Michael Gehler, Oliver Dürkop (Hrsg.): Deutsche Einigung 1989
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.02.2022
Michael Gehler, Oliver Dürkop (Hrsg.): Deutsche Einigung 1989.
Lau-Verlag
(Reinbek) 2021.
1838 Seiten.
ISBN 978-3-95768-223-9.
D: 48,00 EUR,
A: 49,40 EUR.
Reihe: Olzog Edition.
„Wir sind das Volk!“ – „Wir sind ein Volk!“
„Wer hätte das gedacht…“ – mit diesem (un)glaublichen Ausruf beginnen viele Berichte über den unerwarteten Wiedervereinigungsprozess der Deutschen. Natürlich: Die Verfassungsväter und ‑Mütter haben in der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (vom 23. Mai 1949) zum Ausdruck gebracht: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. In der „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 7. Oktober 1949 (novelliert am 6. April 1968) wurde postuliert, „der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen“. Die Geschichte der beiden deutschen Staaten während ihrer rund 40-jährigen Trennungszeit wurde bestimmt von den grundlegend unterschiedlichen gesellschaftspolitischen und ideologischen Strukturen: hier die sozialen, kapitalistischen, individuellen, dort die sozialistischen, kommunistischen und kollektiven. Diese holzschnittartigen, verallgemeinernden Charakterisierungen wollen darauf verweisen, dass es verständlich und zwangsläufig ist, wenn die Menschen, die in den unterschiedlichen Systemen leben, auch alltäglich, gesellschaftlich und politisch (angepasst oder auch kritisch) verschieden denken und handeln. Soweit erst einmal einführende Gedanken zu einem gewichtigen, wichtigen geschichtlichen Werk, das in einer zehnjährigen Forschungsarbeit vom Zeitgeschichtler der Universitäten Hildesheim und Budapest, Jean Monnet Chair für Vergleichende Europäische Zeitgeschichte, Michael Gehler, und dem Journalisten Oliver Dürkop erarbeitet wurde.
Entstehungshintergrund
Geschichte als vergangenes Ereignis lässt sich zum einen nachvollziehen, erkennen und bewerten durch die Analyse von historischen Quellenmaterialien, zum anderen bei der „nahen Vergangenheit“ durch Erlebtes. In der „Oral History“ sind es noch lebende Zeitzeugen, die über ihre Eindrücke und Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen, Erfolge und Enttäuschungen erzählen können. Es sind wissenschaftliche, ethnografische, politik-historische und kultur-anthropologische Zugänge, die Fragen nach nationalen und globalen Identitäten aufkommen lassen. Zum Beispiel entwickeln sich bei den europäischen Einigungsprozessen neue Theorien und Praxen (siehe z.B.: Michael Gehler/Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9268.php). Nationales Bewusstsein basiert, wenn es nicht nationalistisches, ego-, ethnozentristisches und rassistisches ist, deshalb immer auf der interkulturellen Grundlage, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 unmissverständlich, universell gültig und nicht relativierbar zum Ausdruck kommt: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt.
Aufbau und Inhalt
Die umfangreiche Arbeit von Gehler und Dürkop stützt sich auf Kommunikationen, Dialoge und Befragungen von Zeitzeugen sowie darüber, wie sie den aktuellen Einigungsprozess der deutsch-deutschen Geschichte erlebt haben und werten. Die Herausgeber und Gesprächspartner legen dabei den Fokus auf die Ereignisse und Maßnahmen, wie sie sich bei den umbruchartigen Entwicklungen beim Mauerfall und der Grenzöffnung 1989/90 in der ehemaligen DDR und der BRD vollzogen haben (siehe dazu auch: Hendrik Berth, u.a., Hrsg., 30 Jahre ostdeutsche Transformation. Sozialwissenschaftliche Ergebnisse und Perspektiven der Sächsischen Längsschnittstudie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26730.php). In der Edition kommen 54 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus dem gesellschaftlichen und politischen Spektrum der östlichen und westlichen, deutschen Gebiete zu Wort. Es sind Diplomat*innen, Politiker*innen, Bürgerrechtler*innen, Minister*innen, Medienexpert*innen, Wissenschaftler*innen, Oppositionelle und Gewerkschafter.
Ein standardisierter Fragenkatalog bildete die Plattform: „Durch Quellenkritik, Klarstellungen und Nachfragen war es uns möglich, entsprechende Rückschlüsse zu ziehen und den Umstand Rechnung zu tragen, Abweichungen zu bemerken, Auffälligkeiten zu dokumentieren sowie Hinweise in Fußnoten zu weiterführender Forschungsliteratur zur Vertiefung anzugehen“ (S. 14). Dass die Liste von gewünschten und angedachten Gesprächspartner*innen nicht vollständig abgearbeitet werden konnte, hängt zum einen damit zusammen, dass einige von ihnen verstorben waren, zum anderen aber auch, dass sie für das Editionsprojekt nicht zur Verfügung standen bzw. ihre Zustimmung zur Veröffentlichung schlussendlich verweigerten. Das zeigt zwar Lücken in der Dokumentation auf, mindert jedoch nicht die Bedeutung und Aussagekraft. Der Anspruch, Zeitzeugen-Dokumente vorzulegen, die den andauernden Prozess „von der Einigung zur Einheit“ verdeutlichen, wie dies Michael Gehler in der Einleitung zum Ausdruck bringt (S. 42), und Oliver Dürkop in der Systematisierung und Charakterisierung der Gesprächsanordnungen zu den jahrzehntelangen Bemühungen um „Wandel durch Annäherung“ (S. 40) verdeutlicht, ist hochgesteckt und wird erfüllt; nicht zuletzt dadurch, dass die Forschungsarbeit anerkennt und grundlegt, dass „eine reine deutsch-deutsche Betrachtung zu kurz greift“, vielmehr die europäischen und globalen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen berücksichtigt werden müssen (Helmut Müller-Enbergs, S. 127f). Mit Colin Munro konnte ein britischer Diplomat als ehemaliger zweiter Missionschef des Vereinigten Königreichs in Berlin-Ost (1987-1990) sowie mit Friedrich Bauer der erste österreichische Botschafter in der DDR (1973-1977) und von 1986 bis 1990 Botschafter in Bonn als Zeitzeugen gewonnen werden.
Die Zeitzeugen-Edition wird in 13 Kapitel gegliedert: Im ersten werden „Akteure des Übergangs zwischen Erhalt, Reform und Transformation der DDR“ vorgestellt (Egon Krenz, Hans Modrow, Lothar de Maizière, Gregor Gysi, Günther Krause). Im zweiten geht es um „DDR-Bürgerrechtler und Mitgestalter der deutschen Einheit“ (Markus Meckel, Friedrich Schorlemmer, Richard Schröder, Wolfgang Thierse). Im dritten werden Akteure aus „Banken, Finanzen, Wirtschaft, Industrie und Treuhand“ (Burkhard Berndt, Klaus Blessing, Manfred Domagk, Walter Hirche, Hans-Joachim Lauck, Walter Siegert (+), Peer Steinbrück, Hans Reckers, Hans Tietmeyer (+), Theo Waigel) präsentiert. Im vierten kommen „Minister und Politiker in verschiedenen Bereichen“ zu Wort (Egon Bahr (+), Norbert Blüm (+), Bernhard Brinkmann, Wolfgang Gerhardt, Christian Schwarz-Schilling, Rudolf Seiters, Hans Watzek). Im fünften werden Interviews mit „Ober- und Regierende Bürgermeister mit grenzüberschreitender Stadtpolitik: Dresden – Berlin – Hannover“ geführt (Wolfgang Berghofer, Eberhard Diepgen, Walter Momper, Herbert Schmalstieg). Im sechsten sind es „Berater, Diplomaten und Entscheidungsträger“, die ihre Erfahrungen mitteilen (Friedrich Bauer, Joachim Bitterlich, Hans Otto Bräutigam, Colin Munro, Horst Teltschik). Im siebten Kapitel werden Akteure zur „Innere(n) und äußere(n) Sicherheit: Abrüstung, Verteidigung und Spionage“ befragt (Peter-Michael Diestel, Theodor Hoffmann (+), Rainer Eppelmann, Werner Großmann, Eckhard Steinfurth, Ralf Thiele). Im achten werden Vertreter aus „Kulturpolitik, Kommunikation und Medienvertreter“ interviewt (Klaus Höpcke, Jürgen Engert (+), Fritz Pleitgen, Günter Schabowski (+), Klaus Taubert (+)). Im neunten reden die beiden „Gewerkschaftsfunktionäre“ (Hermann Rappe, Michael Sommer). Im zehnten teilen „Frauen in der DDR“ ihre eigenen Erfahrungen mit (Ingrid Kuschel, Sabine Bergmann-Pohl, Vera Lengsfeld). Im elften sind es Historiker, die ihre Einschätzungen über Fragen zur „Einigung aus der Berliner Erfahrung und das Urteil des Historikers mit zukünftiger Forschungsperspektive“ artikulieren (Eckart Stratenschulte, Helmut Müller-Enbergs). Im zwölften Kapitel schließlich zieht Michael Gehler ein Fazit über die „Befunde und Thesen zu einer gebrochenen Erlebnisgeneration und geteilten Erinnerungsgeschichte“. Die Kapitel III, VII und XI werden mit (SW-)Bildaufnahmen von politischen Akteuren und Zeitzeugen illustriert. Im Anhang (XIII) hilft ein Abkürzungsverzeichnis bei der Lektüre des Werks, eine Auswahl von bibliografischen Hinweisen bietet eine Weiterarbeit an, und mit dem Personenverzeichnis kann die Zeitzeugen-Edition auch als Nachschlagewerk genutzt werden.
„Das Gesicht des heutigen Europa ist durch die friedliche Revolution überhaupt erst möglich geworden“ – diese Überzeugung stammt von Vera Lengsfeld, die als „Abweichlerin“ und Oppositionelle im DDR-Staat Anteil daran hatte, dass die „Wende“ (Egon Krenz) sich vollziehen konnte. Es sind die politischen und empathischen Fähigkeiten, „das Eigene kritisch zu hinterfragen“ (Eckart Stratenschulte), die es möglich machen, selbst zu denken und demokratisch und human zu entscheiden. Die mit der Methode der Oral History ermittelten Erkenntnisse, Erlebnisse und Erfahrungen der Zeitzeugen, ergänzt durch zugängliche Quellenmaterialien aus Archiven und privaten Vor- und Nachlässen, ermöglichen eine Bestandsaufnahme des sich vollzogenen Einigungsprozesses, wie auch eine über die gegenwärtigen Entwicklungsverläufe hinausreichende, thesenhafte, motivierende Zukunftsbetrachtung (Michael Gehler):
- Die Meinungen, Auffassungen und Zielsetzungen der beteiligten Zeitzeugen unterschieden sich bei der Beurteilung von zentralen Fragen der deutsch-deutschen Entwicklung 1989/90 vielfach voneinander. Die Unterschiede sind deshalb nicht nur historischer Fakt, sondern auch bedeutsam für die demokratische, nationale und internationale Weiterentwicklung einer deutschen Identität!
- Die Begriffsbenutzung „Wende“ (eher im Vokabular in den neuen Bundesländern zu finden) und „Wiedervereinigung“ (von den westdeutschen Zeitzeugen verwendet) verdeutlicht die Notwendigkeit der Konkretisierung und Gleichgewichtung des Einigungsprozesses!
- Die Begründungen des Scheiterns der DDR als Unrechtsstaat, als ökonomische Irrung und als menschenrechtswidriges Regime, vor allem durch die Zeitzeugen des Ostens, sind ambivalent!
- Die Verdienste der ostdeutschen Bürgerrechtler*innen werden im dialogischen Prozess der deutschen Einigung vonseiten der Westdeutschen nicht adäquat gewürdigt!
- Mit dem diskriminierenden, hierarchischen Begriff des „Anschlusses“ werden Über- und Unterordnungsverhältnisse suggeriert, die es zu überwinden gilt!
- Die unterschiedlichen alltäglichen Konsum- und Versorgungserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger in den beiden deutschen Staaten werden in den Geschichts- und Mentalitätsanalysen nicht hinreichend berücksichtigt!
- Die Zeitzeugen werten auch die politischen Verläufe des Einigungsprozesses: Während die westdeutschen Akteure den konkreten Vollzug des Zusammenschlusses eher als „alternativlos“ betrachten, monieren die ostdeutschen Zeitzeugen ihn als „vertane Gelegenheit“!
- Die nach wie vor bestehenden wie auch die gefühlten Unterschiede bei den ökonomischen, technologischen, konsumtiven und kulturellen Entwicklungen in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern lassen sich nur dialogisch und auf Augenhöhe überwinden!
Diskussion
Die objektiven Anforderungen, die sich durch die individuelle und gesellschaftliche Vielfalt der zu Wort kommenden Interpreten ergeben, vermitteln einen hohen, intellektuellen, historischen und wissenschaftlichen Anspruch der Herausgeber und der beteiligten Zeitzeugen. Die notwendigen, bis heute nicht eindeutig – und auch nicht gleichgewichtig – beantworteten Fragen nach den Verdiensten, den qualitativen und quantitativen Aktivitäten der ost- und westdeutschen Akteure beim Wiedervereinigungsprozess lassen sich exemplarisch in der Äußerung von Egon Krenz nachvollziehen: „Ich habe den 9. November bis 0.30 Uhr in meinem Büro verbracht. Ich hatte in der Nacht, das sage ich ehrlich, Angst. Stellt Euch mal vor, es wäre in dieser emotionsgeladenen Zeit auch nur einer zu Tode getrampelt worden, das wäre schrecklich gewesen. Während die Politiker in West-Berlin meinten, sie feierten ein Volksfest, mussten wir im Osten ganz schön rackern, damit die Sache vernünftig läuft“. Es ist weder „Ostalgie“ angesagt, noch „kapitalistischer Triumph“ angebracht. Es kommt vielmehr darauf an, Fakten und Wirklichkeiten zusammen zu bringen, Wünsche, Hoffnungen, nationale Sehnsüchte, lokale und globale Visionen für humane, freie und demokratische Identitäten zu entwickeln und zu leben: Als EIN VOLK im Kosmos der anthropologischen Vielfalten in der Welt. Gegen die allzu lauthals demonstrierten, rechtsradikalen, nationalistischen, faschistischen und populistischen Parolen und Kakofonien gibt es nur ein Mittel: Bildung und Aufklärung.
Fazit
Die Zeitzeugen-Dokumentation „Deutsche Einigung“ ist mehr als eine fleißige Bestandsaufnahme der Befindlichkeiten von ausgewählten Zeitzeugen; es ist eine Forschungsarbeit von Format! Das Vorhaben, 54 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Ost- und Westdeutschland zu Wort kommen zu lassen, stellt eine wichtige, weiterführende zeitgeschichtliche wissenschaftliche Initiative dar. Das Buch als Dokument, Nachschlagewerk und Archiv sollte in den öffentlichen und Fachbibliotheken zu finden sein!
Es kann angenommen werden, dass kundige Leserinnen und Leser die Auswahl der Zeitzeugen durch die Herausgeber kritisieren: Warum Der/Die – Warum nicht auch …? Wenn Zeitzeugendokumente aber exemplarische, allgemeingültige Aussagen treffen sollen, bleibt es nicht aus, eine Auslese zu treffen. Diese haben die Herausgeber objektiv und verantwortungsbewusst vorgenommen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.02.2022 zu:
Michael Gehler, Oliver Dürkop (Hrsg.): Deutsche Einigung 1989. Lau-Verlag
(Reinbek) 2021.
ISBN 978-3-95768-223-9.
Reihe: Olzog Edition.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29114.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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