Martin Reker: Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten
Rezensiert von Prof. lic. phil. Urs Gerber, 10.05.2022
Martin Reker: Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2022. 160 Seiten. ISBN 978-3-96605-182-8. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Das Buch Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten befasst sich mit der ganzen Breite der Erscheinungsformen der Alkoholabhängigkeit. Es eignet sich gut als Lehrbuch für Einsteiger in die Suchtarbeit. Alle zentralen Themen werden abgedeckt und prägnant abgehandelt. So erhält man einen guten Überblick zu allen wichtigen Fragen in diesem Gebiet. Das eigene Handeln kann praktisch und theoretisch zugeordnet werden. Hilfreich sind die Anmerkungen auf den Buchklappen und die wichtigen Aussagen sind im Buch blau und kursiv gedruckt. Hilfreich sind auch die vielen praktischen Beispiele, die im Buch beschrieben werden. Durch die Veranschaulichungen ist die Publikation flüssig zu lesen.
Autor
Der Autor arbeitet als Arzt und Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel in Bielefeld. Die langjährigen Erfahrungen und der breite Überblick des Autors helfen dem Leser die Arbeit mit Alkoholabhängigen zu verorten.
Entstehungshintergrund
Historisch gesehen hat die Fachwelt schon eine Weile Abstand genommen von starren Zwangsbehandlungen und von einem konfrontativen, therapeutischen Stil. Welche Vorgehensweisen bewähren sich nun? Wie werden die Behandlungen durchgeführt? Was gilt es beraterisch, therapeutisch, medizinisch, sozial, rechtlich etc. alles zu beachten? Die Veröffentlichung des Buches Motivierende Gesprächsführung von Miller & Rollnick hat einen Paradigmawechsel eingeläutet und einen therapeutischen Entwicklungsschub im Suchtbereich bewirkt. Das Buch zeigt auf, wie sich die Suchtarbeit in der Folge heute positioniert.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel ‚Die subjektive Seite des süchtigen Alkoholkonsums‘ wird das hilfreiche Instrument der Konsum- und Verhaltensanalyse eingeführt. Die Lesenden werden mit der Analogie der Schokolade an den Suchtdruck und an ein Suchtverständnis herangeführt. Die vielen aufgeführten Beispiele erleichtern das Verständnis der verschiedenen Konsumstile, der verschiedenen Biographien und der verschiedenen Bedürftigkeiten der Betroffenen. Jedes Suchtgeschehen entwickelt sich individuell und einzigartig. Daraus leitet sich ein höchst individuelles Vorgehen ab. Geschlechtsspezifische Besonderheiten und kulturelle Aspekte bei Migration werden erwähnt. Der Ansatz CRAFT wird als Möglichkeit zum Coachen von Angehörigen erwähnt.
Im zweiten Kapitel wird die medizinische Diagnostik dargestellt und werden die Konsequenzen thematisiert, wenn Alkoholismus als Krankheit konzeptualisiert wird.
Im dritten Kapitel werden die alkoholbedingten Veränderungen im körperlichen, psychischen und sozialen Folgen des übermässigen Alkoholkonsums dargestellt. Ebenso die komplizierten Wechselwirkungen bei psychiatrischen Komorbiditäten. Es hat sich herausgestellt, dass die meisten Alkoholabhängigen auch noch an weiteren, psychischen Störungen leiden.
Im vierten Kapitel ‚Die biographische Dimension der Sucht‘ wird das Ineinandergreifen von biographischen Erlebnissen und der individuellen Suchtentstehung dargestellt. Es werden psychoanalytische und systemische Konzepte und ihre Beiträge für die Suchttherapie kurz erklärt.
Im fünften Kapitel wird ein historischer Exkurs zur gesellschaftlichen Entstehung von Suchtproblemen unternommen.
Im sechsten Kapitel ‚Suchtspezifische Handlungsoptionen‘ wird Entzug und Entwöhnung erklärt. Die Bedeutung und Aufrechterhaltung der Abstinenz bei Alkoholabhängigen Menschen wird betont. Was ist mit Unmotivierten? Zu Recht wird die bedeutende Rolle der Selbsthilfegruppen thematisiert. Das Konzept des kontrollierten Trinkens wird kurz erläutert.
Im siebten Kapitel ‚Leben gelingen lassen – Ressourcenorientierung als Strategiekonzept‘ wird die Wichtigkeit der sozialen Umwelt betont. Wie gestaltet sich das Wohnen, wie das Arbeiten? Braucht es einen geschützten Wohnplatz und Arbeitsplatz? Oder kann wenigstens eine sinnvolle Alltagsgestaltung initiiert werden? Ohne Eingliederungsmassnahmen gelingt es meist nicht, ein abstinentes Leben zu führen. Auch wenn sich einige nicht für die Abstinenz entscheiden, spielt es eine wichtige Rolle, wie ihnen mit Eingliederungsmassnahmen geholfen werden kann ein für sie sinnvolles Leben zu gestalten. Zentral ist dabei das inter- und intraprofessionelle Arbeiten. Sowohl die Motivierende Gesprächsführung wie auch der Community Reinforcement Approach (CRA) können Hinweise geben, wie die Motivation für Verhaltensänderungen geweckt werden kann. Die zukünftigen Chancen durch Online-Therapien werden aufgelistet.
Im achten Kapitel ‚Alkohol und die Mobilität‘ wird die grosse Bedeutung des Alkohols im Verkehr umrissen. Für viele Abhängige stellt die Fahrerlaubnis ein attraktives Ziel dar, wofür sie bereit sind, abstinent zu leben.
Im neunten Kapitel ‚Alkohol und persönliche Freiheit‘ bemerkt der Autor zum Schluss des Kapitels an, dass die Justizvollzugsanstalten wahrscheinlich die grössten Suchthilfeeinrichtungen sind. Es gilt diesen Menschen eine faire Chance zu geben, sei es bei den Haftvermeidungen, den Gerichtsverhandlungen, dem Vollzug und nicht zuletzt bei der Rehabilitation.
Im zehnten Kapitel ‚Alkohol und Sorgerecht‘ wird die schwierige Balance dargestellt, einerseits dem Kindswohl gerecht zu werden und andererseits die Eltern zu befähigen ihre Kinder zu erziehen. Dazu braucht es ein grosses Helfernetz, das der Dynamik in den Familiensystemen gewachsen ist.
Im elften Kapitel ‚An den Grenzen der Selbstbestimmung: Betreuung und Unterbringung‘, wird das Vorgehen geschildert bei Zwangsmassnahmen. Es ist wichtig zu beachten, ob es nicht dochWahlmöglichkeiten gibt und der Betroffene für sich noch kleine, selbstbestimmte Entscheidungen fällen kann.
Im zwölften Kapitel ‚Als Helfende im professionellen Hilfesystem: eine Schlussbetrachtung‘ betont der Autor die Bedeutung einer positiven Grundhaltung der professionellen Suchtarbeitenden.
Diskussion
Alles in allem handelt es sich eine gelungene Veröffentlichung, die nie trivialisiert und die komplexen Lagen der Alkoholabhängigen detailreich und kenntnisreich beschreibt. In einer Neuauflage könnte auf die Bedeutung der Beratung von Angehörigen von Alkoholkranken verstärkt eingegangen werden. Gerade im ambulanten Bereich besteht eine eklatante Unterversorgung in der Beratung von Angehörigen. Oftmals wenden sich auch die Angehörige vor den Betroffenen an die Beratungsstellen.
Fazit
Für Neueinsteiger in den psychosozialen Bereich, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeitende, Sozialpädagogen und Pflegefachpersonen, gibt das Buch einen ersten Eindruck und Überblick von der Breite des Feldes der Alkoholabhängigkeit. Für Studierende in den obengenannten Berufsgruppen kann das Buch als Basislektüre empfohlen werden. Für diese Zielgruppen dient es als Überblick und verschafft eine erste Orientierung. Durch die vielen Beispiele wird veranschaulicht, wie eine professionelle Behandlung ausgestaltet werden kann und wie wichtig es ist in Netzwerken zu arbeiten. Darüber hinaus vermittelt es mögliche hilfreiche und professionelle Handlungsanweisungen.
Beeindruckend ist die zutiefst menschliche Haltung des Autors. Er enthält sich konsequent moralischer Bewertungen. Er zeigt die ganze Brandbreite des Verhaltens von alkoholabhängigen Menschen und der daraus sich ergebenden Konsequenzen auf. Sein Aufruf am Schluss des Buches, als Behandler immer offen zu bleiben, da abhängige Menschen einem immer wieder überraschen, zeigt bestens seine eigene, stets offene Arbeitsweise als Behandler auf.
Literatur
Meyers, R. & Smith, J. E. (2017) CRA-Manual zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit. Bonn.
Miller, W. R. & Rollnick, S. (2015) Motivierende Gesprächsführung. Freiburg i. Br.
Smith, J. E. & Meyers, R. (2011) Mit Suchtfamilien arbeiten. CRAFT: ein neuer Ansatz für Angehörigenarbeit. Bonn.
Rezension von
Prof. lic. phil. Urs Gerber
Psychologe und Psychotherapeut in Zürich, ehemals Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz
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Es gibt 12 Rezensionen von Urs Gerber.
Zitiervorschlag
Urs Gerber. Rezension vom 10.05.2022 zu:
Martin Reker: Menschen mit Alkoholabhängigkeit begleiten. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2022.
ISBN 978-3-96605-182-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29153.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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