Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.03.2022
Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Hanser Verlag (München) 2022. 240 Seiten. ISBN 978-3-446-27144-9. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
„Kreuzzug“ oder „Fliegender Teppich“?
Es sind die unendlichen, nicht definitiv zu beantwortenden Fragen: „Gibt es Gott?“, wie auch gleichzeitig die unbestimmte Behauptung: „Es gibt keinen Gott!“, die an die Urgründe des menschlichen Bewusstseins und Daseins reichen. Nicht per Ordre du Mufti, noch politisch darf festgelegt werden, ob der Mensch religiös glaubt oder nicht. Es ist das allgemeingültige, nicht relativierbare Menschenrecht der Glaubensfreiheit, wie es in Artikel 18 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 unmissverständlich postuliert wird: „Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit…“ (siehe dazu auch: Jos Schnurer, Gläubig, https://www.sozial.de/glaeubig.html vom 9. 11. 2019). Der Buchtitel ergibt sich aus einem überraschenden, nachdenklichen Bekenntnis des im elften Jahrhundert lebenden islamischen Mystikers Scheich Abu Said, der den verzweifelten Ausruf des Platzanweisers über die Überfüllung in der Moschee mit Gläubigen zum Anlass nahm, dessen Anweisung als seine Predigt zu nehmen.
Entstehungshintergrund und Autor
Wegen Glaubensfragen sind in der Menschheitsgeschichte immer wieder Konflikte entstanden, und es wurden deswegen Eroberungen, Unterwerfungen, Kriege geführt und „Ungläubige“ getötet (Guido Knopp, u.a., Der Heilige Krieg. Mohammed, die Kreuzritter und der 11. September, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14134.php). Die Religionsgemeinschaften haben, als Identifikationsmittel und Diktat, jeweils Glaubensbekenntnisse formuliert: „Ich glaube an die eine heilige katholische Kirche…“ – „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet“ – „Ich bekenne mich zur Einheit aller Buddhisten und begegne allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft mit Achtung und Offenheit…“. Wer die Postulate des religiösen Wortes nicht anerkennt und danach lebt, steht nicht nur außerhalb der Glaubensgemeinschaft, sondern auch außerhalb der religiösen Menschlichkeit. Kritik oder gar die Abwendung von der „einen, heiligen Glaubenslehre“ gilt als Ketzerei. Die Bestrafung mit dem Tode wird als religiöses Recht und Pflicht ausgewiesen. Erst zögerlich und widerständig setzt sich die menschenrechtliche Auffassung durch, und es entsteht ein interreligiöser Dialog (siehe z.B. dazu: Eugen-Biser-Stiftung/​Richard Heinzmann, Hrsg., Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, Bd. 1: Abendmahl – Kult, Bd. 2: Kultur – Zwölferschiieten, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16646.php).
Der Schriftsteller Navid Kermani schreibt sein erstes interkulturelles Kinderbuch über Fragen des Glaubens. Es sind die Herausforderungen, wie sie sich bei den personalen, familialen, generationalen und institutionellen Bildungs- und Erziehungsprozessen ergeben: „Lehre mich ich selbst zu sein!“ – und: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“.
Aufbau und Inhalt
Kermani zelebriert einen Dialog, ein Gespräch, eine Belehrung und Vermutungen darüber, was der Islam sein Glaube, den er in seinem Heimatland Iran, von seinen Eltern erworben und erfahren hat, für ihn heute ist – und wie er ihn an seine Nachkommen weitergeben kann. Es ist ein Versprechen, das er seinem Vater am Krankenbett gab, seinen Töchtern „den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den auch er als Kind in Isfahan erlebt hatte, den Islam unserer Vorfahren“. Es ist keine Glaubenslehre, sondern eine Glaubens-Erzählung, die gespickt ist mit Erfahrungen, Erlebnissen, Vermutungen, Hoffnungen und Zweifeln. Die handschriftlichen Überschriften der einzelnen Kapitel verdeutlichen die Gesprächsführung: „Die Unendlichkeit ringsum“ – „Und in uns selbst“ – „Ja, ich bezeuge es“ – „Eine Beziehungsangelegenheit“ – „Etwas Größeres als wir“ – „Schwarzes Licht“ – „Kurz und knapp“ – „Von Göttern zu Gott“ – „Gottes ist der Orient. Gottes ist der Okzident“ – „Der Schwanz, der wedelt“ – „Der, das oder doch die?“ – „Der dunkle Gott“ – „Wer zweifelt, der denkt“ -„Jeder Mensch, eine Kalifin“ – „Jesu Weisheit“ – „Wille und Erkenntnis“ – „Reblochon, Peccorino und Appenzeller“ – „Der Mittelpunkt der Welt“ – „Das Leben selbst“ – „Das große Vielleicht“.
Es ist „âyât“, dass interkulturell und interreligiös verbindet und den Schatz des Lebens auf der Erde darstellt. In einem Hadith qudsi heißt es von Gott: „Nichts, was existiert, steht nur für sich selbst“. Alles – die Natur ebenso wie die Zivilisation, die Kunst, die Liebe, die Nahrung, die Geschichte, das Gezwitscher der Vögel, die Mitmenschlichkeit und nicht zuletzt die Sexualität – alles auf der Welt ist zugleich ein „Zeichen“, wie wir es im Koran lesen können. Des Platzanweisers Hinweis an die Zuhörer – „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ – drückt ja aus, was Glauben ausmacht: Bereitschaft und Öffnung, Zuversicht, darauf einlassen, Hoffnung, Erwartung! Es kommt darauf an, die göttlichen Offenbarungen aus der Zeit heraus zu lesen, zu interpretieren und in der Jetztzeit mit Verstand anzuwenden: Das kann als „Bekenntnis“ erfolgen, – weil ich Christ, Muslim, Jude, Buddhist oder Hinduist bin – besser noch „Zeugnis“ sein, denn „Bezeugen beruht auf einer Beobachtung, die objektiv vielleicht irreführend, für dich selbst hingegen so eindeutig ist wie der Apfel, den du in der Hand hältst“. An Gott glauben kann ja bedeuten, ein gott- und menschengefälliges, identisches, wahres und humanes Leben als Individuum und Gemeinschaftslebewesen zu führen. Ein Gebet ist dann ein Gespräch mit Gott und der Welt, z.B. das „Vater unser“ der Christen oder die „Fatiha“ der Muslime:
Bismi Ilâhi r-rahmâni r-ahim = Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Al-Hamdu li-Ilâhi rabbi l-âlâmin = Gepriesen sei Gott, der Herr der Welten, Ar-Rahmâni r-rahîm = Der Erbarmer, der Barmherzige, Mâliki yaumi-d-dîn = Der König des Gerichtstags. Îyâka na-budu wa îyâka nasta în = Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an. Ihdinâ s-sirâta I-musaqîm = Führe uns den rechten Weg, Sirâta Iladhina an amta alaihim = Den Weg derer, über die du gnadest, Ghairi I-maghdûbi alaihim = Nicht derer, auf denen Zorn liegt, Wa-lâd-dâllîn = Und derer, die irregehen.
„As-salâmu alaykum wa-rahmatu Ilâh“ – das Gebet an Gott schließt ein und endet mit dem Friedenswunsch: „Friede sei mit euch und die Barmherzigkeit Gottes“. Der Wunsch ist Hoffnung, dass das Gute in die Welt kommt, und das Böse verschwindet. Die Frage, warum Gott in seiner Allmacht das Schlechte nicht ausmerzt, beantwortet sich in den Heiligen Schriften, die als Bibel, Thora, Koran, Veden, Tao-Te-King… vorliegen, und in denen Gottes-Vertrauen in die Menschlichkeit artikuliert wird. Denn Gott, das ist nicht der Thronende, Dirigierende, Befehlende und Herrschende, sondern „nur ein Wort, eine Abstraktion: Gott meint das Prinzip oder den Urgrund allen Lebens und damit aller Liebe, denn Leben besteht aus Liebe…“ (siehe dazu auch: Martha Craven Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17720.php). Vom „Koran“ zum „Westöstlichen Diwan“ – die Wege sind nicht weit und logisch. Denn die Erkenntnis, die wir bereits bei Goethe finden, dass du nicht unbedingt einer Religion angehören musst, um sie zu verstehen: „Gottes ist der Orient!/Gottes ist der Okzident!/Nord- und südliches Gelände/Ruht im Frieden seiner Hände“. Die 99 Namen Gottes, die Goethe aus Reimgründen zu100 machte, wollen ja nichts anderes ausdrücken als das Wissen, dass Gott unendlich viele Eigenschaften hat. Dem Menschen bleibt nichts anderes übrig, als daran zu glauben, und Hoffnung, Zuversicht und Gewissheit als Leiter zum Emporsteigen zu benutzen.
Diskussion
Wenn Großeltern, Eltern, Erzieher*innen, Vorbilder… mit Kindern über Fragen wie: „Wer bin ich?“ – „Wie werde ich sein?“ – „Wie bin ich geworden, wie ich bin?“ – philosophieren, kommt es darauf an, situations- und quellengenau zu argumentieren. Bei der Auslegung von „Heiligen Schriften“ ist es wichtig, darauf zu achten, woher die Quellen kommen. Im muslimischen, interreligiösen Diskurs wird die Koranauslegung kontrovers thematisiert. Kermani bezieht sich dabei auf Jack Miles‘ Buch: Gott im Koran (2019). Und es ist anzunehmen, dass er die vielfältigen Wortmeldungen einbezieht, wie sie z.B. Tahar Ben Jelloun mit „Papa, woher kommt der Hass?“ (2005), Lamya Kaddor mit der Koranauslegung für Kinder (2008), Katajun Amirpur mit der Aufforderung „Den Islam neu denken“ (2013), Mustafa Imad mit der Einordnung des politischen Islam (2013), Monika Tworuschka mit der Frage: „Der Islam, Feind oder Freund?“ (2019), Thomas Bauer mit der historischen Begründung tat, „Warum es kein islamisches Mittelalter gab“ (2020). Es ist bekannt und nicht ungewöhnlich, dass Philosophieren, Erklären, Erzählen, Interpretieren mit Kindern ein besonderes Ding ist (vgl. z.B. dazu: Barbara Brüning, Philosophieren mit Kindern, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18378.php). Es ist aber ein normaler und lohnender Akt im Bildungs- und Erziehungsprozess!
Fazit
Das erste Kinderbuch von Navid Kermani zu „Fragen nach Gott“ ist ein guter Wurf! Es sind „Warum?“- Fragen, wie sie in der kindlichen Entwicklung für die Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung wichtig und notwendig sind. Es sind Anregungen zum Selbstdenken. Und es sind Aufforderungen, nach Wahrheiten zu suchen. Dass dabei Glauben und Zweifeln hilfreiche Richtungsweiser sind, kommt in den Argumentationen und Quellenverweisen zum Ausdruck (siehe z.B. auch: Wolfram Malte Fues, Zweifel, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25265.php).
Die Gespräche Kermanis mit seinen Kindern über Allah, den Islam als Religion und dem Bekenntnis: Ich glaube! – sind nicht nur Eltern und Kindern der muslimischen Religion anempfohlen, sondern allen, die sich auf die Suche nach religiösen Glaubensgemeinschaft Gewissheiten und Halteseilen begeben, also auch für Christen, Juden, Buddhisten und Nihilisten. Goethe hat uns das vorgemacht. Sich mit dem Glaubensbekenntnis des Islam auseinanderzusetzen, kann ja nicht heißen, dass alle Muslime werden (sollen), sondern die Beschäftigung und Kenntnis des Offenbarung kann dazu beitragen, das eigene religiöse Denken zu prüfen und zu festigen. Es sind keine Rezepte und Handlungsanweisungen, sondern Anstöße zum Selbstdenken!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 04.03.2022 zu:
Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Hanser Verlag
(München) 2022.
ISBN 978-3-446-27144-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29121.php, Datum des Zugriffs 19.09.2024.
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