Johannes Jungbauer, Katharina Heitmann: Unsichtbare Narben
Rezensiert von Prof. Dr. Lisa Niederreiter, 02.06.2023

Johannes Jungbauer, Katharina Heitmann: Unsichtbare Narben. Erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern berichten.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2022.
2. Auflage.
160 Seiten.
ISBN 978-3-86739-294-5.
D: 17,00 EUR,
A: 17,50 EUR.
Reihe: BALANCE Erfahrungen. .
Thema
Das Buch „Unsichtbare Narben“ versammelt zwölf Erfahrungsberichte von erwachsenen Söhnen und Töchtern psychisch erkrankter Elternteile. Es entstand aus einer Befragung von 500 Betroffenen und bildet die bislang wenig beachteten späteren belasteten Lebensgeschichten von Kindern psychisch kranker Eltern ab, obwohl die großen Folgen elterlicher psychischer Erkrankung auf die kindliche Entwicklung seit langem bekannt und erforscht sind. Dabei werden unterschiedliche elterliche seelische Erkrankungen in ihren möglichen Auswirkungen auf die Kinder, ihre Bewältigungsstrategien und Belastungen beleuchtet, wie sie bis in die späteren Biographien erheblich und auf vielen Ebenen hineinreichen.
Herausgeber:in
Johannes Jungbauer verfügt als Professor für Psychologie an der kath. Hochschule NRW in Aachen zweifelsfrei über eine entsprechende themenspezifische Expertise genauso wie Katharina Heitmann als klinische Sozialarbeiterin und approbierte Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Vorwort der Herausgeber:innen gliedert sich das Buch in zwölf gleichlange Erfahrungsberichte von Betroffenen unterschiedlichen Geschlechts, Lebensalters und sozialer Herkunft, welche jeweils mit einem prägnanten Zitat aus der Fallerzählung und der Diagnose des erkrankten Elternteils überschrieben sind. Die Lebensbeschreibungen sind aus der Betroffenenperspektive formuliert und in einzelne Unterabschnitte wie etwa zur Kindheit, zur Verarbeitung, zu Auswirkungen auf das Erwachsenenleben u.ä. unterteilt. Das letzte Kapitel des Buches bildet ein umfänglicher „Serviceteil“ für Betroffene mit weiterführender Ratgeber- und Fachliteratur sowie sehenswerten Dokumentationen und Filmen. Adressen und Kontaktdaten zu Selbsthilfeverbänden und -gruppen komplettieren diesen Abschnitt.
Beinahe alle Fallbeschreibungen weisen gemeinsame themenspezifisch typische Problematiken auf wie die elterliche Sprachlosigkeit, die Tabuisierung der psychischen Erkrankung den Kindern gegenüber, die zu Schuldgefühlen, großer Verunsicherung und Überangepasstheit bis hin zu Verantwortungsübernahme für den erkrankten Elternteil (Parentifizierung) führte. Alle Betroffenen berichten bis ins hohe Erwachsenenalter hinein über Schwierigkeiten eigene Gefühle, Bedürfnisse und Wünschen fühlen und kommunizieren zu können. Misstrauen prägt häufig ihre Haltung zu Mitmenschen und teilweise können keine wohltuenden Bindungen und Beziehungen aufgebaut werden. Auch hat sich ein überraschend großer Teil der Befragten aufgrund der eigenen so belasteten Kindheit gegen eigene Kinder, einen eigenen Kinderwunsch entschieden. Aus allen Fallerzählungen wird die in der Fachliteratur häufig genannte Bedeutung anderer liebevoller verlässlicher Bezugspersonen als Kompensation der geschwächten Beziehung zu erkrankten Eltern sichtbar. Umso mehr fällt dies in Familien mit einem alleinerziehenden erkrankten Elternteil ins Gewicht, in denen die Kinder und Jugendlichen aufgrund der immer noch ungenügenden Kooperation zwischen psychiatrischer Versorgung und Jugendhilfe mehr oder minder unversorgt blieben und immer noch bleiben. Eindrücklich ähnlich sind zudem die vielen Distanznahmen der Betroffenen, die von Schuljahren im Ausland, über sehr frühe Berufsausbildungen bis hin zu Kontaktabbrüchen und Auswanderungen reichen. Gleichzeitig reflektieren alle Betroffenen auch eigene Stärken, die sie in Zusammenhang mit ihren belasteten Kindheiten bringen, sie streichen die hilfreiche Funktion von Psychotherapien, Selbsthilfegruppenarbeit und regelmäßigem Austausch mit anderen Betroffenen heraus, um trotz der erlebten Beschädigungen zu einem erfüllten Leben zu gelangen.
Beispielhaft kann ein Bericht exemplarisch zusammengefasst werden: So erzählt eine 38- jährige Tochter einer als „schizoaffektiv“ diagnostizierten Mutter ihr andauerndes Gefühlswirrwarr als Kind angesichts normaler und manisch-psychotischer Phasen, in denen sie die Mutter „verlor“. Allerdings hatte sie kompensierend gute Beziehungen zu zwei älteren Geschwistern und einen Vater, der sich als tragfähiges Elternteil zur Verfügung stellte. Trotzdem gab es den Wunsch, ganz weit weg zu wollen, den sie sich als Jugendliche durch ein Schuljahr in einer Gastfamilie in Australien erfüllt. Großen Raum nimmt in ihrer Erzählung die Notwendigkeit ein, sich abzugrenzen, aus der Rollenumkehrung der Fürsorgenden für ihre Mutter ein Stück auszusteigen und sich ein Überfordertsein einzugestehen. Interessant ist, dass die Fallerzählerin ihren ursprünglichen Entschluss, aufgrund der eigenen Erfahrungen selbst keine Kinder haben zu wollen, aktuell gerade aufzubrechen beginnt, sie sich selbst als resilient und mit wachsender Zuversicht versehen wahrnimmt.
Diskussion
Obwohl dieser aus Erfahrungsberichten bestehende Band nicht als klassische Fachliteratur gelten kann, zeigen sich darin die in der aktuellen Forschung herausgearbeiteten typischen Folgen für Kinder psychisch erkrankter Eltern(teile) vor allem im Kontext früher sicherer Bindungserfahrung. Damit entsprechen die Erfahrungsberichte den Ergebnissen von Erhebungen über betroffene Söhne und Töchter, ein Bereich, der lange vernachlässigt war. Insofern eignet sich der Band nicht nur für andere Betroffene, sondern sensibilisiert und qualifiziert auch Professionelle im Feld wie Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Pädagog*innen, Therapeut*innen usw.
Fazit
„Unsichtbare Narben“ versammelt 12 Erfahrungsberichte von erwachsenen Söhnen und Töchtern von Eltern(teilen) mit schweren psychischen Erkrankungen, in denen die vielfältigen, lebenslangen Auswirkungen der belasteten Kindheit anschaulich werden. Fachlich und thematisch gut nachvollziehbar spiegeln sich in den Erzählungen die typischen, auch in der aktuellen Forschung nachgewiesenen Problematiken wie die Beschädigung des Selbstwerts und der wichtigen frühen sicheren Bindung, eine große Verunsicherung sich selbst und anderen gegenüber, die Umkehrung der Rollen Kind/Elternteil (Parentifizierung) und großer Schmerz/Wut über eine verlorene Kindheit wider. Gleichzeitig eröffnen die Biographien Möglichkeiten der Aufarbeitung, Reflexion und Neubewertung des Erlebten.
Rezension von
Prof. Dr. Lisa Niederreiter
Kunst- und Sonderpädagigin, Kunsttherapeutin, Künstlerin
Professorin an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
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