Thorsten Stoy, Beatrix-Patrizia Tolle: Unterstützte Entscheidungsfindung in sozialen Berufen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 23.06.2023

Thorsten Stoy, Beatrix-Patrizia Tolle: Unterstützte Entscheidungsfindung in sozialen Berufen. Theorie und Praxis. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2022. 160 Seiten. ISBN 978-3-8252-5849-8. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 32,50 sFr.
Thema
Zur Sicherstellung von Gesundheit und sozialer Teilhabe müssen Menschen ständig Entscheidungen treffen, mit der Einführung der UN-BRK rücken nun auch vermehrt Menschen mit Behinderung in den Fokus. Wenn dieser Personenkreis dabei die Hilfe einer Fachkraft benötigt, spricht man von „Unterstützter Entscheidungsfindung“. Das Buch befasst sich mit der Fragestellung, wie es gelingen kann, dass dem Willen des betroffenen Menschen entsprochen wird, so wie es das Teilhaberecht und das neue Betreuungsrecht fordern. Ausschlaggebend sind die Wünsche und die Präferenzen der begleiteten Person. Aufgabe der Fachkraft ist, die Entscheidungsfindung zu erleichtern, indem der Möglichkeitsraum erweitert wird und isolierende Bedingungen abgebaut werden. Mittel der Wahl ist der Dialog, in dem gemeinsam herauszufinden ist, welche Entscheidung am besten zu den persönlichen Bedürfnissen und Motiven der Zielgruppe passt.
AutorInnen
Beatrix-Patrizia Tolle ist Diplom-Behindertenpädagogin und Krankenschwester. Sie lehrt an der Frankfurt University of Applied Sciences in den Studiengängen der Pflege und Sozialen Arbeit.
Thorsten Stoy arbeitet an der Frankfurt University of Applied Sciences im Studiengang Soziale Arbeit (B.Sc.). Er beschäftigt sich mit der Entwicklung von Qualitätsstandards für die rechtliche Betreuung.
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.
Das Buch ist im Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 144 Seiten, die sich in vier Kapitel und zahlreiche Unterkapitel gliedern, leider nicht durchnummeriert. Die einzelnen Kapitel beginnen mit Zitaten von z.B. Lewin oder Kant und enden jeweils mit Fragen zur Reflexion und einer Zusammenfassung. Der Fließtext ist gut strukturiert und hebt besondere Aussagen hervor. Am oberen linken Seitenrand ist die jeweilige Kapitelüberschrift abgedruckt, rechts die Abschnittsüberschrift. Die Aussagen sind durch zahlreiche Erfahrungsberichte untermauert. Ein Literaturverzeichnis liegt vor, ein Stichwortverzeichnis leider nicht.
Die kurze Einleitung trägt die Überschrift „Da müssen wir erst mal Ihren Betreuer fragen!“ und bildet den Ausgangspunkt zum Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“, welches das erste Kapitel bildet. Eine maßgebliche Rolle spielen sozialpolitische Entwicklungen sowie Änderungen relevanter Gesetze und deren Auswirkungen, die den Rahmen für Unterstützungs- und Assistenzleistungen stellen. Insgesamt erhalten Menschen mit Behinderungen mehr Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmung. Daraus leitet sich die Pflicht nach Unterstützung und Schutz ab (Artikel 12 der UN-BRK). Beide Prinzipien (Unterstützung und Schutzprinzip) müssen zum Tragen kommen, eine Tabelle auf S. 17 erklärt Zusammenhänge. Adressaten sind sowohl die rechtliche Betreuung als auch die Eingliederungshilfe. Das Autorenteam unterscheidet die Leistungsformen: bei der rechtlichen Betreuung wird der Begriff „Unterstützungsleistung“ verwendet, bei Leistungen der Eingliederungshilfe der Begriff „Assistenzleistung“. Zentral sind auch die Begriffe Recht, Wille, und Präferenz, diese sind in allen Leistungen zu beachten. Nach diesen Grundlagen wird das Begriffsspektrum „Entscheidung“ anhand von Beispielszenarien näher ausgeführt: Szenario 1: Unentschiedene Entscheidungsfrage Szenario 2: Entschiedene Entscheidung Szenario 3: Selbstbestimmte Fremdbestimmung
Im Abschnitt zum Schutz vor missbräuchlicher Einflussnahme ist folgendes Resümee zu finden: „Ohne eine inhaltliche konzeptionelle Verankerung von Schutz und Sicherung ist die Reflexion von Haltung, Ansichten und praktischem Vorgehen rahmen- und substanzlos“ (S. 26).
Bei der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ handelt es sich um einen Prozess, den es zu verstehen gilt und der reflektiert werden muss, um handlungsleitend zu sein. Eine Abbildung auf S. 32–33 zeigt, wie sich Entscheidungsprozesse gemäß der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ auszeichnen, der Weg geht weg von der Ohnmacht hin zur Macht der Klient:innen.
Methodische Grundlage der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ ist das dialektische Denken, welches auf z.B. auf Basaglia oder Jantzen zurückgeht. Das dialektische Denken löst sich vom Denken in linearen Ketten (wie z.B. beim Ursache-Wirkungsmodell) hin zu dem Versuch, die Wirklichkeit im sog. „Dreiecks-Sprung“ zu erfassen, was bedeutet, dass bei jedem Phänomen auch der Gegenpol mit einbezogen wird. Bei der These der sog. „Ersetzenden Entscheidung“ mit der Verengung von Möglichkeitsräumen und isolierende Bedingungen wird die Antithese der “Unterstützten Entscheidungsfindung“ einbezogen. Durch diese Konfrontation beider entgegengesetzter Pole ergibt sich etwas Neues, die Synthese, etwa die Selbstbestimmung, die dann wieder Ansatzpunkt für einen neuen Widerspruch ergibt.
Die „Unterstützte Entscheidungsfindung“ kann eine Erweiterung von Möglichkeitsräumen darstellen, da sie über den Tellerrand blickt und Lebensperspektiven und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet. Sie unterstützt den Abbau isolierender Bedingungen, eröffnet Teilhabe und Selbstbestimmung. In diesen Zusammenhang geht das Autorenteam auch auf den Aspekt des Paternalismus ein.
Das Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ nutzt Dialog und Kooperation und öffnet das „Feld der Macht“ (S. 62). Gemeint ist, Entscheidungen nicht über den Kopf von anderen zu treffen. In diesem Zusammenhang werden auf die Dynamiken wie Unterforderung, Überforderung und Double-Bind hingewiesen. Ziel des Prozesses der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ ist die Anerkennung für jeden Menschen, die Erweiterung von Möglichkeitsräumen, bei dem der Dialog zentrales Mittel der Verständigung zwischen den Beteiligten im Hier und Jetzt ist. „Unterstützung in Entscheidungsfindung bedeutet damit auch isolierende-deprivierende Bedingungen, die den Möglichkeits- und Entscheidungsraum eines Menschen verengen, abzubauen“ (S. 64). Dieses Konzept will nicht nur Handlungsoptionen aufzeigen, ein wichtiges und entscheidendes Merkmal ist das erkenntnisgeleitete und reflektierte Handeln. Jedes Kapitel endet mit Fragen zur Reflexion z.B. im Rahmen einer Supervision, um in diesen dialektischen Prozess einzusteigen.
Im Kapitel der Weg vom Bedürfnis zum Zielmotiv und die Bedeutung der Selbstreflexion werden Aspekte der Emotionalität von Entscheidungsprozessen reflektiert. „Unterstützte Entscheidungsfindung“ ist ein sinngebender Prozess, bei dem Bedürfnis, Handlung und Wille näher besprochen werden. Im ersten Abschnitt werden Bedürfnis, Emotion, Tätigkeit und Motiv in der Entscheidungsfindung reflektiert, im zweiten Abschnitt Handlung, Ziel, Präferenz und Sinn in Entscheidungsfindungsprozessen, dabei auch eine (blockierte) Sicht auf einzelne Facetten des Bedürfnisses und im dritten Abschnitt der Wille auf dem Weg vom Bedürfnis zum Zielmotiv.
Alle Aspekte werden durch konkrete Fallbeispiele konkretisiert, das macht die Ausführungen verständlicher.
Dialog, Reziprozität und Resonanz im intersubjektiven Prozess sind grundlegende Mittel dieses Konzeptes der „Unterstützten Entscheidungsfindung“. Vertieft werden das Arbeiten mit Wenn-Dann-Hypothesen und ihre Wirkung im intersubjektiven Prozess und der Bedeutung der Reflexion des Beobachterstandpunkts. Das Autorenteam weist darauf hin, dass Mitarbeitende sich dem eigenen Machtgefälle bewusst sein müssen. Das dialogische Arbeiten erschließt Möglichkeitsräume und eine entsprechende Haltung in diesem Sinn stellt eine unverzichtbare Basis für die praktische Umsetzung von Selbstbestimmung und Autonomie der Menschen mit Behinderung dar.
Die eigene, persönliche und professionelle Haltung ermöglicht oder verhindert die Umsetzung einer unterstützten Entscheidungsfindung als Abbild von Selbstbestimmung und Autonomie. Diese Haltung gilt es zu entwickeln und zu fördern, denn dieses Denken und Vorgehen gehört nicht zu den alltäglichen Lebenserfahrungen.
Das Buch schließt mit dem Kapitel zu rechtlich relevanten Begriffen im Kontext des Konzeptes der „Unterstützter Entscheidungsfindung“ (S. 100–129). Erläutert werden die Begriffe „Rechtssubjekt“, „Rechts-“ und „Handlungsfähigkeit“, struktureller Schutz der „Rechts-„und „Handlungsfähigkeit“. Weitere Ausführungen beleuchten die Begriffe von Wunsch und Wille, die Begriffe „natürlicher“ und „freier Wille“ und das Verhältnis der Begriffe „Wille“ und „Präferenz“. Eingehender wird auch der Begriff des Rechts im Innen- und Außenverhältnis, die Definition der Einwilligungsfähigkeit und die Definition der Geschäftsfähigkeit erläutert. Das Fazit dieses Kapitels lautet: „Jede Äußerung zu Rechtsgeschäften ist als interpretationsfähig anzusehen“.
Der Abschluss und Ausblick trägt den Titel „Redet mit mir“, diese Aussage findet sich auch im Titel des Projekts des Betreuungsgerichtstages (BTG e.V.). Das Projekt hat zum Ziel, dass Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen, dahingehend unterstützt werden, dass „ihre Anliegen im gesellschaftlichen und politischem Raum stärker wahrgenommen werden“ (S. 129).
Diskussion
Zur Sicherstellung von Gesundheit, Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe müssen Menschen ständig Entscheidungen treffen, mit der Einführung der UN-BRK rücken nun auch Menschen mit Behinderung in den Fokus. Das Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ hat zum Ziel, Handeln und Haltung von Praktiker:innen in Arbeitsfeldern in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen in den Blick zu nehmen, damit diese gewahrt werden und einen Rahmen für Unterstützungs- und Assistenzleistungen stellen. Das Konzept bietet den theoretischen Hintergrund und gibt Methoden an die Hand.
Das Buch befasst sich mit der Fragestellung, wie es gelingen kann, dass dem Willen des betroffenen Menschen entsprochen wird, so wie es das Teilhaberecht und das neue Betreuungsrecht fordern. Ausschlaggebend sind die Wünsche und die Präferenzen der begleiteten Person. Aufgabe der Fachkraft ist, die Entscheidungsfindung zu erleichtern, indem der Möglichkeitsraum erweitert wird und isolierende Bedingungen abgebaut werden. Mittel der Wahl ist der Dialog, in dem gemeinsam herauszufinden ist, welche Entscheidung am besten zu den persönlichen Bedürfnissen und Motiven der Fokusperson passt. Diese Anforderungen finden sich im vorgestellten Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“.
Aus dem Recht nach Teilhabe und Selbstbestimmung leitet sich die Pflicht nach Unterstützung und Schutz ab (Artikel 12 der UN-BRK). Beide Prinzipien (Unterstützung und Schutzprinzip) müssen zum Tragen kommen, eine Tabelle auf S. 17 erklärt Zusammenhänge. Adressaten sind sowohl die rechtliche Betreuung als auch die Eingliederungshilfe. Das Autorenteam unterscheidet die Leistungsformen: bei der rechtlichen Betreuung wird der Begriff „Unterstützungsleistung“ verwendet, bei Leistungen der Eingliederungshilfe der Begriff „Assistenzleistung“. Zentral sind auch die Begriffe Recht, Wille, und Präferenz, diese sind in allen Leistungen zu beachten.
Das Buch enthält zahlreiche Begriffsbestimmungen, das ist wichtig! Ob sich allerdings die Unterscheidung zwischen Unterstützungsleistung für die rechtliche Betreuung und Assistenzleistung im Alltag der Eingliederungshilfe durchsetzen kann ist abzuwarten.
Es geht kurz gesagt darum, Haltung und Handeln von der Fürsorge zur Unterstützung/​Assistenz zu verändern. Professionelle müssen in der Lage sein, Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen mit Behinderungen zuzulassen und diese nicht durch eigene Vorstellungen, Interessen und Ziele einzuengen.
Fazit
Das hier vorgelegte Buch vermittelt den theoretischen Rahmen, klärt Begrifflichkeiten und stellt das methodische Rüstzeug für das Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“. Zahlreiche Beispiele aus der Praxis zeigen auf, wie die Rechts- und Handlungsfähigkeit der begleiteten Menschen gestärkt werden kann. Besprochen werden auch Hemmnisse und Stolpersteine. Entscheidend ist die Haltung, die gesammelten Fragen am Ende der Kapitel regen zur notwendigen Reflexion des eigenen Handelns an.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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