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David Graeber, David Wengrow: Anfänge

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2023

Cover David Graeber, David Wengrow: Anfänge ISBN 978-3-608-98508-5

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 672 Seiten. ISBN 978-3-608-98508-5. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.

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Die Menschheit erfindet sich neu – durch indigene Kritik?

Immer schon werden die Menschen – philosophisch, anthropologisch, gesellschaftlich, politisch und aktualistisch – aufgefordert, sich zu verändern. Die Richtungen und Zielsetzungen dabei sind immer bestimmt von den jeweils vorherrschenden Zu- und Umständen. Angesichts der Warnungen, wie sie bereits vor einem halben Jahrhundert vom Club of Rome ausgesprochen wurden, dass die (ökonomischen) Grenzen des Wachstums erreicht seien, und wie sie erneut die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ vor fast drei Jahrzehnten erneuert hat – dass die Menschheit vor der Herausforderung steht, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren und neue Lebensformen zu finden – wird immer wieder der individuelle und kollektive, lokale und globale Perspektivenwechsel gefordert. Es sind Fragen danach, wie die Menschheit geworden ist, was und wie sie ist. Es ist die Nachschau nach dem Vergangenen, der Blick auf die Gegenwart und die Vision in die Zukunft, die den wissenschaftlichen Diskurs und das Hoffen und Zweifeln über den Zustand der Welt bestimmt. Die zunehmenden Krisen, natur- und menschengemachten Katastrophen vermitteln mittlerweile eine Ahnung, dass die Menschen in ihrem bisherigen „Immer-Mehr“- Denken und Tun und ihrem Bewusstsein, alles machen zu dürfen, was sie können (oder zu können meinen), nicht den Mehrwert, sondern das Ende der Menschheit bewirken (vgl. z.B. dazu auch: Carlo Masala, Weltunordnung, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/30292.php).

Entstehungshintergrund und Autorenteam

„Eine andere, bessere Welt ist möglich“ – diese vielfach und in unterschiedlichen Varianten formulierte Hoffnung und Zielsetzung, dass es gelingen möge, allen Menschen ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Dasein auf der Erde zu ermöglichen und für alles Leben und Existieren in der Welt nachhaltige Bedingungen zu schaffen, wird immer wieder von ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, rassistischen und populistischen Verhaltensweisen ge- und verhindert. Der Anthropologe David Graeber (+2020) und der Archäologe und Ethnologe David Wengrow haben in rund einem Jahrzehnt ein Gedanken- und Dialog-Experiment durchgeführt: Wie kann es gelingen, anthropologisch, kultur-und naturwissenschaftlich zu erkunden, für die Menschheit eine bessere Gegenwart und Zukunft zu denken? Sie richten dabei ihre Aufmerksamkeit auf Fragen, wie in der Menschheitsgeschichte kollektive Organisationsformen und Systeme entstanden sind, und wie diese positiv oder negativ, förderlich oder hinderlich auf Erwartungshaltungen wie Glück, Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität… gewirkt haben; wie sie kapitalistische, ego- und eurozentristische oder soziale, gemeinschaftsbildende Entwicklungen förderten oder verhinderten. Sie betrachten dabei die Zeitspanne von rund 30.000 Jahren und analysieren, welche Imponderabilien bis heute bemerkbar und wirksam sind.

Aufbau und Inhalt

Wengrow, der Überlebende, legt in vierter Auflage die Ergebnisse dieses Denk- und Schreibprojektes vor; es sei kein Flickenteppich, sondern eine Synthese dieses Dialogs, Sammelns, Koordinierens, Kommentierens, Korrigierens und Komplettierens zur Frage, wie eine neue Menschheit möglich werden kann.

Aufbau und Inhalt

Das Autorenteam gliedert ihr Denk- und Analyse-Werk in elf Kapitel und beendet es mit der Vision für eine neue Menschheit. Im ersten Kapitel wird mit dem Titel „Abschied von der Kindheit der Menschheit“ die ethische, religiöse Urfrage nur angerissen, ob der Mensch gut oder böse ist. Mit der historischen Betrachtung der philosophischen und anthropologischen Entwicklungen richten sie einen neuen Blick auf die überkommenen, festgemauerten, individualistischen Erzählungen und zeigen auf, dass es einer Korrektur bedarf, wie die frühen menschlichen Gemeinschaften sich gebildet haben: hierarchisch und sozial. Mit der existentiellen Frage: „Was ist der Ursprung der sozialen Ungleichheit“ outen die Autoren ihre Unzufriedenheit und Unverständnis, dass gegen die ungerechten, scheinbar festgemauerten, kapitalistischen Entwicklungen, dass die Reichen immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden.

Im zweiten Kapitel „Sündhafte Freiheit“ setzen sie sich auseinander mit den historischen Meinungsbildnern, wie z.B. mit Jean-Jacques Rousseaus Diktion von der Ungleichheit der Menschen und die Auslegung als Tatsache und Natürlichkeit. Er und die Apologeten haben mit ihrem Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch jede Form von „indigener Kritik“ getilgt.

Mit dem dritten Kapitel wollen die Autoren „die Eiszeit auftauen“. Der das Denken hemmende Mythos, dass es in den frühen menschlichen Entwicklungen Einheitlichkeit gegeben habe, die letztlich Gemeinschaften möglich machte, wird mit zahlreichen historischen und Forschungsbelegen widerlegt: Es ist immer die Vielfalt, die eine Conditio Humana möglich macht: „Sehen wir ein, dass unsere frühen Vorfahren… uns nicht nur kognitiv, sondern auch intellektuell ebenbürtig waren“.

Das vierte Kapitel thematisiert „Freie Menschen, der Ursprung der Kulturen und die Entstehung des Privateigentums“. Mit dem weiteren historischen Schritt vom Paläolithikum in Richtung Neuzeit wird den Fragen nachgegangen, wie sich soziale Gruppierungen, als Priesterkasten, Kriegsaristokraten und Herrschen bildeten und etablierten, gleichzeitig aber egalitäre Formen der Jäger und Sammler ein kurzzeitiges Ökonomisieren und Versorgen schufen. Antworten auf Fragen, wie diese Entwicklungen in den historischen Darstellungen gesehen, betrachtet, bewertet und schließlich als allgemeingültige, „wahre“ Geschichtsschreibung mythisiert und etabliert wurden, lassen sich durch ein anderes Lesen und Auslegen von Dokumenten und Erzählungen finden.

Im fünften Kapitel wird mit dem Titel „Vor langer Zeit“ nach den Ursachen und Gründen gefragt, wie sich bei Ethnien unterschiedliche kulturelle Verhaltensweisen, Lebens- und Produktionsformen bilden konnten, etwa, „warum kanadische Jäger und Sammler Sklaven hielten und ihre kalifornischen Nachbarn nicht“. Es ist die „ewige“ Auseinandersetzung über Wertigkeit, Nützlichkeit und Machbarkeit bei kulturellen Differenzierungen, die fragwürdig werden lässt, ob diktierte, gemachte, gewollte oder ungewollte Herrschaft und Macht Mentalitäten und Einstellungen stärker form(t)en als individuelle, zufällige oder gezielte Entwicklungen: „Herrschaft beginnt im eigenen Heim“.

„Die Adonis-Gärten“ (Platon) als Begründung für den bedeutsamen Schritt des Nomaden zum Ackerbauern, verdeutlichen, dass der kluge Landmann den Samen „nach den Regeln der Kunst des Landbaues aussäht“ (und nicht, weil er gerade Lust dazu hat oder ein Spiel spielen will…), werden im sechsten Kapitel thematisiert. Der Bauer, als der Macher, der Pflüger Ernter, Domestizierer und Herrscher des Feldes, ist ohne die Bäuerin, als Hüterin des Hauses, als Erzieherin und Gebildete, verloren – diese Erklärung der Arbeitsteilung und Machtdifferenzierung wird durch neuere Forschungen und archäologischen Funde in Frage gestellt.

Die landwirtschaftliche Produktion und ländliche Lebensform als Muster für Herrschaft? Im siebten Kapitel mit dem Titel „Die Ökologie der Freiheit“ setzen sich die Autoren mit den lokalen und globalen landwirtschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie widerlegen die Erzählung, wie sie als Auslegung und Etablierung unseres Geschichtswissens sich verselbstständigte, dass nämlich der „Fruchtbare Halbmond des Nahen Ostens“ als Geburtsstätte des Wirtschaftens gälte – und damit auch als Begründung für das weltweit praktizierte teleologische Denken herhalten könne. Fragen wie: „Was taten all die Menschen, die keine Landwirtschaft betrieben?“, öffnen den Blick auf (vergessene) Zusammenhänge von Mensch und Natur.

Mit „Imaginäre Städte“ wird im achten Kapitel die urbane Entwicklung diskutiert. Ist der in der Geschichtsschreibung gefestigte Prozess haltbar, dass die Jäger und Sammler in der Ebene sich folgerichtig zu städtischen Gemeinschaften zusammenschlossen, um sich besser verteidigen und besser leben zu können? Archäologen haben immer wieder die (zivilisatorische) Erzählung „Stadtluft macht frei“ durch ihre Funde relativiert, aber auch bestätigt. Evolutionäre und revolutionäre Entwicklungen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Sozial, solidarisch, kommunikativ und empathisch zu denken und zu handeln, das sind humane Forderungen an die Menschheit. Sie verwirklichen sich meist nicht in großen Würfen und spektakulären Projekten, sondern sie schlummern oft im Verborgenen. Im neunten Kapitel wird dies an den indigenen Ursprüngen des sozialen, demokratischen Wohnungsbaus aufgezeigt, und zwar am Beispiel des Aztekischen Dreibundes im 12. Jahrhundert. Die Stadt Teotihuacán wurde bewusst egalitär gebaut und entwickelt. Durch den bewussten Verzicht von Pracht-, Macht- und Präsentationsbauten, und dem Ausbau von Lebens- und Wohnbereichen für alle Bewohner, sogar die Praktizierung von Sozialfürsorge-Experimenten, können Parallelen und Bezüge zu Heute gezogen werden.

Mit der (irritierenden?) Frage, „warum der Staat keinen Ursprung hat“, kratzen die Autoren an den Fundamenten des zôon politikon (Aristoteles). Ein „Staat“ ist nach der aktuellen Definition eine gemeinschaftliche Einrichtung, „die ein Monopol darauf beansprucht, Zwangsgewalt innerhalb eines bestimmten Territoriums legitim anzuwenden“ (Rudolf von Jhering). Die sich daraus ergebenden Strukturen – Gewalt-, Informationskontrolle, Charisma – sind Grundordnungen, die notwendig sind, ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes Zusammenleben der Menschen zu garantieren; soweit, so gut – aber kommen wir mit diesen zivilisatorischen Markern weiter, oder lässt sich unser zivilisatorisches Bewusstsein vom modernen Nationalstaat nicht (korrigieren) ergänzen durch den indigenen Blick?

Im elften Kapitel stellen die Autoren fest: „Der Kreis schließt sich“. Der „indigene Blick“ ist eine Kritik an den festgefügten, dokumentierten und verfassten Urkunden, die sich als unwiderlegbar und naturwüchsig zeigen. Es bleibt die Ursachen-Frage, die in der historischen Nachschau von individuellen und kollektiven Entwicklungen, wie auch im aktuellen, globalen Bezug die Menschenrechte bestätigt. Sie gründen auf der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, die (die) Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.

Im zwölften, letzten Kapitel wird die Aufforderung beim Diskurs über die Vergangenheit, Gegenwart zu Zukunft der Menschheit wiederholt, alternative Fragen zu stellen. Vielleicht lässt sich die sibyllinische Aussage stellen: „Aufklärung ist gut – Aufklärung ist besser!“. Denn: Die Erzählungen über die Geschichte der Menschheit gleichen der obskuren Erkenntnis vom „Wechsel von kleineren in größere Käfige“.

Diskussion

Es ist ein Abenteuer, ein Wagnis und ein spannendes Projekt, wenn im wissenschaftlichen Diskurs der Blick über den eigenen fachlichen Gartenzaun gerichtet wird. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist heute, beim ganzheitlichen Bewusstsein, unerlässlich. Fragen, wer wir sind, und wie wir geworden sind, was wir sind, sein und werden wollen, sind ein Muss und existentielle Herausforderungen. Wenn sich ein Anthropologe und ein Archäologe zusammentun, ist das (Aus-)Graben und Entdecken im tatsächlichen und nachdenklichen Sinn ein notwendiges Unterfangen. Der leider viel zu früh verstorbene Anthropologe David Graeber hat über Jahrzehnte hinweg immer wieder gegen den Stachel gelöckt und Widerworte gegen allzu bequeme, vereinfachte und simple Einstellungen gebraucht: „Da kann man sowieso nichts machen!“ – „Das haben wir noch nie/schon immer so gemacht!“ (vgl. dazu auch: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13337.php sowie: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13486.php). Der Londoner Archäologe David Wengrow forscht zu den Entwicklungen von Zivilisationen (Was ist Zivilisation? Die Zukunft des Westens und der Alte Orient, 2023). Wie frühe Staaten sich gebildet haben, bestanden und vergangen sind, hat der US-amerikanische Politologe James C. Scott herausgearbeitet (Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26099.php). Der Historiker und Archäologe Ian Morris fragt: „Wer regiert die Welt?“ (2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php). Der Originaltitel des bei Allen Lane, Penguin Random Haus, London, 2021 erschienenem Buches lautet: „The Dawn of Everything. A New History of Humanity“. Die deutsche Übersetzung „Anfänge“ ist, weil eher viel- wie nichtssagend, nicht sehr gelungen.

Fazit

Die umfangreiche Studie mit dem Anspruch, eine neue Geschichte der Menschheit zu schreiben, gelingt – weil sich die beiden Autoren bemühen, die historischen Scheuklappen abzulegen und mit der „indigenen Kritik“ neue Blickrichtungen über festgefügte, festgeschriebene, überkommene Erzählungen hinaus lenken.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.03.2023 zu: David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-608-98508-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29159.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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