Rainer Sachse: Ressourcen erkennen und fördern bei Persönlichkeitsstörungen
Rezensiert von Dr. Lorenz Grolig, 26.10.2022
Rainer Sachse: Ressourcen erkennen und fördern bei Persönlichkeitsstörungen.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2022.
120 Seiten.
ISBN 978-3-8017-3155-7.
22,95 EUR.
CH: 29,17 sFr.
Reihe: Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen - 12.
Thema
Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (PS) verfügen oft über mehr Ressourcen, als Psychotherapeut*innen vermuten. Gerade bei rigiden Verhaltensmustern und unflexiblen psychischen Strukturen kann es schwerfallen, hinter den auffallenden Defiziten auch die Fähigkeiten und Kompetenzen von Patient*innen zu sehen und für die Psychotherapie nutzbar zu machen.
Der Fokus dieses Buchs liegt darauf, personale Ressourcen – also alle Aspekte einer Person, die sich positiv auswirken können auf Lebensbewältigung, Problemlösung, Konfliktlösung und interaktionelle Konfliktlösung – von Menschen mit Persönlichkeitsstörung stärker in den Fokus zu bekommen. Blockaden, die die Nutzung dieser Ressourcen verhindern, sollen im Rahmen eines psychologischen Funktionsmodells erkannt werden. Die Therapie zielt darauf ab, das System der Störung so zu beeinflussen, dass mehr Ressourcen konstruktiv eingesetzt werden können.
Autor
Rainer Sachse ist Professor (apl.) für Klinische Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum und Leiter des Institutes für Psychologische Psychotherapie (IPP) in Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Klärungsorientierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie.
Entstehungshintergrund
Dieses anwendungsorientierte Fachbuch erscheint als zwölftes Band in der Reihe „Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen“. Die Reihe richtet sich an Praktiker*innen, die mit einem psychologischen Funktionsmodell von Persönlichkeitsstörungen arbeiten wollen. Besonderer Wert wird gelegt auf Anregungen für konkrete therapeutische Strategien in verschiedenen Therapiephasen.
Aufbau
Im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen erläutert. Neben Sachses bekanntem Modell der Doppelten Handlungsregulation werden allgemeine (störungsunspezifische) Strategien zur Ressourcen-Aktivierung vorgestellt und auf die therapeutische Bearbeitung der Alienation eingegangen.
Der zweite Teil stellt dann Strategien zur Identifikation und Nutzbarmachung von Ressourcen hinsichtlich acht spezifischer Persönlichkeitsstörungen (PS) vor: Narzisstische PS, Histrionische PS, Dependente PS, Selbstunsichere PS, Passiv-aggressive PS, Schizoide PS, Zwanghafte PS und Paranoide PS.
Inhalt
Nach der Einleitung stellt Sachse zunächst sein „Modell der Doppelten Handlungsregulation“ vor, welches als „psychologisches Funktionsmodell“ grundlegend für seinen therapeutische Arbeit mit Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (PS) und stärker ausgeprägten Persönlichkeitsakzentuierungen ist. Handlungsleitend sind für Menschen mit PS insbesondere die zentralen Beziehungsmotive:
- Anerkennung,
- Wichtigkeit,
- Verlässlichkeit,
- Solidarität,
- Autonomie und
- Grenzen/Territorialität.
Je nach Persönlichkeitsstörung nach diesem Modell ist eines der Beziehungsmotive von äußerst hoher Bedeutung für Patient*innen (z.B. das Beziehungsmotiv Anerkennung bei narzisstischer Persönlichkeitsstörung). Die Befriedigung des Motivs wurde über lange Zeit frustriert, weshalb es so eine übermäßige Bedeutung für den Menschen mit PS gewonnen hat, bei gleichzeitig häufig erlebter Frustration wegen mangelnder Befriedigung von Bedürfnissen, die mit diesem Motiv in Verbindung stehen. Dass ein Beziehungsmotiv von größter Bedeutung ist, ist an sich unproblematisch und kann sogar eine wichtige Ressource sein, wenn ein Mensch diese intrinsische Motivation kennt und ihr folgen kann.
Problematisch und die Entwicklung einer PS begünstigend ist jedoch, wenn zu einem solchen Beziehungsmotiv (z.B. Anerkennung) noch dysfunktionale Schemata (z.B. „ich bin ein Versager“), kompensatorische Schemata („ich bin erfolgreich“) und normative Schemata („sei erfolgreich!“) hinzukommen. In Summe führt dies dazu, dass das Handeln des Menschen von Vermeidungszielen bestimmt wird (z.B. sich nicht als Versager sehen). Selbst wenn diese intensiv verfolgt werden, führt dies zwar zu negativer Verstärkung (z.B. Reduktion von Angst), jedoch nicht zur Sättigung des Beziehungsmotivs. Dieses bleibt weiterhin ganz oben in der Hierarchie der Beziehungsmotive.
Interaktionell auffällig werden Menschen mit PS nach diesem Modell, weil sie hierbei Regelschemata folgen: Sie stellen Regeln auf, denen Interaktionspartner folgen sollen (z.B. „Man hat mich respektvoll zu behandeln!“), wodurch sie im Kontakt mit Menschen, die den Regeln nicht folgen, häufig wütend und ärgerlich reagieren. Charakteristisch für Menschen mit PS ist zudem der übermäßige Einsatz von manipulativem Handeln, dessen eigentliches Ziel für die adressierte Person nicht direkt nachvollziehbar ist, und zwar, um (nicht offen kommunizierte) Bedürfnisse zu befriedigen. Durch dieses Verhalten entstehen nach Sachse hohe interaktionelle Kosten (z.B. geringe Authentizität möglich; eingeschränkte Handlungsflexibilität), im Resultat: häufig verärgerte Interaktionspartner*innen.
Aufbauend auf dem „Modell der Doppelten Handlungsregulation“ beschreibt Sachse dann, wie die Komponenten (Beziehungsmotive, Schemata, manipulative Strategien, etc.) des Modells als Ressourcen verstanden und grundsätzlich in der Therapie eingesetzt werden können. Der Weg dorthin ist jedoch eher lang und fordert Therapeut*innen einiges an Flexibilität und Geduld ab: Vertrauen muss gewonnen werden, Beziehungsmotive müssen erkannt und ausreichend darauf reagiert werden, und nicht zuletzt müssen Menschen mit PS erst einmal eine Veränderungsmotivation entwickeln. Erst dann wird ein flexibler Einsatz von Normen, Regeln und Manipulationen möglich, wodurch diese teilweise auch als Ressourcen genutzt werden können.
Sachse beschreibt darüber hinaus in diesem allgemeinen Teil, wie in verschiedenen Phasen der Therapie Ressourcen gefördert werden können und wie die Entfremdung von intrinsischen Motiven therapeutisch bearbeitet werden kann. Die zweite Hälfte des Buchs geht schließlich detailliert auf spezifische Aspekte der acht „reinen“ Persönlichkeitsstörungen (s.o.) ein.
Diskussion
Der Autor beleuchtet mit diesem Band einen schwierigen und häufig vernachlässigten Aspekt in der Arbeit mit Menschen, die eine Persönlichkeitsakzentuierung oder PS aufweisen. Psychotherapie wird in solchen Fällen von vielen Therapeut*innen häufig als frustrierend und energieraubend erlebt. Insbesondere die Ressourcenaktivierung mit „herkömmlichen“ Mitteln gelingt oft nicht wie gewünscht. Deshalb leistet dieses Buch mit seiner Systematik und auch einigen konkreten therapeutischen Ideen einen wertvollen Beitrag zur Erhöhung der Wirksamkeit von Psychotherapien.
Als Anregung für eine möglicherweise erfolgende Überarbeitung sei noch eine Anmerkung erlaubt: Zur Veranschaulichung des therapeutischen Vorgehens und der Therapieprozesse wären sicherlich einige längere Fallbeschreibungen spannend und hilfreich.
Fazit
Dieses Buch kann allen empfohlen werden, die professionell Menschen mit PS unterstützen möchten und hierfür Inspiration und Anleitung suchen. Als Einstieg in Sachses Modell und therapeutischen Ansatz bietet sich ein grundlegenderes Buch des Autos an (z.B. Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die Psychologische Psychotherapie).
Rezension von
Dr. Lorenz Grolig
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Zitiervorschlag
Lorenz Grolig. Rezension vom 26.10.2022 zu:
Rainer Sachse: Ressourcen erkennen und fördern bei Persönlichkeitsstörungen. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2022.
ISBN 978-3-8017-3155-7.
Reihe: Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen - 12.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29135.php, Datum des Zugriffs 20.01.2025.
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