Monica McGoldrick, Randy Gerson et al.: Genogramme in der Familienberatung
Rezensiert von Dr. Thomas Köhler-Saretzki, 20.06.2023
Monica McGoldrick, Randy Gerson, Sueli Petry: Genogramme in der Familienberatung. Hogrefe AG (Bern) 2022. 4., unveränd. Auflage. 352 Seiten. ISBN 978-3-456-86159-3. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 68,00 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch gibt einen umfassenden Einblick in die Genogrammarbeit als moderne Form eines Familienstammbaums, welche Informationen über die Mitglieder einer Familie und ihre Beziehungen über mindestens drei Generationen grafisch dokumentiert. Es versucht der Vielfalt von Familienformen und -mustern in unserer Gesellschaft und den unterschiedlichen Anwendungen von Genogrammen in der Praxis gerecht zu werden. Dabei versteht sich Genogrammarbeit noch immer im Werden begriffen und sieht vor allem in zukünftigen Computerprogrammen eine Erweiterung und Strukturierung der Einsatzmöglichkeiten.
Autor:in
Dr. Monica McGoldrick, MSW, PhD (h.c.), Direktorin des Multikulturellen Familieninstituts, New Jersey. Lehrerin, Autorin und Familientherapeutin. Internationale Reputation als Trainerin und Autorin. Mitglied der klinischen Fakultät der psychiatrischen Abteilung der Rutgers Robert Wood Johnson Medical School, New Jersey.
Dr. Randy Gerson, Mitbegründer der Genogrammarbeit. Familientheoretiker und Kliniker, Beiträge auf den Gebieten der Familientherapie und Familienpsychologie. In Vorbereitung auf das Originalbuch entwickelte er ein Computerprogramm zur Erstellung von Genogrammen. Verstorben 1995.
Dr. Sueli Petry. Psychologin und Familientherapeutin. Klinikerin und Supervisorin im Praktikumsprogramm für klinische Psychologie an der Rutgers University in Newark und der Fakultät des Multicultural Family Institute in Highland Park, NJ und in Privatpraxis. In klinischer Praxis arbeitet sie mit Kindern, Jugendlichen und Familien, vorwiegend Latino-Einwanderer. Publikationen über brasilianische Familien, Trauerprobleme für Latinos und Spiritualität.
Aufbau und Inhalt
Zunächst wird ein Überblick über Sinn und Zweck, die Geschichte der Genogrammarbeit, die Bedeutung der Symbole und Darstellungen und die verschiedenen Anwendungs -und Einsatzmöglichkeiten in Forschung und Praxis gegeben. Bereits an dieser Stelle und in der Folge noch mehrmals im Text wird auf die zukünftigen Möglichkeiten durch die sich in Entwicklung befindlichen computergestützten Genogramme in naher Zukunft hingewiesen. Im Anschluss werden die Darstellungsmöglichkeiten (Symbole, komplexe Familiensysteme, Schlüsselmuster, usw.) umfassend dargestellt. Mit Hilfe von Genogrammen berühmter Persönlichkeiten versuchen die Autoren das Erkennen familiärer Muster aufzuzeigen, analysieren sowohl Familien- und Geschwisterkonstellationen und Paarbeziehungen und verfolgen familiäre Lebenszyklen. Ein Blick auf den Einsatz sowohl in klinischen Kontexten als auch in der medizinischen oder psychiatrischen Praxis rundet den Inhalt des Buches ab.
Den Schwerpunkt legen die Autorinnen mit Ihrem Buch darauf, wie man anhand einer Vielzahl von Fallgeschichten und Genomgrammen berühmter Persönlichkeiten Genogramme praktisch erstellt, die dazugehörigen systemischen Fragen angemessen formuliert und die richtigen Analysen schlussfolgert. Der Leser lernt die Symbole, Verfahren und Darstellungsmöglichkeiten, die für die Anfertigung notwendig sind und erhält einen Einblick wie Genogramme für die Praxis genutzt werden können.
Die Autorinnen stellen fest, dass weder Menschen noch ihre Probleme in einem Vakuum existieren. Familienmitglieder sind wie alle Mitglieder einer Gesellschaft und die gesamte Natur im Leben und auch Tod miteinander verbunden. Alle sind unlösbar in größere, interaktive Systeme verwoben, von denen die Familien das mächtigste System ist, dem wir angehören. Genogramme helfen nach Ansicht der Autorinnen zu zeigen, zu wem wir gehören. Genogramme können in der klinischen Arbeit mit den Klienten dabei helfen, dass diese ihre eigenen Familien besser verstehen.
Weiterhin sehen die Autorinnen eine (psychische) Krankheit als Familienangelegenheit. Symptome spiegeln dabei eine Anpassung des Systems an einen Gesamtkontext zu einem gegebenen Zeitpunkt wider. Hier wiederum können Therapeuten durch den Einsatz von Genogrammen tiefere Einsichten in die Probleme erlangen, mit denen die Hilfesuchenden konfrontiert sind. Sie machen Beziehungs- und Funktionsmuster einer Familie leichter kenntlich als ein schriftlicher Text oder ein Fragebogen.
Durch sämtliche Kapitel ziehen sich eine detaillierte Strukturierung des Textes in Form vieler Unterkapitel und Zwischenüberschriften. Die Autorinnen gehen so auf die verschiedensten Aspekte wie Migrationsgeschichte, Ansprechen schwieriger Themen, soziale Schichtzugehörigkeit, soziale, politische ökonomische Ereignisse, Stieffamilien, Einzelkinder, Dreiecksbeziehungen usw. ein, um nur einige wenige zu nennen.
Am Ende des Buches werden die bibliografischen Quellen der Genogramme der berühmten Persönlichkeiten aufgelistet und es gibt neben dem Literaturverzeichnis Hinweise für Videos und Websites.
Diskussion
Sowohl Ärzten, therapeutischen Fachkräften als auch Beratern und sonstigen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zeigt dieses Buch in einer sehr ausführlichen, sprachlich gut verständlichen und praxisanwendertauglichen Art und Weise, wie mit Hilfe von Genogrammen und den entsprechenden Interviews dazu generationsübergreifende, maldaptive Familienmuster erkannt und den betroffenen Klienten konstruktiv zur Verfügung gestellt werden können.
Es wird deutlich wie vielseitig und komplex Familienbeziehungen über mehrere Generationen sind und welche massiven Auswirkungen die Familienkonstellationen mit ihren Verlusten, Geheimnissen, Lebenszyklen, Schlüsselmuster, Dreicksbeziehungen, usw. haben können. Ebenfalls wird aufgezeigt welche Möglichkeiten durch die Genogrammarbeit geschaffen werden mit den betroffenen Familien konstruktiv zu arbeiten und die Ressourcen dieser nachhaltig zu stärken. Die Autorinnen verwenden für die Darstellung eine immense Anzahl von Beispielgenogrammen bekannter Persönlichkeiten, angefangen beispielsweise von Alfred Adler, Charles Darwin, Bill Clinton, Queen Elisabeth bis hin zu Henry Ford, Steve Jobbs und last but not least Sigmund Freud.
In Form von Stichpunktaufzählungen werden konkrete Anleitungen und systemische Fragemöglichkeiten, wie z.B. „Was würde in der Familien geschehen, wenn es das Problem nicht mehr gäbe? Wie würde sich die Familie verändern?“ aufgeführt.
Besonders hilfreich sind die klare Sprache und Apelle der Autorinnen (z.B. „Genogramme machen Menschen Mut Ihre Geschichten zu erzählen“) und die übersichtliche Darstellung der Standard-Genogrammformate am Anfang des Buches.
Weiterhin streuen die Autorinnen an vielen Stellen Hinweise zu Widerständen gegen das Genogramminterview, das Ansprechen schwieriger Themen, Geheimnissen, Erkennen von Beziehungsmustern und Dreiecken ein, beeinflusst durch den eigenen persönlichen Erfahrungshintergrund der Autorinnen.
Das Buch bietet eine tiefgehende, detailliert strukturierte, anschauliche und konkrete Anleitung zur Arbeit mit Genogrammen. Dabei stehen die technische Erstellung, das Erkennen und Interpretieren von Mustern und die Einsatzmöglichkeiten in der Praxis im Focus. Die Darstellungen der Beispielgenogramme anhand berühmter Persönlichkeiten und die konkreten Vorschläge für Fragen im Rahmen der Genogrammerstellung sind kreativ, originell und interessant und hilfreich für die eigene Anwendung von Genogrammen in beraterischen und therapeutischen Behandlungssettings. Allerdings versuchen die Autorinnen alle erdenklichen Themen wie Beziehungsdreiecke (mit und ohne Pflege- und Adoptivkindern), fehlende Informationen in Genogrammen wie z.B. sexuelle Einstellungen, religiöse Gesinnungen, berufliche Werdegänge bis hin zu Bruderschaften und Geheimbünden an den immer wieder neuen Genogrammen der prominenten Familien aufzuzeigen, was sich nach einiger Zeit deutlich auf die Übersichtlichkeit auswirkt. Die notwendige ständige Beschäftigung des Lesers mit immer neuen Familiengenogrammkonstellationen, der jeweiligen ausführlichen Beschreibungen und schlicht die Anzahl der Menge der Themen und dargestellten Genogramme führt einer gewissen Ermüdung. Den Autorinnen wäre für eine bessere Verdaulichkeit des Buches ein „Weniger ist Mehr“ anzuraten.
Für einen (ersten) Einblick in die Genogrammarbeit ist das Buch zu umfassend, obwohl Einsteiger auch definierte Zielgruppe sind. Die Größe und Komplexität der Unterthemen erzeugt im Laufe des Lesens das Gefühl von Länge. Zwar strukturieren die vielen unterschiedlichen Unterkapitel und Zwischenüberschriften wie bereits erwähnt das Gesamtwerk, allerdings geht die Differenzierung der verschiedenen inhaltlichen Aussagen dadurch etwas verloren und wirken im Gesamten dann teilweise redundant.
Nicht erkennbar ist auch, warum sich der Titel des Buches auf Genogramme in der Familienberatung bezieht. Die Familienberatung wird weder als Institution noch als therapeutisches Setting explizit in den Focus genommen und beschrieben. Möglicherweise assoziieren die Autorinnen mit dem Begriff Familienberatung die Darstellung von Genogrammen für und mit Familien.
Das Buch ist vorwiegend subjektiv geprägt durch den großen und fundierten praktischen Erfahrungshintergrund der Autorinnen. Interessant und hilfreich wären evtl. allerdings auch noch deutlichere, objektive Darstellungen und Ausführungen zu den Grenzen der Genogrammarbeit (z.B. in der Familienberatung).
Das Buch ist trotzdem sehr lesenswert und empfehlenswert für alle die mit Genogrammen arbeiten wollen oder es tun und sich intensiv für das Thema intensiv interessieren.
Fazit
Das vorliegende Buch behandelt ausführlich die Arbeit mit Genogrammen. Anhand unzähliger Beispiele werden die verschiedensten Themengebiete von Familien und deren Biografien anhand von Genogrammen bearbeitet. Diese münden ein in praxistaugliche Empfehlungen und Handlungsanweisungen, z.B. in Form von systemischen Fragen. Das Buch lesenswert und empfehlenswert, setzt allerdings ein breites und tiefes Interesse voraus, sich mit dem Thema beschäftigen zu wollen.
Rezension von
Dr. Thomas Köhler-Saretzki
Diplom-Psychologe und Systemischer Familientherapeut
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Es gibt 4 Rezensionen von Thomas Köhler-Saretzki.
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Zitiervorschlag
Thomas Köhler-Saretzki. Rezension vom 20.06.2023 zu:
Monica McGoldrick, Randy Gerson, Sueli Petry: Genogramme in der Familienberatung. Hogrefe AG
(Bern) 2022. 4., unveränd. Auflage.
ISBN 978-3-456-86159-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29136.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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