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Steve De Shazer, Yvonne M. Dolan: Mehr als ein Wunder

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 08.04.2022

Cover Steve De Shazer, Yvonne M. Dolan: Mehr als ein Wunder ISBN 978-3-8497-0260-1

Steve De Shazer, Yvonne M. Dolan: Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 8. Auflage. 236 Seiten. ISBN 978-3-8497-0260-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.

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Autor:innen

Steve de Shazer (1940–2005), Ph.D., war Gründer des Brief Family Therapy Center (BFTC) in Milwaukee, Wisconsin. Er entwickelte und lehrte lösungsfokussierte, kurztherapeutische Verfahren auf der Grundlage systemischer Interventionen und verfasste diverse Bücher dazu.

Yvonne Dolan arbeitete 30 Jahre lang als Psychotherapeutin. Sie hält weltweit Vorlesungen über lösungsfokussierte Kurztherapie sowie über Milton Ericksons Therapieansatz und führt Aus- und Weiterbildungen in diesem Bereich durch. Sie ist Autorin diverser Publikationen.

Mitgewirkt haben zudem Insoo Kim Berg (1934-2007), Harry Korman, Terry Trepper und Eric McCollum, die als Autor:innen nicht explizit genannt und im Buch unter der Bezeichnung »das Team« zusammengefasst sind.

Thema

Die Autor:innen stellen im Buch therapeutische Prinzipien und Interventionsformen mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis dar, die sich in Therapie wie auch in Beratung nutzen lassen und bewährt haben. Sie legen die Idee und Praxis eines lösungsfokussierten Dialogs dar, den sie als Kontrast und Alternative zum sokratischen Dialog vorstellen. Im sokratischen Dialog werden Menschen zu einem Ziel hingelotst, im lösungsfokussierten Dialog dagegen erkunden sie ergebnisoffen Möglichkeiten. Der Titel des Buches ist dabei Programm, denn der ergebnisoffene Dialog, bei dem Lösungen statt Probleme fokussiert werden, kann für Klient:innen echte Wunder – im Sinne von Lösungen und Erkenntnissen – bewirken. Das geschieht nicht zuletzt auch dadurch, dass die Frage, was geschähe, wenn ein Wunder passiere und die Probleme gelöst seien (und wie man das merke), im Buch anhand diverser Beispiele fokussiert wird. Das Buch zeigt auf, wie Stärken und Resilienzen sich aktivieren lassen und wie diese zur Lösungs(er)findung beitragen, ohne sich lange mit Problemen aufzuhalten.

Aufbau und Inhalt

Das Buch »Mehr als ein Wunder« hat 236 Seiten und ist 2022 in der 8. Auflage erschienen. Es ist das letzte Werk, an dem der 2005 verstorbene Steve de Shazer noch mitgeschrieben hat. Das Buch ist in 11 Kapitel unterteilt. Es beginnt mit einem »Vorwort« (S. 9 ff.), in dem Yvonne Dolan die Bedeutung hervorhebt, die Steve de Shazer und seiner Frau Insoo Kim Berg im Leben vieler Menschen gespielt hätten. Sie haben „das Leben unzähliger Menschen berührt“ und in Ihrer „bescheidenen und oft unauffälligen Weise“ diejenigen „reich beschenkt“, die bei ihnen hätten lernen dürfen, die lösungsorientierte Therapie zu verstehen und anzuwenden (S. 9). Im Vorwort wird zudem die philosophische Grundlage des Ansatzes beleuchtet. Das Buch „zeigt vielleicht klarer als irgendeines seiner früheren Werke die wirklich grundlegende Rolle der Philosophie Wittgensteins für Steve de Shazers Ideen zum Ansatz der lösungsfokussierten Kurztherapie“, schildert Dolan (S. 10). Ein wesentlicher Punkt der Theorien des vornehmlich für seine Sprachphilosophie bekannten Ludwig Wittgenstein besteht ihr zufolge in der Idee, „viele menschliche Probleme als durch eine Art schlechte Philosophie entstanden anzusehen, entstanden über die »Verhexung durch die Sprache«. Auf dieser Sicht beruht dann auch die Umwendung, die Aufgabe einer guten Philosophie, einer »philosophischen Therapie«, darin zu sehen, den Menschen aus dieser Verhexung zu befreien, indem die Irrtümer durch Fragen aufgehoben werden“ (S. 11). Eben das werde durch die Solution-Focused Brief Therapy (SFBT) ermöglicht. Wittgensteins Philosophie sei aber keineswegs die Grundlage von Steve de Shazers Ideen des lösungsfokussierten Ansatzes gewesen. Diese sei „zunächst weitgehend ohne Bezug zu Wittgenstein entstanden“ (ebd.). Die Ausführungen des Sprachphilosophen hätten dem Ansatz nur mehr ein „nachträgliches Fundament“ gegeben, also einen theoretischen Rahmen für das in der Praxis entstandene Konzept.

In den sich an das Vorwort anschließenden »Vorbemerkungen« (S. 17 ff.) skizziert Yvonne Dolan dann den Entstehungs- und Verbreitungsprozess der SFBT seit den 1970er-Jahren bis heute. „Seit den späten 1970er Jahren widmeten sich Steve de Shazer und Insoo Kim Berg fast 30 Jahre lang der Aufgabe, den therapeutischen Ansatz zu entwickeln und konsequent zu verfeinern, der schließlich zu der international anerkannten Solution Focused Brief Therapy (SFBT/SFT) wurde“, erklärt die Autorin. Wichtig zu verstehen sei, dass die SFBT zwar auf die Zukunft gerichtet sei und sich absichtlich an der Oberfläche des Problems bewege (weil dieses bei der Lösung eher unbedeutend sei), dass allerdings die Antworten der Klient:innen auf die gestellten Fragen „zu einer äußerst detaillierten, sehr spezifisch fokussierten Art von Lebensrückblick führen, in dem Klient und Therapeut peinlich genau die gesamte Bandbreite der Erfahrungen des Klienten durchkämmten, um zentrale Ausnahmen (d.h. Zeiten, in denen das Problem nicht vorhanden oder weniger ausgeprägt war) sowie für die Lösungsentwicklung relevante Ressourcen aufzustöbern bzw. zu benennen“ (S. 18). Wie das vonstattengeht und welche Fragen wann gestellt werden können, wird in den Folgekapiteln im Buch anhand diverser Beispiele beleuchtet und seitens der Autor:innen analysiert und kommentiert.

Im 1. Kapitel, das mit »Ein kurzer Überblick« (S. 22 ff.) betitelt ist, fassen die Autor:innen die zentralen Charakteristika der SFBT zusammen. Sie beschreiben die lösungsfokussierte Kurztherapie als „ein auf die Zukunft gerichtetes und von Zielen geleitetes Herangehen an die Kurztherapie“ (S. 22), das sich seit den 1970er Jahren durch Induktion (d.h. vom Einzelfall ausgehend eine Theorie formulieren) im Laufe von hunderten Therapiestunden entwickelt habe. Der Ansatz der lösungsfokussierten Kurztherapie habe sich seither „zu einer der weltweit führenden Methoden der Kurztherapie entwickelt“ und komme „in den unterschiedlichsten wirtschaftlichen, sozial- und bildungspolitischen Bereichen“ zur Anwendung (ebd.). Die SFBT stelle dabei gegenüber der herkömmlichen Psychotherapie, welche die Problementwicklung und Problemauflösung thematisiere, einen Paradigmenwechsel dar. Sie baue auf die Stärken und Resilienzen der Klient:innen, indem frühere Lösungen für Probleme und Ausnahmen von diesen identifiziert und die Klient:innen mithilfe diverser Interventionen animiert werden, all das fortzusetzen, was bisher bereits erfolgreich funktioniert habe. Als Lehrsätze der lösungsfokussierten Kurztherapie werden folgende Aussagen hervorgehoben, deren Bedeutung im Buch jeweils näher erläutert wird (S. 23 ff.):

  • „Was nicht kaputt ist, muss man auch nicht reparieren.“
  • „Das, was funktioniert, sollte man häufiger tun.“
  • „Wenn etwas nicht funktioniert, sollte man etwas anderes probieren.“,
  • „Kleine Schritte können zu großen Veränderungen führen.“
  • „Die Lösung hängt nicht zwangsläufig mit dem Problem direkt zusammen.“
  • „Die Sprache der Lösungsentwicklung ist eine andere als die, die zur Problembeschreibung notwendig ist.“
  • „Kein Problem besteht ohne Unterlass; es gibt immer Ausnahmen, die genutzt werden können.“
  • „Die Zukunft ist sowohl etwas Geschaffenes als auch etwas Verhandelbares.“

Das 2. Kapitel ist überschrieben mit »Ich fühle mich richtig verunsichert« (S. 43 ff.). Beschrieben und analysiert wird eine Gesprächssequenz zwischen einer der Klientin Margare) und Yvonne Dolan. Die Sequenz wird dabei regelmäßig unterbrochen von aufgeworfenen Fragen des Autor:innen-Teams dazu, warum gerade diese Frage gestellt und jenes nicht thematisiert wird, wozu Dolan jeweils Stellung nimmt. Die Sequenz endet mit einer längeren Beschreibung dessen, wie positiv die Therapie sich über mehrere Sitzungen hinweg entwickelt habe und wie sie das Leben der Klient:in positiv beeinflusste. »Die Wunderfrage« steht im Fokus des 3. Kapitels (S. 70 ff.). Erkundet werden hier „die facettenreichen Details, technischen Feinheiten und die paradox wirkende »Einfachheit« der Wunderfrage im Rahmen der Klient-Therapeuten-Beziehung, in der das Problem zum Verschwinden gebracht und eine Lösung entwickelt wird“, schildern die Autor:innen (S. 70). Die Wunderfrage sei als Reaktion auf eine Klientin entstanden, die die in ihrer Verzweiflung gesagt habe, dass vielleicht nur ein Wunder ihr helfen könne. Die Frage, die je nach Situation und Klient:in abgewandelt werden kann, lautet: Angenommen, es würde während Sie schlafen ein Wunder geschehen und Ihr Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das merken? (ebd.). Die Autor:innen erläutern, was hinter der Wunderfrage steckt, was die Theurapeut:innen mit ihr bezwecken, wann es angebracht sein kann, die Frage zu stellen, wie sie sich auch anders formulieren lässt und wie mit den Antworten der Klient:innen umgegangen werden kann. Sie eruieren auch, wann sich Möglichkeiten für Vertiefungen und Anschlussfragen anbieten, die zu einer weiteren Reflexion und Selbsterkundung der Ressourcen und Optionen der Klient:innen einladen. Zudem wie darauf eingegangen wie mit Schweigen und konstatiertem „Nicht-Wissen“ der Klient:innen umgegangen werden kann.

Auf die Thematisierung der Wunderfrage folgt im 4. Kapitel die »Wunderskala« (S. 102 ff.). Klient:innen werden beispielsweise gebeten, ihre Situation auf einer Skala von 1 (am schlimmsten) bis 10 (am besten) zu skalieren. Je nach gewähltem Punkt wird dann daran angeknüpft, z.B. mit der Frage, was es bräuchte, um von einer 5 auf eine 6 oder 7 zu kommen. Wann kann man das Wunderbild skalieren? Worin besteht der Unterschied in der Skalierung? Was würden andere einem sagen? Wie haben Klient:innen es fertig gebracht, ihrer Situation eine positive Wendung zu gebe? Welche Ressourcen haben sie eingesetzt? Wie macht sich eine positive Veränderung konkret bemerkbar? Diese und weitere Fragen können den Autor:innen zufolge gestellt werden, um den Blick stärker auf das Positive zu richten, um also zu fokussieren, was Klient:innen bereits getan haben und welche Ressourcen sie haben/aktivieren können, um weiter positiv für sich zu wirken. Wie das konkret vonstattengehen kann, wird im Kapitel anhand diverser Gesprächssequenzen dargelegt. »Das magenfreundliche Gespräch« lautet der Titel des 5. Kapitels (S. 119 ff.). Beschrieben, kommentiert und analysiert wird eine Therapiesequenz der Klient:innen Robert und Christine (Roberts Mutter). Der beratende Therapeut ist Steve de Shazer, die Kommentierung erfolgt durch Harry Korman, der – wie schon im 2. Kapitel – umfassend erfragt, warum de Shazer diese oder jene Frage stellt, dies oder jenes vertieft und welche „Tools“ sich dabei als nützlich erweisen. »Hinschauen statt deuten« ist der Titel des 6. Kapitels (S. 151 ff.). Steve de Shazer erklärt in diesem, wieso er in seinen Schriften und Trainingsseminaren zur lösungsfokussierten Therapie ein so starkes Interesse am Werk Ludwig Wittgensteins zeigt.

Der Autor betont, dass die Bezugnahme auf den großen österreichischen Philosophen „bei der Leserschaft und in Seminaren fälschlicherweise zu der Vorstellung [geführt habe], dass Wittgensteins Werk eigentlich die Theorie liefern könnte, die hinter dem Konzept der SFBT vermisst wird“ (S. 151). Dem sei aber nicht so, meint de Shazer. Denn wer Wittgensteins Werk lese und „nach einem philosophischen System oder einer Theorie sucht, wird rasch feststellen, dass seine Lektüre allermindestens befremdlich und verwirrend ist, weil es weder ein solches System noch eine Theorie anbietet“ (ebd.). Warum er sich dennoch oft auf Wittgenstein bezieht, macht de Shazer auf den folgenden Seiten anhand diverser Zitate und Erläuterungen deutlich. Hinsichtlich der Frage, auf welchen theoretischen Annahmen die lösungsfokussierte Kurzzeittherapie fußt, erklärt der Autor, dass die theoretische Bezugnahme keine besondere Rolle spiele, da viele Theorien lediglich normativ darlegten, „wie die Dinge sein müssen oder sein sollten“ (S. 159), aber nichts darüber aussagen, wie sie wirklich sind. „Wenn wir die Praxis der lösungsfokussierten Kurztherapie beschreiben oder vermitteln wollen, müssen wir darauf fokussieren, wie die Dinge tatsächlich sind, damit die auszubildenden Personen lernen können, wie man nach dem Konzept der SFBT arbeitet. Mir scheint, dass Therapeuten mit der SFBT nur dadurch vertraut werden können, dass sie lernen, das Konzept praktisch anzuwenden“ (ebd.) Die Praxis sticht die Theorie, so ließe sich sagen. Warum das so ist, wird von de Shazer mittels Bezugnahme auf Schriften von Freud und Wittgenstein dargelegt.

Das 7. Kapitel mit dem Titel »Mein wahres Ich« (S. 165 ff.) wurde von Insoo Kim Berg verfasst. Sie schildert in ihm eine Gesprächssequenz mit dem jungen Carl, den sie an einer High-School kennenlernte, wo sie eine Vorlesung hielt. Carl erklärt, dass er am Vortag versucht habe, sich umzubringen. Die Autorin schildert umfassend, wie sie mit Carl ins Gespräch kommt, wie sich ein Rapport entwickelt, was sie (nicht) anspricht. „Ich möchte zuerst an die Kompetenz anknüpfen und ein paar Beispiele für Carls Kompetenz und seine bisherigen Fähigkeiten geben, damit er für sich gute Entscheidungen treffen kann, bevor ich auf das Problem eingehe“, erklärt Kim Berg ihre Herangehensweise, den Suizidversuch zunächst nicht zu thematisieren (S. 167). Sie erhalte im offenen Gespräch, wenn der Klient erst einmal rede, ohnehin alle Informationen, die sie für ein lösungsfokussiertes Gespräch benötige. Auch diese Gesprächssequenz wird des Öfteren unterbrochen durch Nachfragen des Autor:innen-Teams, das darum bittet, Gründe für das jeweilige Vorgehen und Fokussieren (oder gerade Nicht-Fokussieren) bestimmter Thematiken im Gespräch zu benennen und diese zu erläutern.

»Private Erlebnisse« und das Verb ‚sein‘« ist der Titel des 8. Kapitels (S. 191 ff.), welches den Fokus auf unsere Verwendung von Sprache und deren Bedeutung in der Therapie richtet. Die Autor:innen erläutern beispielhaft anhand von Worten wie »Depression«, »zufrieden«, »wütend« und »Hoffnung«, dass diese Ausdrücke bestimmte Assoziationen auslösten und zu der Annahme ermutigten, „dass die Wörter sich auf ein Gebilde beziehen, das wir verallgemeinern können. Einheitlich erscheinende Wörter behandeln wir oft so, als ob sie unabhängig von ihrem Kontext eine Bedeutungsaura um sich hätten. Wir gehen oft von der Annahme aus, dass Wörter, die mutmaßlich auf innere, private Erlebnisse verweisen, genauso arbeiten wie Wörter, die auf öffentlich beobachtbare Objekte verweisen“, schildern de Shazer und sein Team (S. 194). Wenn man ein Verb wie »sich halten für« durch das Verb »sein« ersetzt, verlagere sich „der Schwerpunkt von Beobachtungen, die mit Leichtigkeit auf den Kontext ausgeweitet werden können, auf die Aussage über etwas, das eine dauerhafte, fortwährende Eigenschaft des Individuums ist“, meinen die Autor:innen (S. 195 f.). Sobald die Verlagerung stattgefunden habe, sei der Satz in seiner Bedeutung ein anderer, der nicht mehr auf den Kontext beschränkt sei. Am Beispiel der Verwendung des vordergründig unscheinbar wirkenden, dies aber mitnichten seienden Verbs »sein« wird die Implikation dessen für die lösungsfokussierte Kurzzeittherapie beispielhaft dargelegt. Im Verlauf einer Therapie antworteten Klient:innen auf die Frage nach ihrem Befinden oft, „dass sie sich »besser fühlen«. Weil das Verb »fühlen« naturgemäß auf einen Übergang hinweist, achten Therapeuten und Therapeutinnen darauf, in welchem Kontext ein solcher Ausdruck der Gemütsregung steht, und wenn die Beschreibung oder Schilderung der Klienten ergiebiger und umfänglicher wird, können sie allmählich das Verb »sein« ins Spiel bringen, um sich seine Grammatik zunutze zu machen“, schildern die Autor:innen (S. 199).

»Die SFBT und Emotionen« stehen im Fokus des 9. Kapitels (S. 204 ff.). Thematisiert wird hier, wie sich ein therapeutisches Konzept anwenden lässt, das die Gefühle der Klient:innen nicht ins Zentrum der Therapie rückt, was indes keineswegs bedeute, dass Gefühle in der SFBT keine Rolle spielen. Emotionen kämen auch in ihr ins Spiel, wenn Klient:innen wünschten, darüber zu sprechen. Lösungsfokussierte Therapeut:innen nähmen aber davon Abstand, Klient:innen aufzufordern, emotional ins Detail zu gehen und Beschreibung dessen abzugeben, wie ihr Gefühl beschaffen sei. Stattdessen werde es in der SFBT als hilfreich angesehen, emotionale Zustände in Kontexte einzubetten, da das Reden über Emotionen insinuiere, dass diese unabhängig von Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen Menschen existierten. Fokussieren werde der Kontext, in dem sich ein Gefühl wie z.B. Wut zeigt. Analysiert werde zudem, welche »Ausnahmen« es gebe, wann sich das Gefühl also nicht zeigt (S. 210 f.). Lösungsfokussierte Therapeut:innen befassten sich anders mit Emotionen, „als es die Tradition will“, schildern de Shazer et al. (S. 211). Das heiße aber nicht, dass sie „die »Emotionen« der Klienten bagatellisierten. Sie konzentrierten sich „auf die äußeren, beobachtbaren Faktoren und Kontexte, die Emotionen definieren. Außerdem werden die Klienten bei diesem Vorgehen in ihren Anstrengungen gestützt, den Zustand des »Sich-besser-Fühlens« in sich wach zu halten, indem sie diese Gefühle immer wieder mit den Kontexten in Verbindung bringen können, in denen die Gefühle im Alltagsleben zu Hause sind“, postulieren die Autor:innen. (ebd.).

Im 10. Kapitel (S. 215 ff.) nehmen sich de Shazer und sein Team »Fragen und mögliche Missverständnisse« vor, deren Wesen und Bedeutung für die Therapie sie erläutern. Eingehend auf Kritikpunkte, die gegenüber der SFBT ins Feld geführt werden, erklären sie, weshalb die SFBT die Probleme der Klient:innen weitgehend unthematisiert lässt und wie man jemandem helfen kann, wenn gar nicht klar ist, was das Problem der Person eigentlich ist. Des Weiteren erläutern die Autor:innen ihre Renitenz gegenüber Ratschlägen und entkräften die Unterstellung, dass lösungsfokussierte Therapeut:innen Sicherheitsprobleme ignorierten, wenn die Klient:innen diese nicht thematisierten oder für unwichtig hielten, z.B. im Fall von häuslicher Gewalt oder Drogenkonsum. (S. 220 ff.) Eingegangen wird im Kontext dessen ebenfalls auf die Frage. wie lösungsfokussiert arbeitende Therapeut:innen im Fall von Kindesmissbrauch mit der Kontrolle durch Sozialbehörden umgehen. Darüber hinaus legen die Autor:innen dar, warum die SFBT sich durch das Stellen vieler offener Fragen auszeichne und was diese Fragen bei den Klient:innen bewirken können, wenn sie über die an sie gestellten Fragen nachdenken. Zu guter Letzt gehen de Shazer et al. auf die Frage nach Belegen für die Wirksamkeit der SFBT ein. Sie heben hervor, dass Gingrich 18 Studien über die Wirksamkeit der SFBT analysiert habe. „Von den 18 Studien bescheinigen 17 dieser Therapieart gute Ergebnisse. Während die Frage nach der Wirksamkeit der SFBT noch nicht vollständig beantwortet ist, wachsen natürlich die Belege dafür, dass sie funktioniert“, erklären die Autor:innen. Im 11. und letzten Kapitel (S. 231), das lediglich eine Seite umfasst, ziehen sie ein sehr kurzes »Fazit«, danken den Leser:innen für ihr Interesse und erklären nochmals ihre Motivation, das Buch geschrieben zu haben.

Diskussion

Was lässt sich zu »Mehr als ein Wunder« nun festhalten? Für wen ist das Buch geschrieben, wie ist es im Fachdiskurs zu verorten und inwieweit kann es empfohlen werden? Dazu kann der Rezensent folgendes festhalten:

Zielgruppe: Das Buch richtet sich in erster Linie an Therapeut:innen und Berater:innen, die sich für den lösungsorientierten Ansatz interessieren und sich zu dessen Hintergründen sowie Anwendungsmöglichkeiten informieren wollen. Dadurch, dass das Buch mit diversen Beispielen anhand der Analyse echter Therapie-Sequenzen aufwartet, finden Leser:innen zahlreiche in der Praxis umsetzbare Anregungen und Informationen. Da die SFBT sehr ressourcenorientiert ausgerichtet ist, ist das Werk ebenfalls anschlussfähig an die Soziale Arbeit und somit auch für Sozialarbeitende interessant, die in ihrer Beratung die Lösungsorientierung stärker in den Blick nehmen wollen. Sie erhalten im Buch einige Inspirationen und werden mit Gesprächs-„Tools“ sowie mit Fragen versorgt, die die Reflexion der Klient:innen befördernden können.

Verortung im Fachdiskurs: Da die SFBT von Steve de Shazer und seinem Team entwickelt wurde, kann das Buch als Referenzwerk zu diesem Therapieansatz gelten. Wer sich vor allem für Lösungsorientierung in therapeutischen Settings interessiert, für den ist »Mehr als ein Wunder« das erste Buch der Wahl. Nicht-Therapeut:innen können von der Lektüre ebenfalls profitieren, es ist aber gut möglich, dass sie in einem anderen Buch noch mehr und didaktisch geschickter aufbereitete Informationen finden, die stärker auf ihr jeweiliges Tätigkeitsfeld zugeschnitten sind. Allein in den letzten 10 Jahren sind diverse Werke erschienen, in denen die Lösungsorientierung auch auf Settings wie Beratung, Supervision, Intervision, Mediation und allgemein auf Gesprächsführung bezogen wird. Zu nennen sind etwa »Lösungsorientierte Beratung« (2022) von Günter G. Bamberger, »Lösungsorientierte Supervisions-Tools« (2021) von Heidi Neumann-Wirsig, »Systemisch-lösungsorientierte Gesprächsführung in Beratung, Coaching, Supervision und Therapie« (2020) von Holger Lindemann, »Lösungsfokussiertes Konflikt-Management in Organisationen«(2019) von Peter Röhrig & Martina Scheinecker sowie »Lösungsorientierte Gesprächsführung« (2016) von Lilo Schmitz. Hinzu kommen diverse Bücher, die „Lösungsorientierung“ zwar nicht im Titel tragen, darauf aber im Text eingehen (wie Lehrbücher der Sozialen Arbeit, Kommunikationspsychologie, Supervision und Mediation). Je nachdem, in welchem Feld man selbst agiert, kann es sich anbieten, auch andere Bücher für die Lektüre in Betracht zu ziehen, in denen sich nützliche Anregungen finden und in denen ggf. gezielter auf die Lösungsorientierung im eigenen Bereich eingegangen wird.

Formalia & Layout: Was das Schriftbild und die Schriftgröße angeht, ist der Text gut zu lesen. Das Layout erscheint für ein Fachbuch aber suboptimal, da der Inhalt dessen, was im Buch vermittelt wird, eher wenig strukturiert und unübersichtlich wirkt. Die Überschriften vieler Unterkapitel erscheinen zudem teils beliebig, was es schwer macht, sich im Buch zu orientieren, wenn man sich z.B. nur punktuell zu gewissen Aspekten der SFBT informieren will, statt das ganze Werk von vorne bis hinten durchzulesen. Auch hätte es dem Text gut getan, wenn mehrere der teils sehr kurzen Unterkapitel zusammengelegt sowie gestrafft worden wären – und wenn den Kapiteln insgesamt eine Zusammenfassung dessen vorangestellt worden wäre, was Leser:innen in ihnen erwartet. Es findet sich eine Unmenge an Informationen im Text, es wäre gerade aufgrund dieser Informationsdichte aber wünschenswert gewesen, zentrale Informationen nochmals gesondert hervorzuheben, z.B. durch Seitenanmerkungen, Fettdruck, Einschübe oder Merksätze, wie sie in diversen Fach- und Lehrbüchern vorkommen. Hinzu kommt, dass man dem Buch anmerkt, dass mehrere Personen an ihm mitgeschrieben haben. Nicht immer ist klar, wer im Text sich gerade äußert und nicht alle Darlegungen sind gleich gut verständlich. Eine Überarbeitung des Layouts würde dem Text daher guttun.

Kritikpunkte: Nicht dramatisch negativ, aber doch bemerkenswert ist, dass im Buch zwar mehrfach betont wird, dass die Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie geprägt sei durch die Philosophie Ludwig Wittgensteins, dass sich dieser Zusammenhang von Sprachphilosophie und SFBT dem Rezensenten aber nur bedingt erschießt. Die Verweise auf Wittgensteins Werk sind zahlreich. Sein Name findet sich ganze 165 Mal im Buch. Eine auch für philosophische Laien plausible Erläuterung dessen, wodurch Wittgenstein prägend für die Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie ist, konnte der Rezensent im Text aber nicht ausmachen. Es finden sich im Buch zwar diverse Erläuterungen, diese lassen aber mehr Fragezeichen zurück, als sie zum Erkenntnisgewinn beitragen. So liest man im Text (S. 151) denn auch folgendes: „Wittgensteins Werk ist eher »unsystematisch, umherirrend, abschweifend, unstetig, thematisch ungeordnet und durch abrupte Übergänge von einem Sujet zum anderen gekennzeichnet« (Stroll 2002, p. 93)“. Genau das ist auch symptomatisch dafür, wie das Werk Wittgensteins von de Shazer & Dolan rezipiert wird. Die Darlegungen veranlassten den Rezensenten weit häufiger zur Frage, was das mit Lösungsorientierung zu hat, statt zu einem tiefergehenden Verständnis des Zusammenhangs von Wittgensteins Überlegungen und dem Wesen der SFBT beizutragen.

Durch den Verzicht auf die sprachphilosophischen Bezugnahmen würde »Mehr als ein Wunder« nichts von seiner argumentativen Substanz einbüßen und wäre deutlich leichter zu lesen. Dass es den Rekurs auf Wittgenstein nicht braucht, um den Nutzen der Lösungsorientierung zu verdeutlichen, zeigt sich in vielen Werken zum lösungsorientierten Arbeiten, die ohne Verweis auf den österreichischen Philosophen auskommen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Werk nunmehr zwar in der 8. Auflage vorliegt (2022), die Verweise auf die Wirksamkeit der SFBT aber seit der ersten Auflage des Werkes nicht aktualisiert wurden. Es wird weiterhin lediglich auf eine Übersichtsuntersuchung von Gingerich und Eisengart (2000) eingegangen, die schon 22 Jahre alt ist. Wünschenswert gewesen wäre es, den Nutzen der SFBT anhand aktuellerer Studien zu verdeutlichen, zumal u.a. Wallace Gingerich selbst (einer der Autoren der von de Shazer et al. zitierten Studie), aber auch andere Autor:innen, die Effektivität der SFBT in mehreren Studien nachweisen konnten, die in den letzten 20 Jahren erschienen sind. Verwiesen sei etwa auf Zhang et al. (2020), Aminnasab et al. (2018), Reddy et al. (2015), Gingerich & Peterson (2013) oder Franklin et al. (2012). Bei einer Neuauflage wäre es wünschenswert, die aktuelle Forschungslage aufzugreifen.

Fazit

Für all jene, die sich für lösungsorientiertes Arbeiten interessieren, ist »Mehr als ein Wunder« ein lesenswertes Buch. Die Autor:innen machen darin praxisorientiert deutlich, wie lösungsorientierte Kurzzeittherapie in Aktion aussieht. Die Lektüre hilft Leser:innen, passende Fragen zu stellen und vermeintliche Wahrheiten in Frage zu stellen. Wer Menschen dabei unterstützen will, Lösungen zu finden, statt sich lange mit Problemen aufzuhalten, kommt im Buch auf seine Kosten. Dadurch, dass das Werk nur so von Ressourcenorientierung strotz, ist es über den therapeutischen Bereich hinaus zudem anschlussfähig an Beratungssettings in der Sozialen Arbeit.

Literatur

Aminnasab, A. et al.: Effectiveness of Solution-Focused Brief Therapy (SFBT) on Depression and Perceived Stress in Patients with Breast Cancer. In: Tanaffos. 2018, 17(4), S. 272–279.

Franklin, C. et al.: Solution-Focused Brief Therapy: A Handbook of Evidence-Based Practice. New York 2012

Reddy, P. D.: Effectiveness of Solution-Focused Brief Therapy for an Adolescent Girl with Moderate Depression. In: Indian J Psychol Med. 2015 Jan-Mar; 37(1), S. 87–89

Gingerich, W. J.; Peterson, L. T.: Effectiveness of Solution-Focused Brief Therapy: A Systematic Qualitative Review of Controlled Outcome Studies. In: Research on Social Work Practice. Vol 23, Issue 3, 2013, S. 266–283

Zhang, X. et al.: The Effect of Solution-Focused Group Counseling Intervention on College Students’ Internet Addiction: A Pilot Study. In: Int J Environ Res Public Health. 2020 Apr; 17 (7): 2519. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7178016/ (22.03.2022)

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 08.04.2022 zu: Steve De Shazer, Yvonne M. Dolan: Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 8. Auflage. ISBN 978-3-8497-0260-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29146.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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