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Timo Storck, Timo Storck (Hrsg.): Deutung

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 21.04.2022

Cover Timo Storck, Timo Storck (Hrsg.): Deutung ISBN 978-3-17-041210-1

Timo Storck, Timo Storck (Hrsg.): Deutung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 186 Seiten. ISBN 978-3-17-041210-1. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Reihe: Grundelemente psychodynamischen Denkens - 8.

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Thema

Seine achtbändige Einführung „Grundelemente psychodynamischen Denkens“ beschließt Timo Storck mit „Deutung“. Dieser Text, der durchaus für sich allein gelesen werden könnte, stellt zugleich den Abschluss der kritischen Einführung in den aktuellen psychoanalytischen Diskurs dar. Das Werk Freuds bildet Ausgangs- und zugleich kontinuierlichen Bezugspunkt der Diskussion. Storck will offenbar Freud nicht nur auslegen, sondern darüber hinaus kritisch interpretieren unter dem Motto „mit Freud gegen Freud“, was wohl am ehesten als historisch-kritischer Zugang verstanden werden kann. Somit wird das Verhaftetsein Freuds in der Denktradition des 19. Jahrhunderts offengelegt und teilweise dekonstruiert. An die Stelle eines naturwissenschaftlichen Blicks treten Konstruktivismus, Sprachphilosophie und moderne Hermeneutik. Deutlich wird dabei, dass Freuds Texte diese Dekonstruktion nicht nur gut vertragen, sondern seine Ideen in moderner ideengeschichtlicher Lesart neu überzeugen können.

Autor

Timo Storck (*1980) ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie (Schwerpunkt Tiefenpsychologie) an der Psychologischen Hochschule Berlin. Er hat in Bremen Psychologie, Religionswissenschaft und Philosophie studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bremen, Kassel und Wien. 2010 legte er eine Dissertation zu künstlerischen Arbeitsprozessen an der Universität Bremen vor; 2015 habilitierte er sich mit einer Arbeit zum Verstehen von Teamprozessen in der teilstationären psychosomatischen Therapie an der Universität Kassel. Er ist Psychoanalytiker der IPV und psychologischer Psychotherapeut. Storck hat mehrere Bücher und zahlreiche weitere Texte publiziert; einer seiner Schwerpunkte ist die psychoanalytische Filminterpretation. Neben seiner Produktivität als Autor ist Storck auch Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften bzw. Buchreihen.

Entstehungshintergrund

Unmittelbar nach seiner Berufung nach Berlin stellte Timo Storck in einer öffentlichen Vorlesung die Grundkonzepte psychodynamischen Denkens dar. Im Wintersemester 2016/17 begann er mit „Trieb“, im Sommersemester 2020 endete er mit „Deutung“. In dieser Zeit handelt er gewissermaßen den konzeptuellen Rahmen des gesamten psychoanalytischen Denkens ab, von der unbewussten Symptombildung als Bewältigungsversuch des Eindringens eines Triebimpulses ins Bewusstsein bis zur Deutung als Metapher für die Integration aller Strebungen der Person in ihr Selbst. In 40 Veranstaltungen vernetzt er zudem die Grundkonzepte psychodynamischen Denkens immer wieder mit aktuellen Lesarten innerhalb des Psychodynamischen Diskurses und erfüllt den Anspruch, konzeptuelle Kritik, klinische Praxis und wissenschaftlichen Transfer zu verbinden.

Inhalt

Band 8 untersucht das Konzept Deutung bzw., wenn auch stark differenziert und weiterentwickelt, die psychoanalytische Intervention schlechthin. Der Band läuft auf die Formulierung folgender Thesen hinaus:

  1. Deutung als psychoanalytische Spezifität richtet sich auf dynamisch unbewusste Aspekte des Erlebens.
  2. Im Besonderen bezieht sich die klassische psychoanalytische Deutung auf Widerstände (gegen das analytische Arbeiten), vor allem darauf, wie diese sich in der Übertragung zeigen.
  3. Eine veränderungswirksame Deutung ist eine, die an einem „Dringlichkeitspunkt“ gegeben wird und die passende „Dosis“ aufweist (=Affektbezug).
  4. Die psychoanalytische Theorie unbewusster Bedeutungen hat damit zu tun, dass es bedeutsam ist, welche Vorstellungen (und Affekte) miteinander in Verbindung stehen.
  5. Deutungshypothesen werden auf der Grundlage des szenischen Verstehens gebildet.
  6. Neben klassischen Deutungsformen (oft genetisch und patientenzentriert, eher inhaltsbezogen) lassen sich andere Formen beschreiben: ungesättigte Deutung, Prozessdeutung, analytikerzentrierte Deutung u.a.
  7. Die psychoanalytische Theorie der Veränderung und damit auch die Theorie der Technik (besonders die Deutung) weisen unterschiedliche Aspekte auf (Einsicht, Beziehungserfahrung, Formbildung); diese stehen je nach PatientIn in unterschiedlichem Verhältnis (Behandlungsziele, strukturelle Faktoren).
  8. Eine psychoanalytische Interpretation kultureller/​gesellschaftlicher Aspekte wird dann zur Deutung, wenn sie „veröffentlicht“ wird, d.h. wenn darauf geantwortet wird.
  9. Der Wert der psychoanalytischen Deutung bestimmt sich durch ihre Wirkung auf einen Prozess von Verstehen und Veränderung (S. 164 bis S. 167).

Deutung ist lange als zentrale Intervention des Analytikers betrachtet worden. Es ist also vor allem ein klinisches Konzept, bei der sich die im Inneren der Therapeutin formierende Interpretation dosiert an die Patientin weitergegeben wird. Seit der Überwindung der Stagnation der Psychoanalyse (durch die Delegitimierung der Auffassungen der Ich-psychologischen Orthodoxie in den 70er Jahren) ist an Stelle des Richtig oder Falsch im Sinn der Eisslerschen Nominal- oder Standardtechnik ein methodischer Pluralismus entstanden (vgl. Wallerstein 2006).

Wir können heute von Kulturen der Psychoanalyse sprechen im Sinn zulässiger theoretischer oder praktischer Interpretationen im Rahmen einer bestimmten wissenschaftlichen oder therapeutischen Kultur (vgl. auch Perner 1997). Zwar hat im gleichen Zug auch die Bedeutung der empirischen Forschung zugenommen; deren Ergebnisse sind jedoch nur eingeschränkt auf den Gegenstand anwendbar, sodass teilweise absurde Effekte entstehen: Manche psychoanalytischen Diskurse schotten sich bewusst von den Ergebnissen der empirischen Forschung ab, andere betrachten die Ergebnisse der Nachbardisziplinen als hoch relevant (vgl. Kontroverse zwischen André Green und Daniel Stern, später Peter Fonagy [Zsfg. in Thomä/Kächele 2006]). Storck gibt einen nachvollziehbaren Überblick, indem er die Deutungspraktiken wieder aus diesem Kontext löst und in einem nachvollziehbaren Rahmen beschreibt. Ein Gelingen im Sinn der Theorieschulen muss hier offen bleiben; jedenfalls ist es anschaulich und vermittelt eine Vorstellung von den jeweiligen Problemverständnissen.

Der 8. Band unterscheidet sich von seinen Vorgängern durch den fast völligen Verzicht auf Kasuistiken in Gestalt von Filmszenen sowie durch seine sprachliche Dichte. An dieser Stelle wage ich zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der Vorlesungsteilnehmer*innen viel mehr verstanden haben als eine private Interpretation des Vorgetragenen, also auch eine Art Deutung. Selbst erfahrene Therapeut*innen haben häufig kaum Übersicht über die behandlungstechnischen Besonderheiten der benachbarten therapeutischen Community. Die Abhandlung derart komplexen Materials auf einem begrenzten Raum mobilisiert die intellektuellen Ressourcen und das Abstraktionsvermögen der LeserInnen. Es besteht aber auch die Gefahr sie zu verlieren. Insofern ist es sehr gut die Vorlesung jetzt als bearbeiteten Text lesen zu können.

Diskussion

Meine Begeisterung angesichts der ersten drei Bände der Reihe hat sich im wesentlichen erhalten, auch wenn sich in den letzten beiden Bänden ein paar sprachlich-stilistische Schludrigkeiten eingeschlichen haben (die wohl der Arbeitsbelastung mit Corona im Homeoffice geschuldet sind). Im Vergleich mit anderen Einführungstexten in die analytisch-psychodynamische Arbeit sind Timo Storcks Texte herausragend, weil eine schier ungeheure Textmenge nicht nur systematisch überblickt wird (das findet sich auch bei Wolfgang Mertens), sondern die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen auch aus relevanten Metaperspektiven untersucht und kritisch eingeordnet werden. Timo Storck tritt hier in die Fußstapfen von Otto Fenichel (1897-1946) als Enzyklopädist der Psychoanalyse, was umso bedeutungsvoller ist, als die Psychoanalyse kaum mehr an öffentlichen Hochschulen vertreten und in wissenschaftlichen Diskursen immer mehr marginalisiert wird.

Benutzerfreundlich und für didaktische Zwecke praktisch ist der Rückgriff auf Filmszenen zur Veranschaulichung gerade behandelter Themen; nebenbei machen sie auch Lust auf mehr und laden zu filmischen Exkursen ein.

Im letzten Band verzichtet Storck leider weitgehend auf diese Form der Kasuistik.

Fazit

Psychoanalyse/​psychodynamische Psychotherapie hat, anders als naturwissenschaftlich begründete Psychologie (bei der jeweils die neueste Auflage der aktuellen Lehrbücher den Stand des Wissens repräsentiert), eine kaum noch überschaubare Komplexität erreicht. Umso verdienstvoller sind Einführungen und Überblicksarbeiten, die die Komplexität auf ein überschaubares Maß reduzieren. Mit seiner Konzentration auf konzeptueller Kritik, klinischer Praxis und wissenschaftlichem Transfer leistet die achtbändige Einführung von Timo Storck genau das in hervorragender Weise. Interessent*innen an ausschließlich klinischen Fragestellungen sind auf einschlägige Werke verwiesen, die im aktuellen Verlagsangebot reichlich vorhanden sind.

Literatur

Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe.Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt a. M. und Basel: Stroemfeld/​Nexus

Eissler, Kurt (1953): The Effect of the Structure of the Ego on Psychoanalytic Technique, in: J. Amer. Psychoanal. Assn. 4, 104–143

Fenichel, Otto (1945):The Psychoanalytic Theory of Neurosis, 3 vol., New York: W. W. Norton (dt. hg. u. übers. v. Klaus Laermann: Psychoanalytische Neurosenlehre, 3 Bände, Olten: Walter-Verlag 1974ff

Lorenzer, Alfred (2002): Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, Stuttgart: Klett-Cotta

Mertens, Wolfgang (2010/11): Psychoanalytische Schulen im Gespräch. 3 Bd., Bern: Huber

Mitchel, Stephen A. (2003): Bindung und Beziehung, Gießen: Psychosozial

Thomä, H./H. Kächele (2006): Psychoanalytische Therapie, Bd. 1, Grundlagen, S. 55/56

Perner, Achim (1997): Nach 100 Jahren: Ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft? (S. 226–255) in:

Michels, André, Peter Müller, Achim Perner (Hg. 1997) Psychoanalyse nach 100 Jahren, München: Reinhard

Wallerstein, Robert S. (2006): Entwicklungslinien der Psychoanalyse seit Freud. Divergenzen und Konvergenzen einer Wissenschaft im steten Wandel, in Psyche 60. Jg., Heft 9/10 S. 798–828

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 43 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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ISSN 2190-9245