Andreas Bechdolf, Karolina Leopold et al.: Junge Menschen mit Psychosen begleiten
Rezensiert von Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, 03.11.2023

Andreas Bechdolf, Karolina Leopold, Anja Lehmann, Eva Burkhardt: Junge Menschen mit Psychosen begleiten. Das Praxisbuch zum FRITZ. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2022. 251 Seiten. ISBN 978-3-96605-114-9. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Thema und Zielsetzung
In ihrem Buch setzten sich die Autor:innen mit „ihrem“ Projekt auseinander und stellen die umfängliche Versorgung von jungen Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis bzw. psychotischen Erkrankungen dar. Dabei geht es – neben einem gewissen wissenschaftlichen Background – primär um die praktische Umsetzung und Implementation des FRITZ-Programmes. Dabei handelt es sich um ein selbst entwickeltes Programm im Rahmen der FRühIntervention am Therapie Zentrum (FRITZ) am Urban in Berlin.
Ziel der Autor:innen ist es nun, die Erkenntnisse des Forschungs- bzw. Versorgungsprojektes in die Praxis umzusetzen und dem Leser dabei zu helfen, dies praktisch zu implementieren.
Die Zielgruppe des Buches ist ein vielfältiges Publikum. Es richtet sich insgesamt an „Menschen, die im Rahmen ihrer Arbeit jungen Leuten mit ersten psychotischen Episoden begegnen, aber auch an Personen, die selbst oder im Familien- und Freundeskreis Erfahrungen mit psychotischen Krisen gemacht haben.“ Die Leserschaft ist demnach recht breit und findet sich den Angaben der Autor:innen entsprechend nicht nur unter Professionellen/​Therapeuten, sondern auch unter Angehörigen und (Mit-) Betroffene.
Herausgeber bzw. Autor/en
Prof. Dr. med. Andreas Bechdolf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie seit 2023 Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité-Universitätsmedizin in Berlin und habilitierte sich zuvor im Jahr 2007 an der Klinik der Universität zu Köln, wo er zunächst als Oberarzt tätig war. Er ist mittlerweile Chefarzt der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikum Am Urban und des Vivantes Klinikum im Friedrichshain in Berlin. Er ist Autor zahlreicher (Fach-) Bücher und wissenschaftlicher Publikationen.
Frau PD Dr. med. Karolina Leopold ist seit 2014 Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikum Am Urban. Zuvor war sie (Funktions-) Oberärztin am Universitätsklinikum Dresden; sie ist Verhaltenstherapeutin. Sie ist Autorin mehrerer Publikationen und leitet das FRITZ-Projekt.
Dr. phil. Dipl. Psych. Anja Lehmann arbeitet als leitende Psychologin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikum Am Urban.
Dr. med. Eva Burkhardt war Ärztin in Weiterbildung für Psychiatrie und Psychotherapie und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vivantes Klinikum Am Urban. Mittlerweile ist sie Stv. Oberärztin an den Universitäre Psychiatrischen Diensten (UPD) in Bern.
Entstehungshintergrund/​Vorgeschichte
Die Autor:innen haben viele Jahre (mit entsprechender Drittmittelförderung) am FRITZ-Programm gearbeitet und dieses liebevoll entwickelt und an der Implementation gearbeitet. Dabei sind diverse evidenzbasierte Erkenntnisse entstanden, die nun mit diesem Buch in die Praxis umgesetzt werden.
Aufbau & Inhalt
Nach einer den sozialpsychiatrischen Charakter des Buches verdeutlichenden Vorbemerkung ist das Buch grundsätzlich in drei Teile unterteilt. Dabei widmet sich der erste Teil den (wissenschaftlichen) Grundlagen, der zweite Teil der Praxis und der dritte Teil der Implementierung.
Zwischen Vorbemerkung und Beginn des „Theorieteils“ findet der Leser aber zwei plastische Schilderungen von Betroffenen. Der erste Teil beginnt dann mit der Frage „Warum [braucht man] Angebote für junge Menschen mit ersten psychotischen Episoden“. Dabei beschreiben die Autor:innen zunächst „Psychotische Episoden als einschneidende Lebensereignisse“ und machen dem Leser darin die Relevanz und Tragweite (erster) psychotischer Episoden klar. Sie zeigen sodann die „Herausforderungen der Behandlung erster psychotischer Episoden“. Im Anschluss gehen sie u.a. auf die Entwicklung sowie die Evidenzlage verschiedener Behandlungsmethoden bzw. Therapieregime ein. Dabei basieren die Ausarbeitungen v.a. auf entsprechenden Guidelines. Aber auch Risikokonstellationen werden nicht außer Acht gelassen. Natürlich stellt sich auch die Frage, wie sich all dies ins deutsche Gesundheitssystem integrieren lässt.
Im zweiten (Unter-) Kapitel des ersten Teils geht es darum, „Erste psychotische Episoden [zu] verstehen“. Dabei stellen die Autor:innen entsprechende epidemiologische Aspekte dar und stellen den phasenhaften Ablauf genauer dar und ordnen verschiedene Aspekte in das gesamte Krankheitsgeschehen ein.
Es folgen Ausarbeitungen über „Haltung und Handlung“ sowie das Beziehungserleben von Betroffenen; dabei erhält man entsprechende Einblicke in die subjektive Welt der Betroffenen.
Im nächsten (Unter-) Kapitel greifen die Autor:innen das Thema der Behandlung auf und erklären, was überhaupt unter dem Begriff der „Behandlung“ im Kontext junger Menschen mit Psychosen zu verstehen ist. Dabei stärken sie die multiprofessionelle und intersektorale Perspektive deutlich. Dabei steht (erneut) keineswegs die medikamentöse Vorgehensweise im Fokus, sondern vielmehr der Betroffene selbst mit (nicht-medikamentösen) Therapieoptionen. Nach der genaueren Betrachtung von motivationalen Aspekten und der Hierarchisierung von Therapiezielen wird auch der begleitende Charakter der Therapie im Sinne des „therapeutischen Handelns“ und weniger des „therapeutischen Sprechens“ deutlich.
Es folgt der Praxisteil des Buches, in dem die Autor:innen zunächst betonen, wie wichtig es ist, niederschwellige Angebote für die Betroffenen zu entwickeln und zu etablieren. Ein Teil davon ist, so die Autor:innen bereits die Tatsache, öffentlich psychische Krankheiten zu thematisieren und (damit) zu entstigmatisieren. Insgesamt wird die Notwendigkeit der Niederschwelligkeit im Umgang mit den von Psychosen betroffenen jungen Menschen hier sehr deutlich herausgearbeitet.
Im folgenden (Unter-) Kapitel fokussieren die Autor:innen dann auf psychotherapeutische Maßnahmen und verlassen damit die systemische Ebene. Sie stellen dabei vier Aspekte je einzeln und in der folgenden Abfolge in den Fokus. Diese sind die Bausteine des Aufbaus von Vertrauen, Orientierung und Motivation, dann das Finden eines gemeinsamen Anliegens, das Verstehen von Krisen und das Teilen von Verantwortung und schließlich das Fördern von Identität und Autonomie.
Als Gegenpatz zu den psychotherapeutischen Einzelmaßnahmen beschäftigt sich das nächste (Unterkapitel-) schließlich mit „Chancen der Gruppenangebote“. Dabei gehen die Autor:innen zunächst auf die Wirkmacht der Gruppe ein sowie auf die entsprechende Wirk- bzw. Funktionsweise von (therapeutischen) Gruppenangeboten. Sie stellen dann die einzelnen Phasen von Gruppenarbeit dar und widmen sich auch den Risikofaktoren, die sie klar benennen sowohl im stationären als auch im ambulanten Kontext. Aber auch das die Betroffenen umgebende Netzwerk wird von den Autor:innen thematisiert.
Im Anschluss liest der Leser sehr kurz Inhalte über die körperliche Gesundheit der Betroffenen sowie medikamentöse Maßnahmen zur Stärkung der Autonomie der Betroffenen.
Daran schließt sich der dritte Teil des Buches an, der sich mit der Implementierung der Maßnahmen beschäftigt. Dabei geht es um die Frage, wie sich FRITZ insgesamt implementieren, weiterentwickeln und aufrechterhalten lässt. Auch dieser Implementationsteil kommt recht kurz.
Es folgen schließlich ein Ausblick und ein Literaturverzeichnis. Zusätzlich weisen die Autor:innen noch auf umfangreiche Downloadmaterialien hin.
Diskussion
Die Autor:innen widmen sich mit ihrem Buch der Aufklärung von Laien und Professionellen im Hinblick auf psychotische Erkrankungen bzw. Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis junger Menschen. Die Grundlage stellt dabei das von ihnen entwickelte FRITZ-Programm dar. Sehr sozialpsychiatrisch stellen sie umfangreiche Erkenntnisse dar und schaffen den Spagat zwischen der Informierung von Laien und Professionellen – ohne dass es einem als Professioneller dabei langweilig wird. Sicherlich aber muss man als (professioneller) Leser dem umfangreichen sozialpsychiatrischen Gedanken folgen können und wollen und es hinnehmen können (und wollen), dass zwar evidenzbasiert gearbeitet, dargestellt und argumentiert wird, dass aber bestimmte, primär nicht sozialpsychiatrische und mindestens ebenso evidenzbasierte Anteile des therapeutischen Umgangs mit Psychoserkrankten aus Behandlungsleitlinien kaum berücksichtigt werden.
Fazit
Mit dem Wissen und der Akzeptanz, dass klassisch medikamentöse und weitere nicht sozialpsychiatrisch gelagerte Aspekte (größtenteils) ausgeklammert werden, ist das Buch sicherlich eine Bereicherung für jeden Leser. Dies gilt umso mehr in einer „modernen“ Welt von multimodalen Therapiemaßnahmen lange nach der Psychiatrie Enquete.
Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A.
Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung.
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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