ebenso wie andere minderprivilegierte Gruppen sichtbarer machen und diesen so erleichtern, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen.
Allerdings sieht Wall auch das Erfordernis, nicht nur die Beteiligung der Kinder an Wahlen anzustreben, sondern auch über die verschiedenen Formen und Theorien von Demokratie nachzudenken. Er plädiert für eine Theorie, die er „rekonstruktiv“ nennt (S. 162). Im Unterschied zur liberalen Demokratietradition, die von den Menschen als isolierten Individuen ausgeht und sich auf gelegentliche Stimmabgabe beschränkt, ginge es darum, die täglichen Erfahrungen der Menschen, aufeinander angewiesen zu sein, ernster zu nehmen und ihnen zu ermöglichen, im politischen Leben präsent zu sein. Wahlen würden dann nicht als eine einfache Bekundung je besonderer Interessen verstanden, sondern als „ein Mechanismus, Regierungen rechenschaftspflichtig für die Menschen zu machen“ (S. 166). Dies ermögliche auch eher, sich die Beteiligung von Kindern an Wahlen vorzustellen, da diese nicht nur als abhängig von Erwachsenen, sondern in einer interdependenten Beziehung zu ihnen gesehen würden.
Im abschließenden Kapitel 7 und in einem Manifest begründet Wall, warum er für das „proxy-claim right to vote“ eintritt. Darunter versteht er, „dass jede Person in einer Demokratie von der Geburt bis zum Tod über eine Stimmrechtsvollmacht verfügt, die sie auch für sich selbst in Anspruch nehmen kann, wann immer sie will“ (S. 171; kursiv im Orig.). Diese Art des Wahlrechts von Kindern, die im Deutschen meist als „Wahlrecht ab Geburt“ bezeichnet wird, sieht seine stellvertretende Ausübung durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte vor bis zu dem Zeitpunkt, an dem junge Menschen es selbst in Anspruch nehmen wollen. Da ein bestimmtes Mindestalter nicht festgelegt wird, handelt es sich nicht um eine Wahlaltersabsenkung. Wall begründet diese Form des Wahlrechts mit dem Argument, dass sie die „höchstmögliche Rechenschaftspflicht der [politischen] Repräsentant*innen“ (S. 171) und die „höchstmögliche Ermächtigung der Leute zu ihren eigenen Bedingungen“ (S. 172) impliziere. Diese Idee lerne „von Kindern, dass die Leute oder der Demos in einer Demokratie nicht einfach unabhängig sondern tiefgreifend interdependent“ seien (S. 173). Als „interdependentes Recht“ berücksichtige es diese „komplexere menschliche Realität“ (S. 173). Statt Kinder als Mini-Erwachsene zu behandeln, vereine es „Kinder und Erwachsene entlang des gleichen interdependenten Wahlspektrums“ (S. 180) und „statt einem Wettbewerb zwischen Interessen von Individuen“ ermögliche es „einen Prozess geteilter sozialer Ansprechbarkeit“ (S. 182).
Allerdings bekennt Wall auch, dass er bei seinem Vorschlag zögere. Er nennt sieben oft vorgebrachte Einwände, die zu bedenken seien. Die genuine Gleichheit der Wählenden könnte unterminiert werden; Erwachsene, die keine Kinder haben, könnten sich ungerecht behandelt sehen; es sei schwierig, zu entscheiden, welche Erwachsenen für „ihre“ Kinder die Stimme abgeben; Eltern könnten ihre Kinder hindern oder den Zeitpunkt hinauszögern, ab dem sie ihr Wahlrecht selbst ausüben; das Wahlverhalten von Kindern könnte in der Schule manipuliert werden und schließlich könnte die Ungleichheit zwischen Kindern vergrößert werden. All diese Gegenargumente wiegen aus Walls Sicht allerdings nicht so schwer, dass sie seinen Vorschlag entwerten. Über allem stünde die Maxime, auch den jüngsten Kindern eine politische Repräsentation zu ermöglichen. Und schließlich könnte den aufgezeigten Risiken und Schwierigkeiten seines Vorschlags mit praktischen Regeln und Überzeugungsarbeit begegnet werden.
Diskussion
Im deutschen Sprachraum sind seit Jahrzehnten ebenfalls Vorschläge und Forderungen formuliert worden, wie das Wahlrecht von Kindern gestaltet werden könnte. Dazu gehören auch Vorschläge, die denen von John Wall ähnlich sind. Gleichwohl finden wir sein Buch auch für Leser*innen im deutschsprachigen Raum lesenswert, da es manche neuen Ideen und Argumente enthält. Dazu rechnen wir vor allem den Gedanken, das Wahlrecht von Kindern mit dem Gedanken der Interdependenz oder gegenseitigen Verantwortung in Verbindung zu bringen. Außerdem ist das Buch in einer Weise aufgebaut und in einem Duktus geschrieben, der es den Leser*innen erlaubt, dem Autor bei der Entwicklung seiner Gedanken gleichsam über die Schulter zu blicken und mit ihm über die verschiedenen Argumente und Gegenargumente erneut nachzudenken.
Das von Wall vorgeschlagene und detailliert begründete „Wahlrecht ab Geburt“ oder „Proxy-Wahlrecht“ hat den Charme, kein Kind aufgrund eines noch nicht erreichten Alters außen vor zu lassen. Für seinen Vorschlag spricht auch, dass sich zumindest in den wohlhabenderen Gesellschaften des Nordens aufgrund der höheren Lebenserwartung und niedrigen Geburtenrate die demografische Struktur immer mehr zu den Älteren verschiebt, Kindern also immer weniger quantitatives Gewicht zukommt. Aber es scheint uns problematisch zu sein, dieses Recht – wie Wall vorschlägt – treuhänderisch von Eltern oder anderen Sorgeberechtigten ausüben zu lassen.
Obwohl davon auszugehen ist, dass diese in den allermeisten Fällen im besten Interesse ihrer Kinder handeln wollen, ist die Familie ein komplexes Interessengefüge in dem nicht selten ein (politischer) Dissens zwischen Erwachsenen und Kindern herrscht. Da die Perspektiven der Jüngeren häufig den Kürzeren ziehen (müssen), meinen wir, dass aus adultismuskritischer Sicht das Wahlrecht von Kindern nicht stellvertretend von nahestehenden Erwachsenen, sondern von den Kindern höchstpersönlich ausgeübt werden sollte. Erstaunlich finden wir, dass Wall, der in seinem childism-Konzept Fragen der ungleichen generationalen Macht ausdrücklich anspricht, dies in seinem Vorschlag für das Proxy-Wahlrecht nicht berücksichtigt.
Einen weiteren Mangel von Walls Begründung des Wahlrechts von Kindern sehen wir darin, dass er Demokratie nur als Staatsform versteht und damit das Wahlrecht in seiner Bedeutung für das menschliche Leben überhöht. Er macht sich zwar Gedanken über verschiedene Formen von Demokratie und das, was er „rekonstruktive Demokratie“ kommt einem – meist republikanisch genannten – Demokratieverständnis nahe, das die politische Form nicht vom gesellschaftlichen Leben trennt, wie das beim liberalen Demokratiekonzept der Fall ist. Aber in seinen Überlegungen werden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jeglicher Staatsform unseres Erachtens nicht genügend berücksichtigt. Es sei nur daran erinnert, dass die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsche Demokratie einmal als „marktkonform“ gepriesen hat.
Es sei auch daran erinnert, dass sich die politische Partizipation weder bei Erwachsenen noch bei Kindern auf das Wahlrecht beschränkt. In vielen Ländern sind seit den 1990er Jahren, angeregt durch die UN-Kinderrechtskonvention, Kinder- und Jugendparlamente, Kinderräte oder ähnliche Formen der Partizipation junger Menschen ins Leben gerufen worden. Wenn Kinderräte oder ähnliche Einrichtungen der Kinderpartizipation als symbolischer Ersatz für das Wahlrecht dienen, lenken sie die Interessen und Energien von Kindern in Bahnen, die von Erwachsenen vorherbestimmt sind, und tragen somit nicht wirklich dazu bei, dem Adultismus in der Gesellschaft entgegenzutreten. Wenn Kinderräte jedoch Teil eines politischen Prozesses sind, der auf Änderungen in der Gesellschaft abzielt, oder gar selbst aus Protestbewegungen junger Menschen hervorgehen, können sie dazu beitragen, diesen Prozessen und Bewegungen eine stabilere Struktur zu geben und somit ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Generell ist davon auszugehen, dass selbst , wenn Kinder das Wahlrecht erhielten, nur dann größere Wirkungen zu erwarten wären, wenn es von selbstorganisierten politischen Bewegungen begleitet würde. Das Wahlrecht von Kindern sollte deshalb immer mit anderen Formen der politischen Partizipation zusammen gedacht werden.
Nur so wäre auch eine immanente Beschränkung des Wahlrechts zu überwinden, die darin besteht, politische Fragen nur auf parlamentarische Institutionen zu begrenzen. Wenn Demokratie ernstgenommen wird, kann sie sich nicht damit begnügen, irgendwelche neuen Normen und Gesetze zu erzeugen, sondern müsste auch die gelebte Wirklichkeit verändern. In anderen Worten: die Gesellschaft müsste sich in allen Bereichen demokratisieren, in der Wirtschaft ebenso wie in den sozialen und pädagogischen Institutionen. Für junge Menschen würde dies zum Beispiel bedeuten, in der Schule nennenswerten Einfluss auf die Lehrinhalte und Lernformen zu gewinnen, und rechtlich verbindliche Möglichkeiten zu erhalten, um gegen die Verletzung eigener Rechte vorgehen zu können. Mit einer solchen Ausweitung der Demokratie in das alltägliche Leben hinein würde der Rahmen einer sich als repräsentativ verstehenden demokratischen Staatsform nach liberalem Muster überschritten. Gerade das Wahlrecht von Kindern könnte dazu beitragen, eine solche Perspektive deutlicher sichtbar werden zu lassen.
Würde Kindern das Wahlrecht direkt zugestanden, könnte davon ausgegangen werden, dass ihr Interesse, sich zu informieren, ebenso anwächst wie ihre Fähigkeit, eigenständige politische Urteile abzugeben. Politische Parteien und Kandidat*innen, die gewählt werden wollen, würden dazu veranlasst, sich jungen Menschen verständlich zu machen, und es wäre damit zu rechnen, dass die angebotenen politischen Informationen und Optionen den Interessen und Erwartungen junger Menschen eher Rechnung tragen. Die jüngsten Protestbewegungen in verschiedenen Teilen der Welt haben sichtbar gemacht, dass junge Menschen heute zu den Bevölkerungsgruppen gehören, die sich in besonderem Maße politisch engagieren.
Eine offene Frage, die im Buch von Wall zwar angesprochen, aber nicht näher behandelt wird, bezieht sich auf die Möglichkeiten von Kindern, selbst in den demokratischen Institutionen Mitverantwortung zu übernehmen und sich direkt an Entscheidungen zu beteiligen. Dies würde neue Überlegungen und Regelungen des „passiven Wahlrechts“ erfordern, also inwieweit und in welcher Weise Kinder nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden und bestimmte Funktionen im politischen System übernehmen können. Solche Regelungen müssten mit einem Umbau der politischen Institutionen in der Weise verbunden werden, dass junge Menschen nicht genötigt werden, Politik als Beruf auszuüben, und es müssten Praxisformen geschaffen werden, die für Kinder attraktiv sind und im Rahmen der ihnen verfügbaren Zeit ausgeübt werden können. In dieser Hinsicht ist noch viel kreative Phantasie erforderlich, bei der nicht zuletzt auf die Ideen von jungen Menschen zurückgegriffen werden sollte.
Zu bedenken ist auch, dass das Wahlrecht von Kindern eine machtausgleichende Funktion hätte, die der strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern in den zeitgenössischen Gesellschaften entgegenwirkt, indem es ihren sozialen Status und ihre Verhandlungsposition stärkt. Dabei genügt es nicht, nur das Wahlrecht zu ändern. Es müssen im Leben der jungen Menschen auch die realen Bedingungen dafür geschaffen werden, damit dieses Recht als bedeutungsvoll für das eigene Leben wahrgenommen werden kann. In diesem Sinn ist es auch notwendig, das in der UN-Kinderrechtskonvention maßgebliche Prinzip der sich entwickelnden Fähigkeiten in dem Sinne zu erweitern, dass es nicht nur die subjektiven Fähigkeiten der Kinder betrifft, sondern gleichzeitig die Schaffung der materiellen Bedingungen einschließt, um diese Fähigkeiten gebrauchen zu können. Diese haben ebenso wie die Handlungserfahrungen selbst Einfluss darauf, in welchem Maße und in welcher Weise sich die subjektiven Fähigkeiten der Kinder überhaupt entwickeln. Auch die Fähigkeit, die eigenen Interessen zu erkennen und ihnen gemäß das Wahlrecht auszuüben, kann sich nur in dem Maße entwickeln, wie junge Menschen Handlungserfahrungen haben und sich ihrer Selbstverantwortung und der Mitverantwortung für andere bewusst werden.
Ein Mangel der Debatte um das Wahlrecht von Kindern, auf den Wall zu Recht hinweist, besteht bisher darin, dass sie sich weitgehend um die Frage dreht, bis zu welchem Alter das Wahlrecht abgesenkt werden soll. Doch es sollte nicht nur gefragt werden, ob wir als Erwachsene Kindern das Wahlrecht gewähren, oder gar, ab welchem Alter wir es ihnen gewähren wollen, sondern was wir tun können, um junge Menschen zu gewinnen, sich an demokratischer Politik und politischen Entscheidungen zu beteiligen. Dies läuft auf die Frage hinaus, wie eine kinder- und generationengerechte Demokratie beschaffen sein müsste. Dazu gehört auch, darüber nachzudenken und Formen der Repräsentation zu finden, die es wahrscheinlicher machen, dass auch die Interessen zukünftiger Generationen bei politischen Entscheidungen beachtet werden und wir somit der intergenerationalen Gerechtigkeit ein Stück weit näher kommen.
Fazit
Im Buch von John Wall finden sich starke Argumente, warum Kindern das allgemeine Wahlrecht zuerkannt werden muss, ohne ein Mindestalter festzulegen. Sein Vorschlag, bei jungen Kindern das Wahlrecht treuhänderisch durch ihre Eltern auszuüben, berücksichtigt nicht genügend die ungleiche Macht und die verschiedenen Interessen von Erwachsenen und Kindern. Aber das Buch ist so geschrieben, dass es den Leser*innen leicht macht, die verschiedenen Vorschläge für das Wahlrecht von Kindern miteinander abzuwägen und zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Es ist auch ein kreativer Beitrag, um dem noch immer vorherrschenden Adultismus in den heutigen Gesellschaften entgegenzuwirken.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Dipl. Soz.-Päd. Philip Meade
Dipl. Soz.-Päd., Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Zitiervorschlag
Manfred Liebel, Philip Meade. Rezension vom 11.04.2022 zu:
John Wall: Give Children the Vote. On Democratizing Democracy. Bloomsbury
(New York, NY 10018) 2021.
ISBN 978-1-350-19626-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29109.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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