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Ehrenhard Skiera: Das eigenwillige Kind

Rezensiert von Prof.in Dr. Jennifer Hübner, 14.03.2025

Cover Ehrenhard Skiera: Das eigenwillige Kind ISBN 978-3-7799-6877-1

Ehrenhard Skiera: Das eigenwillige Kind – Bedürfnis und Erziehung in nachmythischer Zeit. Grundzüge einer responsiven Pädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 364 Seiten. ISBN 978-3-7799-6877-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Autor

Ehrenhard Skiera, emeritierter Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Flensburg, war bis 2012 Inhaber dieses Lehrstuhls. Seine akademische Laufbahn begann mit einer Promotion zur Jena-Plan-Bewegung in den Niederlanden an der Universität Gießen im Jahr 1981. Seit 2016 ist er Honorarprofessor an der Fakultät für Pädagogik und Psychologie der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.

Thema

In seinem Buch „Das eigenwillige Kind – Bedürfnis und Erziehung in nachmythischer Zeit. Grundzüge einer responsiven Pädagogik“ entwickelt Ehrenhard Skiera das Konzept einer responsiven Pädagogik. Für seine historische und theoretische Spurensuche unternimmt er eine literarisch ausgewählte Sequenzierung und arbeitet diese auf. Skiera macht dazu zu Beginn seiner Arbeit deutlich, dass der freie Wille aus seiner Sicht allgemein als Bedrohung wahrgenommen, sei es von autoritären Herrschenden oder demokratischen Repräsentant:innen (vgl. S. 16). Auf Widerstand wird daher mit normierenden Strukturen wie Anpassung, Gehorsam und Unterordnung unter dem Deckmantel sozialer Ordnung geantwortet (vgl. S. 15). Skiera argumentiert, dass der freie Wille einem erst im Widerstand bewusst wird – sowohl für den:diejenigen, der:die ihn behauptet, als auch für den:diejenigen, der:die ihn zu unterdrücken versucht (vgl. S. 17). Aus seiner Sicht kann Freiheit allerfings nicht vollständig unterbunden werden. So kann sich das Selbst nur in der Differenz zum:zur Anderen konstituieren und steht in einem Spannungsfeld zwischen dem Eigen- und Fremdwille (vgl. ebd.).

Mit dieser Grundlage stellt Skiera die pädagogische Frage nach dem Zwang in der Erziehung: Ist Erziehung ohne Zwang überhaupt möglich? Skiera kommt zu dem Schluss, dass das Soziale immer von bereits getroffenen Entscheidungen mitbestimmt ist und Konfliktsituationen pädagogische Autorität erfordern (vgl. S. 19). Skiera allerdings warnt vor blinder Anpassung und fordert, dass Erziehung den Eigenwillen des Kindes voranstellt. Das Handeln des Kindes sollte also nur insoweit eingeschränkt werden, dass der eigene Wille nicht gebrochen wird und weder es selbst noch andere gefährdet werden (vgl. S. 20). Erziehung mutiert auf diese Weise zu einer Art individueller Verantwortung: In jeder pädagogischen Situation muss eine Entscheidung getroffen werden, die sich keinem Lehrplan oder Skript entnehmen lässt. Oder anders gesagt: Jede dieser mikroskopischen Entscheidungen hinterlässt Spuren, setzt aber auch eine neue Geschichten in Gang, deren Ausgang stets offenbleibt (vgl. ebd).

Aufbau

Das Werk umfasst etwa 335 Seiten und ist in neun eigenständige Kapitel gegliedert. Skiera eröffnet das Buch mit dem Epilog Eigenwille, Normativität und pädagogische Verantwortung und schließt mit einem Reflexionskapitel zu Eigenwille und solidarisches Bewusstsein im Horizont von Mythos und Vernunft. Die restlichen Kapitel gliedern sich wie folgt:

  1. Einführung: Von der mythisch-dogmatisch bestimmten zur rational-pragmatisch begründeten Erziehung
  2. Homo resistens – Vom Ursprung der Erziehung in der Widerständigkeit des Kindes und deren sozio-dynamische Folgen 
  3. Erziehungs- und Schulleid in lebensnahen Zeugnissen der Geschichte und die antithetischen Bilder einer menschenfreundlichen Erziehung
  4. Erziehung in der Botmäßigkeit Gottes und anderer überzeitlicher Instanzen des Absoluten
  5. Erziehung, Dialog und Diskurs. Epistemologische und pragmatische Ansatzpunkte einer responsiven Erziehung und pädagogischen Ethik
  6. Theoretische Zugänge und Grundbegriffe einer responsiven Pädagogik
  7. Der Lebensanspruch des Kindes und die Antwort der pädagogischen Welt – Die seelischen Grundbedürfnisse und ihre Berücksichtigung in Erziehung, Unterricht und Schule 
  8. Über die emotionale Tiefendimension der Erziehung – Ansätze zur Integration tiefenpsychologisch orientierter Selbsterfahrung in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern
  9. Resümee: Über die Geburt und den Werdegang des „eigenwilligen Kindes“ und das Offene der Erziehung in nachmythischer Zeit

Inhalt

Im ersten Kapitel versucht der Autor, entsprechend der Überschrift, die Entwicklung der Erziehung nachzuzeichnen – von ihrem ursprünglich mythisch-dogmatischen Charakter hin zu einer pragmatisch begründeten Erziehung der Gegenwart. Dabei reflektiert er das Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen in Erziehungsprozessen und bezieht sich in seiner Abhandlung zum freien Willen des Kindes auf Erziehungswissenschaftler:innen wie Ellen Key und Jacques Derrida. Die „responsive Erziehung“ markiert Skiera als eine Antwort auf die Gefahr der Unterordnung und Anpassung des kindlichen Willens. Denn sie reflektiere „das Eigenrecht, die Würde und die Verletzlichkeit des Kindes“ und wirke so „einer pädagogischen Überwältigung des Eigenwillens“ entgegen (S. 26). Der Autor definiert den Begriff Mythos als „das Gesamt dessen […], was eine Gemeinschaft zur Klärung existenzieller Sinn- und sozialer Normfragen unter der Voraussetzung eines ‚geteilten Kosmos‘ aufbietet“ (S. 33) und betont die Verwobenheit und gegenseitige Sich-Befruchtung von mythisch-religiösem und rationalen Wissen (vgl. S. 36).

Die nachmythische Zeit versteht Skiera nicht als deskriptive, sondern als heuristische Figur (vgl. S. 37) und leitet daraus eine Notwendigkeit der Verständigung, Emanzipation und Reflexion ab (vgl. ebd.). Trotz seiner deutlichen Kritik an der traditionellen, gehorsamsorientierten Erziehung betont der Autor, dass Kinder ihr Gegenüber früher zumindest transparenter wahrgenommen haben als in der Gegenwartsgesellschaft. Während die heutige Pädagogik stärker auf Verständigung ausgerichtet sei, geschehe dies oft nicht mehr „mit offenem Visier“ (S. 44). Das Gegenüber sei für das Kind mitunter unsichtbar geworden und fordere es heraus, sich „im diffusen Soziotop einer prästabilierten Harmonie [zu] bewegen“ (ebd.). Diese Kritik erweitert er, indem Skiera davor warnt, das Kind als souveränen Könner und die Erziehungspersonen als bloße Dienende misszuverstehen (vgl. S. 46). Stattdessen plädiert er für eine Perspektive der Verantwortung: Auf diese Weise können Konflikte nicht als Störungen, sondern als produktive Elemente von Erziehungsprozessen begriffen werden (vgl. ebd.).

Das zweite Kapitel ist inhaltlich von der Widerständigkeit des Kindes geprägt. Skiera geht dazu sowohl auf ihren Ursprung als auch auf ihre sozio-dynamischen Folgen ein. Dazu bezeichnet er „Erziehung ohne Zwang“ als Illusion bzw. als den Traum einer „autoritätsmüden Erzieherschaft“ (S. 47), die aus seiner Sicht absolutistisch ist und nicht geben kann. Schließlich fragt Skiera danach, wo Freiheit in der Erziehung im Kontext von Zwang sichtbar wird, und weist darauf hin, dass es heute nicht mehr Gott ist, auf den sich (autoritäre) Erziehung bezieht, sondern die Vernunft. Beiden attestiert er ein „Moment des Unbedingten, das dem menschlichen Willen nicht ausgeliefert werden darf“ (S. 49). Skiera sensibilisiert dafür Macht nicht nur als äußeren Zwang erkennen und identifizieren zu können. So kann sie sich auch in (scheinbar) freien Entschlüssen zeigen (vgl. ebd.). Im Rekurs auf drei exemplarische (unterschiedliche) Erziehungsszenen arbeitet er dazu ein „nicht-mechanische Wechselspiel von Anpassung und Widerstand“ (S. 66) heraus und zeigt, dass trotz aller Planbarkeit von Erziehungsprozessen ein „nicht eliminierbares Moment der Freiheit“ bestehen bleibt, die aus seiner Sicht eine permanente Reflexion notwendig machen (vgl. ebd.).

In dem dritten Kapitel arbeitet Skiera die Geschichte von Erziehungs- und Schulorten bzw. -anstalten heraus und überlegt, wo und inwieweit Elemente der nachmythischen Erziehung sich als Perspektiven des Widerstandes historisch herleiten lassen. Er beginnt mit der „Rute“ als heute symbolisches Bild für schulische Zucht und Disziplinierung seit der Antike, über der Mittelalter bis in die Neuzeit (vgl. S. 69) und leitet dann über in Planton, der sich von den Praxen des Knechtens abwendete und das Spiel ins Zentrum pädagogischer Prozesse rückte (vgl. S. 70). Nach einem Ausflug zu Aurelius Augustinus (354-430 nach Christus) reflektiert er über die Entstehung einer menschenfreundlichen Schule und bezieht sich dabei auf Erasmus, der Indikatoren wie „mitmenschliches Lernklima“ oder ein „pädagogisches Verhältnis“ entwickelte (S. 75). Es folgt eine im Vergleich umfangreichere Abhandlung zu Johann Amos Comenius der „eine ganze Reihe von Prinzipien und Vorschlägen eines vernünftigen, das heißt eines dem Wirken der Natur und dem Wesen des Menschen gemäßen Unterrichts“ entwickelt hat (S. 79) und „Selbstsehen, Selbstsprechen, Selbsthandeln und Selbstanwenden“ (Komensky 1959, S. 110) in den Fokus stellte. Dabei versuchte dieser aus Sicht von Skiera das Kind stets als Menschen „im Ganzen“ zu sehen (vgl. S. 83). Ihn bezeichnet Skiera daher auch als Wegbereiter für die dann reformpädagogischen Strömungen im 18. und 19. Jahrhundert. Anschließend fasst der Autor die vorhergehenden Abschnitte kurz zusammen und widmet sich dann vor allem einem Ausblick, in dem seine Vorstellungen einer responsiven Pädagogik deutlich werden. Besonders hebt er dabei die Rolle der Bildung hervor: „Nachdem das bloße Einleben bzw. ‚Eingelebt-Werden‘ wegen des gesellschaftlichen Wandels, wegen der Pluralisierung der Lebensstile, wegen der Dynamisierung des Wissens nicht mehr gelingen kann, bleibt nur die Stärkung des Einzelnen, die Ausbildung seiner Lern- und Entscheidungsfähigkeit, die Stärkung seines Selbstwertgefühls als Grundlage der Selbstachtung, der Achtung des Fremden und der Verantwortungsfähigkeit. Das macht eine umfassende Selbst-Beteiligung und Mitbeteiligung am Prozess der Bildung erforderlich.“ (S. 86) Hier wird deutlich, dass der Autor Bildung nicht nur als Wissensvermittlung, sondern als einen aktiven Prozess der Selbstermächtigung und Partizipation versteht. Es folgt ein Exkurs zur schwarzen Pädagogik.

Das vierte Kapitel erstreckt sich über 86 Seiten und widmet sich der Frage, welchen Stellenwert Erziehung in Bezug auf überdauernde Instanzen des Absoluten – etwa die Gottbezogenheit oder andere transzendente Orientierungen – einnimmt. Skiera zeigt auf, dass das Absolute bis heute über eine Art Spiritualisierung des Göttlichen Eingang in das Politische gefunden hat (vgl. S. 101). Gleichzeitig stellt er die grundlegende Frage, ob und wie eine Pädagogik entwickelt werden kann, die ohne normative Bezugspunkte auskommt. Anhand einer entwicklungsbezogenen Perspektive greift er hierzu exemplarisch auf verschiedene historische Episoden zurück. Allerdings bleibt den Lesenden unklar, warum der Autor bestimmte Protagonist:innen, Konzepte und Denkströmungen besonders hervorhebt, während andere in ihrer Bedeutung eher zurückgestellt werden.

Der Abschnitt beginnt mit einer ausführlichen Abhandlung zur „Gewalttätigkeit Gottes und […] Gewaltförmigkeit der Erziehung“. Dazu unternimmt der Autor Exkurse ins Alte Testament. Den Kinderworten Jesu attestiert der Autor – im Rekurs auf den Theologen Andreas Michel – sogar einen „Durchbruch zu einem ‚kindgerechteren‘ Denken“ (S. 106). Später fragt er sich (S. 108): „Wie stark tangiert und definiert das Gott-Mensch-Verhältnis in anderen Religionen auch das ‚Eltern-Kind-‚ und das ‚Lehrer-Schüler-Verhältnis?‘“ Es folgen Bezugnahmen auf Otto Willmanns Konzept der „religiösen und sittlichen Bildung“ (S. 113) und Pico della Mirandola, der den Menschen als Wesen beschreibt, bei dem sich sogenannte Handlungsgesetze aus dem freien Willen selbst ergeben (S. 114). Willmanns Konzept vertieft Skiera, wobei er „Oben“ als Religion, Elternhaus oder Wohnliches versteht, während das „Unten“ von den konkreten sozialen und materiellen Bedingungen geprägt ist – insbesondere in Bezug auf Schutz, Pflege, Nahrung und Unterricht (S. 117). Es folgen Überlegungen zur klassischen, insbesondere dialektischen Bildungsformel von Theodor Litt, die Bildung als „Versöhnung und Vereinigung des Individuellen mit dem Allgemeinen“ begreift (S. 135). Darüber hinaus setzt sich Skiera mit Perspektiven der Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung auseinander, bevor er Perspektiven des pädagogischen Respekts, Wirkens und Gehorsamkeit bei Maria Montessori diskutiert und mit Rudolf Steiner abschließt.

Interessant sind Skieras Ausführungen zur Arbeit von Pawel Petrowitsch Blonski, der das Konzept einer „an der industriellen Arbeit orientierten und auf diese ausgerichteten Arbeitsschule“ entwickelte (S. 157) und Kinder als gewissermaßen kleine Industrialist:innen betrachtete (vgl. ebd., S. 158). Anschließend nimmt Skiera neurobiologische Perspektiven in den Blick. Für Montessori fungiert der kosmische Heilsplan (der „Bauplan“) als Substitut für Gott (S. 171), während Steiner ihn als „kosmischen Geist“ begreift. Kerschensteiner hingegen sieht darin einen „höheren Willen“, der als spiritualisierte Form des christlichen Gottes wirksam ist.

Montessori sieht den kosmischen Heilsplan (den „Bauplan“) aus Sicht des Autors als eine Art Substitut für Gott (S. 171), während Steiner ihn als „kosmischen Geist“ interpretiert. Kerschensteiner hingegen spricht von einem „höheren Willen“, der als spiritualisierte christliche Gottheit verstanden werden kann. Blonskij sieht aus Sicht von Skiera in dem Kommunismus/​Bolschewismus eine vollständige Abkehr von traditionellen Gottesvorstellungen. In seinem Fazit greift er die zuvor entwickelten Perspektiven erneut auf, führt jedoch plötzlich gänzlich neue Gedanken ein, was für einige Leser:innen irritierend seom kann. Skiera schließt mit reformpädagogischen Prämissen, die er am Ende des Kapitels durch konkrete Vorschläge untermauert.

Das fünfte Kapitel mit der Überschrift „Erziehung, Dialog und Diskurs“ untersucht erkenntnistheoretische sowie pragmatische Ansatzpunkte einer responsiven Erziehung, die mit pädagogisch-ethischen Perspektiven verwoben werden sollen. Skiera stellt dazu den normativen Ausgangspunkt einer „aufgeklärten Aufklärung“ voran – einer Aufklärung, die nicht mehr von mythologisch geprägtem Denken dominiert wird. Er versteht sie als eine „gemeinsame Anstrengung, die durch den Streit hindurch einen Konsens sucht und auf die (möglichst freiwillige) Respektierung der Werte im Handeln setzt“ (S. 183).

Ein zentrales Element seiner Argumentation ist die Auseinandersetzung mit einem „ethischen Algorithmus“. Hierbei bezieht er sich auf Annedore Prengel, deren ethische Vision er u.a. als „trügerisch“ kritisiert (S. 188), da es aus seiner Sicht immer diskursive Prozesse geben wird, in denen „wirkliche Entscheidungen“ notwendig sind. Solche Entscheidungen entziehen sich vorgegebenen Regeln und erfordern eine flexible Gestaltung – sei es demokratisch oder in anderer Form. Im Rahmen seiner Suche nach ethischen Fundierungen greift Skiera zudem die Bedeutung der Menschenrechtsbildung und der deliberativen Demokratie auf, der er – mit Exkursen zu Jürgen Habermas – vergleichsweise viel Raum widmet. Aus seiner Sicht lässt sich mit dieser Perspektive für das Absolute konstatieren: „Dadurch hat sich auch der Begriff der Wahrheit als der Inbegriff des Absoluten oder absolut Gültigen verändert, und zwar in Richtung einer möglichen Rationalität und Zustimmungsfähigkeit von normativen Aussagen.“ (S. 194) Diese veränderte Auffassung von Wahrheit beschreibt er später als eine „Wahrheit des Zwischens“, die sich sowohl dem „oben“ als auch dem „unten“ entzieht und stattdessen auf eigensinnige Weise als „kritische[s] Verfahren verflüssigten Absoluten“ wirkt (S. 196). Aus seiner Sicht sollte es dabei stets um eine „Überwindung nicht-legitimer Herrschaft und Herrschaftsformen in allen Bereichen der Lebenswelt.“ (S. 205)

Im sechsten Kapitel reflektiert der Autor über theoretische Zugänge und Grundbegriffe einer responsiven Pädagogik und stellt die Fragen nach Sinn und Sinnbildung an den Anfang. Dabei macht er deutlich, dass diese – im Rückgriff auf Odo Marquard und Karlheinz Stierle – zur Privatsache geworden sind (vgl. S. 208). Dies geschieht, so argumentiert er, paradoxerweise gerade in einer Zeit, in der das soziale und weltliche Geschehen zunehmend schnelllebig, diskursiv, komplex und oft widersprüchlich ist. Skiera betont, dass für die individuelle existentielle Sinnfindung und Identitätsbildung „die Orientierung an einer kleineren, überschaubaren Gruppe durchaus hilfreich“ sein kann (S. 214), da sie letztlich auch dem „großen Ganzen“ zugutekommen könne (ebd.). Ein zentrales sei die Anerkennung des Anderen sowie ein respektvoller Umgang miteinander (S. 215) und dabei die Urteilsfähigkeit – insbesondere die Fähigkeit, zwischen „wahr“ oder „richtig“ und „unwahr“ oder „falsch“ zu unterscheiden (S. 216).

Mit Blick auf das pädagogische Verhältnis führt Skiera die „freundliche Geste“ ein (S. 220) und beschreibt diese als eine Handlung, die aus empathischem Verständnis und Wohlwollen gegenüber dem Kind erwächst und als Anerkennung oder Wertschätzung seiner Person wahrgenommen werden kann. Er verknüpft damit die Forderung, das Kind als eigenständiges Gegenüber zu verstehen und zu respektieren (S. 220 f.). Der praktische Nutzen dieser theoretischen Auseinandersetzung mit dem freien Willen des Kindes liegt für Skiera darin, nicht nur das selbstbestimmte Lernen zu stärken, sondern auch verpflichtende Curricula an grundlegenden kindlichen Bedürfnissen auszurichten, die dem kindlichen Wollen zugrunde liegen (vgl. S. 225).

Die Vorstellung eines kosmisch verankerten kindlichen Willens (bspw. Montessori, Steiner) dient aus Sicht von Skiera häufig der anthropologischen Begründung pädagogischer Normen. Dabei besteht die Gefahr, dem Kind Bedürfnisse zuzuschreiben, die pädagogische Vorgaben als innere Motive lediglich umdeuten (vgl. S. 226). Für ihn ist aus einer bedürfnisorientierten Perspektive entscheidend, dass „der Eigenwille geachtet und um die Zustimmung des Kindes geworben wird“ (Seite). Anforderungen sollten daher „für das Kind erkennbar wirklich etwas mit ihm selbst und mit seiner Welt zu tun haben“ – sie müssen existenziell relevant sein, einem wichtigen Motiv oder Bedürfnis entsprechen (S. 229). Immer wieder kehrt Skiera zur Frage der Handlungsfähigkeit zurück und problematisiert Vorprägungen, die so stark sein können, dass sie den eigenen Willen ersetzen. Kommunikation sieht er als zentral an – insbesondere im Zusammenspiel von Beobachtung, Deutung, Aushandlung und Rückversicherung. Mit Donald Winnicott spitzt er für das erwachsene Gegenüber zu: keinerlei Ansprüche an das Kind“ zu stellen (S. 234). Ebenso betont er die Gefahr von Projektion und Zuschreibung für Fachkräfte (S. 241) und stellt dennoch die Frage: „Kann es eine Pädagogik auf der Basis prinzipieller Ungewissheit und personaler Intransparenz geben?“ (S. 244), die er gleichzeitig zu beantworten versucht: „Trotz und auch wegen seiner Fremdheit bin ich ihm in Fürsorge verbunden, d.h. in einem Bemühen, ihm gerecht zu werden – sofern und insoweit ich willens und in der Lage bin, diese Fürsorgepflicht zu erkennen und anzunehmen.“ (S. 244)

Im siebten Kapitel entwickelt Skiera Perspektiven auf verschiedene Grundbedürfnisse des Kindes und führt diese aus. Für das Bedürfnis nach Zugehörigkeit betont er, dass das Kind nicht einfach „verplant“ werden darf, sonders es eines „dynamischen Gleichgewichts“ (S. 288) bedarf, in dem das Kind nicht nur vorstrukturierte Angebote annimmt, sondern selbst entscheiden gestalten kann. Das Bedürfnis nach Anerkennung erfordert aus seiner Sicht eine reflexive Begleitung kindlicher Bedürfnisse (vgl. S. 290). Für Bedürfnis nach Spiel betont Skiera die Bedeutung von Spiel und Sprache als zentrale Explorationsmöglichkeiten, durch die Kinder nicht nur die Welt entdecken, sondern auch sich selbst und andere erfahren (vgl. S. 293). Für das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit greift er unter anderem auf Martin Buber zurück und argumentiert, dass Kinder nicht nur an Vorhandenem teilhaben, sondern auch selbst gestalten und Neues schaffen wollen (vgl. S. 296). Das Bedürfnis nach ästhetischer Wahrnehmung bleibt vergleichsweise abstrakt. Skiera endet mit dem Bedürfnis nach Spontanität und innerer und zeitlicher Freiheit des Kindes (vgl. S. 304).

Im achten Kapitel untersucht Skiera – im Rekurs auf verschiedene Ansätze – die Rolle des „emotionalen Selbst“ in der Ausbildung von Lehrer:innen, um dessen bislang unterschätzte Bedeutung stärker in den Fokus zu rücken (S. 313). Gleichzeitig attestiert er der Schule einen Mangel an verlässlicher Beziehungs- und Sorgearbeit, der zugunsten eines technisch-behavioristischen und instrumentellen Denkens zurückgedrängt wurde (S. 314) – ein Muster, dem das Schulsystem bis heute verhaftet ist. Dies wirkt sich aus seiner Sicht hinderlich auf die Bildung und Entwicklung einer „einschlägigen wissenschaftlichen Gemeinschaft“ aus (ebd.).

Im letzten Kapitel resümiert Skiera sein Werk, arbeitet zentrale Gedanken heraus und betont erneut, dass Fragilität und Widersprüche untrennbar mit dem Aufwachsen und Leben verbunden sind – und dass es gerade in diesen Ambivalenzen sowie ihren seelischen und sozialen Dynamiken liegt, dass sich Selbstbildung entfalten kann (vgl. S. 355). Schließlich fordert er, „jeglicher Mission zu entsagen, die den freien Willen des Kindes und des Menschen nicht achtet; ferner sind alle Maßnahmen und Maßgaben zu ächten, die sich gewalttätiger Mittel der Bekehrung bedienen“ (ebd.). Zwar plädiert er für eine gewisse Form nachmythischer Verbundenheit, jedoch nicht in einer Weise, die zur Fremdbestimmung führt (vgl. ebd. f.) und schon gar nicht dazu, sich anstelle dessen einer technokratischen und fortschrittsgläubigen Denkweise zu unterwerfen (vgl. S. 336). Stattdessen plädiert er dafür, die normgebende Instanz zwangsläufig vom transzendenten „Oben“ über die „Mitte“ des Staates oder der hierarchischen Gesellschaft hin zum „Zwischen“ einer deliberativen Gesellschaft zu entwickeln – also zu einem Raum, in dem Menschen miteinander kommunizieren. Dabei betont der Autor den transzendenten Bezug nicht vollständig aufzugeben und erneuert die Forderung nach einer „Bedürfnisorientierung als kommunikativer Fokus der Erziehung“ (S. 340), mit der ein Kind nicht als ein Wesen im Werden, sondern von Geburt an als ein soziales Sein (vgl. S. 341) verstanden werden kann.

Diskussion

Das Werk von Ehrenhard Skiera ist eine anspruchsvolle Lektüre und kann sich für ungeübte Leser:innen durchaus eine Herausforderung darstellen. Das wiederum ist etwas bedauerlich, denn der inhaltliche Fokus kann als ein eigenständiger wichtiger wissenschaftlicher wie auch politischer Beitrag zur Frage des freien Willens des Kindes gewertet werden. Die fundierte Argumentation und die vielschichtigen Reflexionen regen dazu an, gängige Annahmen der Gehorsamkeit und Normalisierung über Erziehung kritisch und handlungspraktisch zu hinterfragen. An manchen Stellen allerdings bleibt unklar, weshalb sich der Autor innerhalb seiner Analyse für diese Auswahl an Progatogist:innen und nicht für eine andere entschieden hat.

Für die Lehre im Studium bietet das Buch zahlreiche Anknüpfungspunkte: Einzelne Abschnitte können sowohl als Einstieg in zentrale Fragestellungen als auch zur Vertiefung in Seminaren eingesetzt werden. Gerade in der Auseinandersetzung mit normativen Grundlagen und deren Bedeutung für die pädagogische Praxis eröffnet das Werk wichtige Denkanstöße.

Fazit

Insgesamt handelt es sich um ein herausforderndes, aber zugleich relevantes Buch im deutschsprachigen Diskurs um kindheitspädagogische Grundannahmen. Es ruft programmatisch normative Perspektiven auf und bietet anregende Impulse für die Reflexion und Weiterentwicklung professioneller Handlungspraxis. Wer sich auf die komplexe und dichte Lektüre einlässt, wird mit einem vielschichtigen und inspirierenden Blick auf Erziehung und Bildung durchaus belohnt.

Rezension von
Prof.in Dr. Jennifer Hübner
Professorin für Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit an der katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln.
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Es gibt 4 Rezensionen von Jennifer Hübner.

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ISSN 2190-9245