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David Kergel, Birte Heidkamp-Kergel et al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Bildungsforschung

Rezensiert von HS-Prof. Dr. Doris Lindner, 26.10.2022

Cover David Kergel, Birte Heidkamp-Kergel et al. (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Bildungsforschung ISBN 978-3-7799-6286-1

David Kergel, Birte Heidkamp-Kergel, Sven-Niklas August (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Bildungsforschung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 444 Seiten. ISBN 978-3-7799-6286-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Der Band greift unterschiedliche disziplinäre Zugänge der Bildungsforschung auf. Mit Bildungsforschung wird ein in verschiedenen Kontexten verwendeter Sammelbegriff für eine Vielfalt an Disziplinen und methodischen Zugängen verstanden, in denen Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsprozesse, ihre Voraussetzungen, Wirkungen und Institutionen, in denen diese Prozesse verlaufen, untersucht werden. Im Handbuch werden zum einen Ansätze vorgestellt und diskutiert, die sich im bildungswissenschaftlichen Diskurs etabliert haben, zum anderen werden neue Perspektiven und internationale Erkenntnisse aufgezeigt, Bildung neu zu denken, zu konzeptionieren und zu beforschen. Einige der Artikel stellen zugleich ein Ergebnis der Zusammenarbeit der internationalen Forschungsgruppe Diversity in Education in the Digital Age dar.

Herausgeberinnen und Herausgeber

David Kergel ist Professor für Soziale Arbeit an der IU International University of Applied Sciences und Leiter des Zentrums für Diversität und Bildung im digitalen Zeitalter. Birte Heidkampl-Kergel wirkt am E-Learning Zentrum der Hochschule Rhein-Waal sowohl konzeptionell-wissenschaftlich als auch operativ-koordinierend. Sven-Niklas August arbeitet nach seiner wissenschaftlichen Mitarbeit am Open Resources Campus NRW (ORCA.nrw) als Berater im öffentlichen Bereich.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist unterteilt in fünf Abschnitte (Sektion 1 bis Sektion 5). Sie beginnt mit einer knappen Vorbemerkung der Herausgeber:innen zum Gegenstand der Bildung und Interdisziplinarität. Der erste Abschnitt (Sektion 1), „Interdisziplinäre Bildungsforschung“, umfasst das Eröffnungskapitel von David Kergel und Birte Heidkam-Kergel mit einer Einordnung und Grundlegung des Begriffs der Interdisziplinarität. Darin zeigen sie mögliche Perspektiven einer interdisziplinären Forschung als Bildungsprozess auf, unter anderem durch Bezugnahme des erkenntnistheoretischen Ansatzes Hegels zur Wissenschaftstheorie, in dem Wissenschaft als ein Effekt der Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt verstanden wird (S. 15).

Sektion 2 befasst sich mit dem Stellenwert der Ethik und Epistemologie in der Bildungsforschung. Unter Rückgriff auf die methodologischen Ansätze der Begriffsanalyse, der normativen Fallstudien und des reflective equilibrium legt Krassimir Stojanov den Grundstein für normative Fragestellungen in der Bildungsforschung.

Ausgehend von der These, dass Fragen dieser Art in der Bildungsforschung kaum explizit bearbeitet werden, werden zunächst der wesentliche Bedeutungsgehalt und der spezifische Charakter von Normativität in Bildung und Erziehung grob herausgearbeitet und in einem zweiten Schritt methodische Ansätze für die Rekonstruktion und Analyse der Normativität aufgezeigt. Wesentlich ist dabei ihre ideologiekritische Funktion, die der Autor im Fazit ins Blickfeld rückt.

Im Beitrag von Stefan Klusemann, Lena Rosenkranz und Julia Schütz werden zwei zentrale Begriffe der Bildungsforschung, „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit“, (S. 34) als diskursive Gegenstände in der Erziehungswissenschaft und empirischen Bildungsforschung beleuchtet. Dabei ist die Frage leitend, wie pädagogische Akteur:innen (sowohl in frühkindlichen Einrichtungen als auch in schulischen Institutionen) durch ihr Handeln (professionell) Einfluss nehmen auf Bildungsgerechtigkeit, diese bewahren und zu ihrem Aufbau beitragen können. Die Autor:innen kommen in ihrer Analyse zum Schluss, dass besonders anerkennungsbezogene Kompetenzen eine Schlüsselfunktion zu mehr Bildungsgerechtigkeit, die einhergeht mit einer entsprechenden Professionalisierung, die auch eine Sensibilisierung für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft beinhaltet, einnehmen.

Danach setzt sich Dominik Krinninger mit dem Gegenstand der Pädagogischen Anthropologie auseinander und vereint in seinem Beitrag sowohl theoretische, philosophische Zugänge als auch empirische Perspektiven. Beginnend mit dem Abriss bedeutsamer Entwicklungslinien der Pädagogischen Anthropologie werden die unterschiedlichen Ausrichtungen einer anthropologischen Bildungsforschung besprochen und die erforderliche Reflexivität bzw. die in methodologischer und philosophischer Hinsicht reflexive Anlage einer pädagogisch-anthropologischen Forschung diskutiert. Am Ende des Beitrages werden Entwicklungsperspektiven pädagogisch-anthropologisch orientierter Bildungsforschung aufgezeigt.

Thomas Mikhail und Jürgen Rekus diskutieren danach Begrifflichkeit und Idee einer „Systematischen Bildungsforschung“. Darunter wird ein Forschungskonzept verstanden, „das den Gedanken der Systematizität, wie er in Kants Transzendentalphilosophie entfaltet wird, eigens aufnimmt und mit dessen Hilfe pädagogische Grundsätze geltend gemacht werden“ (S. 65). Es folgen Ausführungen zum Begriff ‚systematisch‘, wie er in (erziehungs-)wissenschaftlichen Diskursen und in der Bildungsforschung verstanden wird, zum Begriff der ‚Systematizität‘ und zur Problemgeschichte, in der vor allem Bezug genommen wird auf Alfred Petzelt, der zu den Begründern der „Systematischen Bildungsforschung“ im heutigen Sinne zählt. Im Beitrag werden zudem bedeutsame Bildungsforscher:innen der „Petzelt-Schule“ und ihre Ansätze skizziert und zwei Akzentsetzungen der „Systematischen Bildungsforschung“ seit der Jahrtausendwende abschließend kurz beleuchtet.

Im Beitrag von Merete Wiberg steht der Bildungsbegriff aus pädagogisch-epistemologischer Perspektive im Mittelpunkt. Ausgangspunkt der epistemologischen Analyse vom Konzept hin zum Phänomen ist die Beschreibung Humboldts von Bildung als Dialektik zwischen menschlicher Rezeptivität und Selbsttätigkeit. Daneben wird ein Fokus auf der Bedeutung von Werten im Bildungsprozess gelegt, um auch die normativen und wertorientierten Aspekte entsprechend zu würdigen. Dabei greift die Autorin auf den phänomenologischen Werteansatz von Nicolai Hartmann zurück. Beide Zugänge bieten einen konzeptionellen Rahmen, um Analyseeinheiten für die empirische Erschließung des Phänomens Bildung zu identifizieren. Abschließend werden vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Werten und dem Normativitätsproblem in der Pädagogik Analyseeinheiten vorgeschlagen, die sowohl für konzeptionelle als auch empirische Studien zu Bildung nützlich sein können.

Das Ziel des Beitrags von Jesper Garsdal ist das Ermitteln „meta-philosophischer ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ eines kulturübergreifenden Dialogs […] zwischen Vertretern verschiedener religiöser und philosophischer Weltanschauungen oder […] Ontologien“ (S. 88). Dies basiert auf der Entwicklung terminologischer Werkzeuge und der Rekonstruktion der Ontologien aus einer metaphilosophischen Perspektive, die vom Autor „onto-dialogische“ Perspektive genannt wird in ihrer Beziehung zur traditionellen mono-logischen ontologischen. Unter Rückgriff auf den Begriff der „spekulativen Grammatik“ ist die These leitend, dass unterschiedliche Weltanschauungen wie spekulative Grammatiken funktionieren und durch „existentielle Interpretationen“ entschlüsselt werden können. Im zweiten Teil des Beitrags werden zentrale Entwicklungslinien des Bildungsbegriffs herausgearbeitet (Hegel, Eckhart und Goethe). Danach folgen Ausführungen zum Begriff des Dialogs und zu zentralen systematischen Fragen, die sich aus dem Vorhaben der Konzeption einer onto-dialogischen Perspektive ergeben haben. Im dritten Teil „wird die Rolle des Begriffs des ‚Anderen‘ in den existentiellen Interpretationsprozessen des Dialogs verortet“ (S. 89).

Sektion 3 vereinigt die „Empirischen Ansätze in der Bildungsforschung“. Oliver Böhm-Kasper und Vanessa Dizinger eröffnen mit der Diskussion von „Erkenntnismöglichkeiten empirischer Bildungsforschung“. Nach einer Annäherung an den Begriff der empirischen Bildungsforschung wird der Fokus auf Erkenntnismöglichkeiten des quantitativ-empirischen Paradigmas und der Rezeption sowie Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Bildungspraxis (aus der Perspektive einer reflektierten und wissenschaftlich fundierten Handlungs- und Entscheidungsgrundlage und einer evidenzorientierten bildungspolitischen Entscheidungsfindung) gelegt. Dabei werden die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten einer rein quantitativ ausgelegten Bildungsforschung offenkundig.

Schließlich erörtert und diskutiert David Kergel „Methodologische Fundierung und methodische Probleme“ der qualitativen Bildungsforschung. Ausgehend von der Diskussion über die Angemessenheit der wissenschaftlichen Erforschung einer wie auch immer gearteten komplexen sozialen Wirklichkeit werden die quantitative und die qualitative Sozialforschung in Hinblick auf ihre methodologische Fundierung beleuchtet.Im Kapitel über die Qualitative Bildungsforschung wird neben einer Skizzierung über ihre Entwicklung das (Selbst-)Verständnis einer „Transformatorischen Bildungsforschung“ herausgearbeitet.

Malte Brinkmann stellt in seinem Beitrag zur „Phänomenologischen Bildungsforschung“ zentrale Prämissen des Forschungskonzepts dar. Ausgangspunkt bilden die phänomenologischen Theorien der Erfahrung und der Leiblichkeit. Danach folgen ein Abriss der phänomenologischen Erziehungswissenschaft, die Ausführungen zu Deskription, Reduktion und Validierung als Kernelemente phänomenologischer Bildungsforschung und die Beschreibung ausgewählter deskriptiver Zugänge: Deskription, Anekdoten, Vignetten und responsive Beschreibungen.

Im Beitrag von Sophie Pia Stieger wird der Fokus auf die „Verbindungslinien zwischen der historischen Diskursanalyse und der Bildungsforschung“ (S. 184) gelegt. Ausgehend von der Darlegung wesentlicher Grundannahmen der historischen Diskursanalyse nach Überlegungen und Arbeiten von Michel Foucault wird das Verhältnis von Bildung und Diskursanalyse besprochen und die sich daraus ergebenden Forschungsperspektiven für die Bildungsforschung gezeichnet. Abschließend erörtert die Autorin mögliche Potenziale diskursanalytisch orientierter Untersuchungen für die interdisziplinäre Bildungsforschung.

In einer „historisch-systematischen Darstellung“ widmen sich Ruprecht Mattig und Axel Wegner dem Verhältnis zwischen „Ethnografie und Bildung“. Ethnografie wird als Forschungsansatz begriffen, der verschiedene methodische Verfahren kombiniert und aufeinander bezieht. Im Artikel werden sowohl Ziele und Gegenstand ethnografischer Forschung systematisiert als auch die ethnografische Methode und das ethnografische Selbst- und Weltverhältnis aus einer bildungstheoretischen Perspektive in den Blick genommen, um den Zusammenhang von Bildung und Ethnografie zu verdeutlichen.

Schließlich stellt David Kergel die Grundannahmen der „Integrativen Bildungsforschung“ als einen interdisziplinären Ansatz vor, der bildungstheoretische Annahmen und empirische Strategien der Sozialwissenschaft vereint. Im Beitrag werden Schnittstellen zwischen beiden Ansätzen identifiziert und für die empirische Bildungsforschung fruchtbar gemacht. Zentrale Begriffe liefern den Rahmen für die Beforschung von Bildung, die an zwei Beispielen (Medienbildung und Bildungsdidaktik) vorgestellt wird.

Sektion 4 befasst sich mit Beiträgen rund um die „Kulturelle, ästhetische und frühkindliche Bildungsforschung“. Den Anfang bildet ein Abriss über die „Ästhetische Bildung – in interdisziplinärer Perspektive“ (S. 230). Darin präsentiert Georg Zenkert zum einen den Gegenstand der Ästhetischen Bildung als einen Prozess der individuellen Entwicklung, die insbesondere auf die Fähigkeit der Wahrnehmung und der sinnlichen Erfahrung rekurriert, sowie zum anderen die Voraussetzung für eine Analyse ästhetischer Bildung in Hinblick auf ihren interdisziplinären Charakter. Im Mittelpunkt steht die Darlegung bedeutsamer Figuren; es werden aber auch gegenwärtigen Entwicklungen bzw. pädagogische Bemühungen um die ästhetische Bildung skizziert und die Übertragbarkeit ästhetischer Bildung in ein umfassendes Bildungskonzept diskutiert.

Was unter „Kultureller Bildung“ aus der Perspektive einer interdisziplinären Bildungsforschung verstanden wird, welche Besonderheiten und Herausforderungen das Forschungsfeld mit sich bringt, wird im Beitrag von Lisa Unterberg beleuchtet. Da die Kulturelle Bildung sich mehr durch eine spezifische Praxis auszeichnet und weniger durch eine eigene Theoriebasis, versucht der Artikel zunächst begriffsgeschichtliche und strukturelle Hintergründe zu erläutern. Darauf aufbauend wird das Forschungsfeld der Kulturellen Bildung strukturiert und anschließend die Bezugsdisziplinen, Erkenntnisinteressen und die Methodologie sowie das Forschungsdesign beschrieben. Der Ausblick fasst Desiderate und künftige Perspektiven des Forschungsfeldes zusammen.

„Konsumästhetische Bildung und Bildungsforschung“ stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand von Phillip D. Th. Knobloch. Der Beitrag beginnt mit einer Erörterung über die aktuellen epistemologischen und methodologischen Diskussionen, die innerhalb der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sowie über erziehungswissenschaftliche (Bildungs-)Forschung geführt werden. Sie sind für die nachfolgenden Ausführungen zur Konsumästhetischen Bildungsforschung, die an beide Forschungsrichtungen bzw. Disziplinen anknüpft, von Relevanz. Nachfolgend wird Einblick in das interdisziplinäre Arbeitsgebiet der Konsumästhetischen Bildungsforschung gegeben und der Begriff der konsumästhetischen Bildung verdeutlicht. Das Kapitel endet mit einer kurzen Darlegung des Gebiets der Konsumästhetischen Bildungsforschung.

Olaf Sanders stellt in seinem Artikel die Frage, wie Bildungsprozesse in oder durch populäre Kultur am besten erforscht werden könnten. Da das Unterfangen eine Vielzahl an Möglichkeiten offenlässt und dem Anschein nach ein komplexes Unterfangen darstellt, werden in den Ausführungen schrittweise bedeutsame Begriffe, Grundlagen und Prämissen für „Forschungsperspektiven auf Bildung(sprozesse) in durch populäre Kultur“ (S. 272) entfaltet.

Im Beitrag von Ulrike Mietzner werden schließlich „Bildungstheoretische Reflexionen des Bildlichen“ erörtert und diskutiert. Dabei werden grundlegende Begrifflichkeiten und Besonderheiten des Forschungszugangs (Was ist ein Bild? Bild und Wahrnehmung, Was wird sichtbar?) dargelegt. Die Ausführungen enden mit Überlegungen zu Bildungsprozessen aus der Perspektive der Bildtheorie und zu Bildern als Quelle und Ausgangspunkt zahlreicher Bildungsprozesse sowohl auf Verstandes- wie auf Gefühlsebene.

Caroline Wronski und Frauke Hildebrandt beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Lernen und der Entwicklung in sozialen Interaktionen im Rahmen frühkindlicher Bildung. Sie beginnen mit der Grundlegung der Bedeutungseinordnung sozialer Interaktionen für kognitive Lern- und Entwicklungsprozesse und der Darlegung der entwicklungspsychologischen sowie frühpädagogischen Hintergründe für die Interaktionen zwischen Pädagoge, Pädagogin und Kind. Daran anschließend werden Beispiele für eine frühkindliche Kompetenzentwicklung vorgestellt: Imitation und Innovation, Hypothetisches Denken/​Imagination und Metakognition. Abschließend wird auf das „Potsdamer Modell“ näher eingegangen, das sich in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe („Frühkindliche Bildungsforschung“) den Fragen zu den interaktionalen Wirkmechanismen zwischen Pädagoge, Pädagogin und Kind unter den Bedingungen von Heterogenität widmet.

Sektion 5 fasst die Beiträge einer „differenztheoretischen Bildungsforschung“ zusammen. Anke Redecker setzt sich zunächst in ihrem Beitrag mit dem Begriff der Subjektivierung auseinander, wie er in der Bildung verstanden wird, welche Fragestellungen, Fachbezüge und Forschungsthemen sich ergeben und wie diese aktuell diskutiert werden. Nach einer Hinführung und Einordnung des Begriffs der Subjektivierung im Rekurs auf ausgewählte philosophische und sozialwissenschaftliche Autor:innen wird Subjektivierung aus Sicht der Bildungstheorie bzw. ihrer Thematisierung vertieft, um anschließend ein Szenario für eine empirische Subjektivierungsforschung zu konturieren. Im Ausblick werden schließlich „Chancen und Gefahren eines Subjektivierungsdiskurses, der in seinem Verhältnis zum Bildungsbegriff als progressiv-produktiv und prekär-problematisch zugleich bezeichnet wird“ (S. 312), resümiert.

Der Gegenstand der poststrukturalistischen Bildungsforschung steht danach im Fokus der Überlegungen von Melanie Schmidt, die sich insbesondere zu poststrukturalistischen Theorielinien im Kontext erziehungswissenschaftlicher Bildungsforschung Gedanken macht. Zu Beginn wird erklärt, was unter Poststrukturalismus verstanden wird und poststrukturalistische Arbeiten in der erziehungswissenschaftlichen Rezeption vorgestellt. Die Relevanz dieser Arbeiten für die Forschung bildet den Rahmen für die exemplarische Analyse einer poststrukturalistischen Bildungsforschung. Danach stellt die Autorin zwei empirische Verfahren (Diskurs- und Subjektivierungsanalyse) vor und schließt mit einem Ausblick, der die Herausforderungen in Hinblick auf eine poststrukturalistische Bildungsforschung akzentuiert.

Im Beitrag von Wolfgang Nieke wird das Themenfeld „Interkulturelle Erziehung und Bildung in interdisziplinärer Forschung“ (S. 363) beleuchtet. In der Einführung wird die Heterogenität der Begrifflichkeiten, der Konzeptentwicklungen des Forschungsfeldes und des Forschungsgegenstandes im Kontext der Erziehungswissenschaft und Bildungswissenschaft verdeutlicht sowie daran anschließend aktuelle Diskurse in den Feldern Assimilationspädagogik, interkulturelle Pädagogik, Antidiskriminierungspädagogik und Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten vorgestellt. Anschließend wird die bildungswissenschaftliche Forschung zu interkultureller Erziehung und Bildung, die einen pluridisziplinären Zugang erfordert, erörtert. Im Ausblick werden thesenhaft zwei zentrale Anliegen einer interdisziplinär verstandenen Interkulturellen Pädagogik (disziplinäre Identität und Weiterentwicklung des Kulturbegriffs) diskutiert.

Abschließend geht Valentin Rumpf der Frage nach, wie der Bildungsbegriff für die Psychoanalyse und die psychoanalytische Pädagogik in Hinblick auf das interdisziplinäre Verhältnis fruchtbar gemacht werden kann. Der Autor schlägt vor, den Fokus dabei auf die Bildsamkeit des Subjekts zu legen und damit Wege jenseits klinischer Zuordnungen als negativ-subjektivierende Prozesse zu eröffnen. Damit wird nicht nur eine zeitgenössische Fassung des Bildungsbegriffs angestrebt, sondern auch eine systematische Weiterentwicklung des interdisziplinären Verhältnisses von Psychoanalyse und Pädagogik angeregt. Ausgehend von einem postmodernen Bildungsbegriff werden Überlegungen zum Verhältnis von Bildungsprozessen und Veränderungsprozessen, die in der Psychoanalyse angestoßen werden, konkretisiert.

Schließlich geht es in den Beiträgen der Sektion 6 um „Bildung und medialer Wandel“. Im Eröffnungsbeitrag nähert sich Christian Leineweber an den „paradoxen Begriff“ (S. 400) der digitalen Bildung an. Dabei wird die – durch die Digitalisierung des Bildungssystems – „gestärkte technische Rationalität pädagogischer Praxis“ mit der „spezifischen Charakteristik bildender Erfahrungsverläufe“ unter Bezugnahme der in der Theorie sozialer Systeme nach Talcott Parsons grundgelegten Einteilung sozialer Ordnungsstrukturen (Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit) kriteriengeleitet gegenübergestellt. Die Analyse wird um eine bildungstheoretische Lesart von Bildung ergänzt, um schließlich den Begriff der digitalen Bildung als Paradoxon zu konturieren und zu reflektieren.

Der abschließende Beitrag dieses Bandes von Michael Paulsen ist dem Thema „Bildung mittels Social Media“ gewidmet. Dabei ist die Frage leitend, ob die neue ‚Mediensituation‘, die sich durch das digitale Zeitalter laufend verändert, auch neue Möglichkeiten der Bildung hinsichtlich Emanzipation und Selbstentfaltung ermöglicht. Der Autor folgt der Argumentation, dass soziale Medien wie Twitter genutzt werden können, um neue Formen der Interaktion sowie Repräsentation zu schaffen, da dadurch gleichzeitig neue Möglichkeiten der Bildung geschaffen werden. Empirisch stützt sich die These auf Erkenntnissen aus einem Forschungsprojekt („Socio Media Education“), das in einer dänischen Oberstufenklasse über mehrere Jahre durchgeführt und von einem Forschungsteam begleitet wurde.

Diskussion

Die kontroversielle Auseinandersetzung mit Fragen rund um (den Begriff der) Bildung ist fraglos eine Thematik von hoher Relevanz für den Bildungskontext und insbesondere für (bildungs-)wissenschaftliche Erkenntnisinteressen. Das gilt nicht minder für die Bildungsforschung, die gegenwärtig im hohen Maße interdisziplinär verankert ist und unterschiedlichste Ansätze repräsentiert. Umso verwunderlicher ist es, dass bislang eine fundierte, systematische Zusammenschau über wesentliche Ausgangslagen, Ansätze, Debatten und Ausdifferenzierungen einer wie auch immer gearteten ‚interdisziplinären Bildungsforschung‘ bislang weitestgehend ausgeblieben ist. Das Handbuch schließt diese Lücke und vereint zentrale Perspektiven auf den Gegenstand der interdisziplinären Bildungsforschung in einer großen Vielfalt, die sich gleichermaßen im fachlichen/​disziplinären, theoretischen, praktischen und methodischen Zugängen abbildet. Zugleich entfalten die Beiträge Debatten über Bildung und Bildungsforschung von ihren historischen Anfängen und Grundlegungen über Weiterentwicklungen bis hin zu ihrer gegenwärtigen Vielgestaltigkeit und Verortung im Kontext der Interdisziplinarität. Das Anliegen des Bandes, einen systematischen Überblick über interdisziplinäre Bildungsforschung zu geben, verschiedene Aspekte und Nuancierungen der diversen Zugänge herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wurde zweifelsohne (und auf hohem wissenschaftlichem Niveau) eingelöst. Angesichts der Vielschichtigkeit und Komplexität der Thematik haben sich die Autor:innen auch sichtlich Mühe gegeben, das jeweilige Thema bestmöglich abzuhandeln, sodass zentrale Debatten, Thesen und Argumentationen, die in den Beiträgen entfaltet werden, auch für Nicht-Wissende über weiter Strecken (ja, gelingt manches Mal nicht immer in der Konsequenz, wie anfangs intendiert) nachvollzogen werden können. Die Erkenntnisse sind dadurch gewiss für eine breite Leserschaft von Interesse. Dass der Band keinen vollständigen Beitrag zum Bildungsdiskurs bieten kann, sondern seinen unabgeschlossenen Charakter behält, ist teils auf (den Begriff der) Bildung selbst zurückzuführen, der zugleich deutungsoffen und prozessoffen ist. Das war zumindest den Herausgeber:innen wichtig anzumerken. Das tut aber ohnehin nichts zur Sache, denn die Beiträge geben Anlass genug zur Reflexion, die „eigene Position im Bildungsdiskurs auszuformulieren“ (S. 9) und darüber hinaus die Orientierung der Bildungsforschung im Sinne der Interdisziplinarität anschlussfähig zu machen.

Fazit

Das Handbuch vermittelt einen breiten und umfassenden Einblick in den Gegenstand der interdisziplinären Bildungsforschung. Der Gewinn liegt vor allem darin, eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema anzuregen, weshalb die Lektüre uneingeschränkt zu empfehlen ist.

Rezension von
HS-Prof. Dr. Doris Lindner
Institut Qualitätsmanagement und Hochschulentwicklung
Private Pädagogische Hochschule Wien/Niederösterreich
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Es gibt 35 Rezensionen von Doris Lindner.

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ISSN 2190-9245