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Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 12.05.2022

Cover Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ISBN 978-3-8471-1255-6

Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte. V&R unipress (Göttingen) 2021. 367 Seiten. ISBN 978-3-8471-1255-6. D: 60,00 EUR, A: 62,00 EUR.
Reihe: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik / Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik - Band 24.

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Thema

Historische Bildung bedarf weitergehender konzeptioneller Überlegungen, um inklusiv zu sein. Um insbesondere Schüler_innen mit geistiger Behinderung zu erreichen „setzt sich [Rein] mit grundlegenden Konzepten zum Geschichts- und Zeitbewusstsein auseinander und überlegt, welche Ressourcen und Barrieren insbesondere für Schüler*innen mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung darin auffindbar sind“ (Klappentext). Ergänzt werden die Überlegungen durch eine qualitativ-empirische Studie zur historischen Sinnbildung der Zielgruppe.

Autorin

Dr. Franziska Rein ist an einem Sonderpädagogischem Bildungs- und Beratungszentrum im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beschäftigt und darüber hinaus als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PH Ludwigsburg in der Abteilung Geschichte tätig.

Entstehungshintergrund

Menschen mit geistiger Behinderung wurde lange Zeit Geschichtsbewusstsein bzw. die Fähigkeit, Vergangenheit zu überblicken, abgesprochen, „man unterstellte ihnen oftmals kategorisch, sie könnten ihre jeweilige Gegenwart weder im Rahmen der eigenen Vergangenheit oder Zukunft, geschweige denn über die jeweilige Lebenszeit hinaus, gedanklich überschreiten. Das führte zum Vorurteil, die eigene Biografie nicht zu überblicken und die Welt sowie sich selbst nicht im Zusammenhang von Historizität reflektieren zu können“ (S. 12–13).

Die vorliegende Arbeit möchte dementsprechend einen Beitrag zur Inklusion der Personengruppe leisten, indem auch die Fachdidaktik, hier die Geschichtsdidaktik, einen Einbezug leistet. 

Aufbau und Inhalt

Die vorliegende Publikation enthält eine Danksagung (Kap. I), eine Einleitung (Kap. II) sowie

III Theoretische Grundlagen

1. Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

Zunächst wird der Terminus der geistigen Behinderung aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven erörtert (1.1), um anschließend den aktuellen Stand des historischen Lernens im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu skizzieren (1.2).

2. Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

Um zum Kern der Arbeit, der historischen Bewusstseinsbildung, zu kommen, wird Geschichtsbewusstsein (2.1) mit den verschiedenen Facetten: Sinn (2.1.1), Verknüpfung von Zeitebenen (2.1.2), historischer Urteilsbildung (2.1.3), historischer Narration (2.1.4), Erklären und Verständnis (2.1.5), Erfahrung (2.1.6), Alterität (2.1.7) sowie Grenzen des Geschichtsbewusstseins (2.1.8) erläutert. Deutlich wird, dass es bestehende Barrieren gibt, die einen inklusiven Zugang zu Geschichte verhindern, diese sind insbesondere die Vorstellung rationaler Vernunft sowie das Einfordern spezifischer kognitiver und sprachlicher Fertigkeiten.

Daran schließt sich das Zeitbewusstsein (2.2) an, das einen neuen Ansatz zur Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung darstellen könnte. Konkretisiert werden diese Überlegungen in den folgenden Ausführungen zu innerem Zeitbewusstsein (2.2.1), Vernunft des Leibes (2.2.2), Handlungssinn (2.2.3) sowie sedimentierter und elaborierter Geschichte (2.2.4). Die Ausführungen tragen dazu bei, eine andere Herangehensweise zur Auseinandersetzung mit historischen Inhalten zu schaffen, indem insbesondere Menschen einbezogen werden können, die von Kommunikation über Geschichte bislang eher ausgeschlossen waren.

Der Bezug zur eigenen Biografie, der durch die eigene Lebensgeschichte zu historischer Sinnbildung (2.3) beiträgt, bietet einen weiteren Ansatz zum historischen Lernen. Dieser wird vertieft in Ausführungen zur Biografiearbeit mit Personen mit geistiger Behinderung (2.3.1), der subjektiven Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte (2.3.2), der Gestaltung des Übergangs von Schule zu Beruf (2.3.3) und der persönlichen Zukunftsplanung (2.3.4). Das Erinnern eigener Erfahrungen bietet einen niedrigschwelligen Zugang zur Wahrnehmung historischer Entwicklungen und kann damit einen Beitrag zur Inklusion liefern.

Abschließend werden zwei Ebenen historischen Bewusstseins differenziert (2.4), die Ebene des biografisch-historischen Bewusstseins (2.4.1) und die Ebene des elaboriert-historischen Bewusstseins (2.4.2).

IV Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

3. Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung

Nach den Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit, wird nun das methodische Vorgehen erörtert. Dazu gilt es, die Erhebung subjektiver Theorien (3.1), ethisch verantwortungsvolle Forschung (3.2), Anforderungen an das gewählte Forschungsdesign (3.3), das Repertory Grid Interview (3.4) mit den Aspekten Personal Construct Psychology (3.4.1), Methodik der Erhebung (3.4.2) und Methodik der Auswertung (3.4.3) sowie das Repertory Grid Interview mit Personen mit geistiger Behinderung (3.5) mit den Aspekten Pretest (3.5.1), Durchführung der Interviews (3.5.2) und Vorgehen bei der Auswertung (3.5.3) in den Blick zu nehmen. Im Fokus dieser methodischen Überlegungen stehen Zugangsmöglichkeiten zu subjektiven Konstrukten von Zeit, Vergangenheit und damit Geschichte.

4. Erhebung persönlicher Konstrukte mit der Repertory Grid Methodik

Nach der allgemeinen Darlegung der methodischen Grundlagen erörtert Rein in Kapitel 4 die Forschungsteilnehmer_innen (4.1), individuelle Lernvoraussetzungen (4.2), die Ergebnisse der subjektiven Sinnzuweisung durch biografische Erfahrungen (4.3) durch Darstellung und Interpretation (4.3.1), aufgeschlüsselt nach Teilnehmer_innen (4.3.1.1-4.3.1.7), die Abschlussgespräche (4.3.2), die Ergebnisse im Zeichen des historischen Bewusstseins (4.3.3), wieder differenziert nach biografisch-historischem Bewusstsein (4.3.3.1) und elaboriert-historischem Bewusstsein (4.3.3.2), sowie den Einfluss des Praktikumskontexts (4.3.4). Durch eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse – aufgeteilt nach den Teilnehmer_innen – lässt sich der Prozess der Interpretation und Deutung der Ergebnisse transparent nachvollziehen.

V Fazit

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

Die Publikation endet mit Schlussfolgerungen zu den Chancen der Repertory Grid Methodik (5.1), den Gestaltungsmöglichkeiten des Übergangs von Schule in den Beruf (5.2), den Veränderungen der Geschichtsdidaktik (5.3), der historischen Sinnbildung der Teilnehmer_innen (5.4) und den Möglichkeiten, die aus der Arbeit entstehen können (5.5). Abschließend lässt sich festhalten, „ebenso verwiesen die Ergebnisse darauf, dass jede*r Teilnehmer*in zu einem (darauf aufbauenden) bewussten, kognitiv-sprachlich reflexiven elaboriert-historischen Sinnbildungsprozess in der Lage ist“ (S. 347).

Die Publikation schließt mit Abbildungsverzeichnis (Kap. VI) und Literaturverzeichnis (Kap. VII).

Diskussion

Der Ausschluss von Menschen mit geistiger Behinderung aus historischer Bildung – aufgrund der Annahme, dass sie kein Bewusstsein für historische Vorgänge haben – ist indiskutabel hinsichtlich eines inklusiven Anspruches von Bildung. Dementgegen wirkt die vorliegende Dissertation von Rein, die als methodisches Vorgehen Zeitbewusstsein als Vorläufer von Geschichtsbewusstsein nutzt, um historische Sinnbildung von Menschen mit geistiger Behinderung aufzuzeigen. Durch die bislang erst in geringer Anzahl vorliegenden Publikationen zu Grundlagen historischer Bildung bei Menschen mit geistiger Behinderung fehlen Hinweise zur Umsetzung und zur Vermittlung, Rein schließt eine weitere Lücke im Grundlagenbereich.

Die Wahl mit Biografiearbeit am Übergang zwischen Schule und Beruf zu forschen, hat viele Vorteile, die auch für weitere Forschungsvorhaben genutzt werden können. Durch den Alltagsbezug lassen sich wesentliche Erkenntnisse aus Perspektive der Teilnehmenden gewinnen.

Das sehr kleinschrittige Vorgehen ermöglicht einerseits die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen, andererseits birgt es die Gefahr, die Orientierung im Gesamtkontext ein Stück weit zu verlieren.

Die abschließenden Schlussfolgerungen mit Ausblick hätten stellenweise noch ein Stück konkreter sein können, bieten aber wesentliche Impulse dazu, historische Bildung allen Menschen zugänglich zu machen, „denn niemand – auch nicht Menschen mit geistiger Behinderung – führt ein geschichtsloses Leben“ (S. 347).

Weitere Anschlussforschung zum elaboriert-historischen Bewusstsein erscheint sinnvoll; insbesondere die Geschichtsdidaktik wird durch die Publikation aufgefordert, die eigene Arbeit hinsichtlich inklusiver Elemente zu reflektieren und zu öffnen. Dazu bedarf es eines stärkeren Einbezugs von Wünschen und Bedarfen der Zielgruppe sowie einer Erweiterung der Vorstellungen von Inhalten und Gestaltung historischer Bildung.

Fazit

Es ist der Autorin gelungen, einen innovativen Blick auf das Verständnis historischer Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung zu werfen. Durch ihre fachliche Expertise und Darlegung differenzierter Ergebnisse bieten sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten für weitere dezidierte Forschung zu historischer Bildung in Verknüpfung mit (geistiger) Behinderung.

Insbesondere inklusive historische Bildung lässt sich auf Grundlage der Ausführungen weiter vorantreiben, wenn „würde Zeitbewusstsein in der Didaktik verortet, könnte, so Völkels Vorschlag folgend, dem Denken und der Sprache, das Handeln komplementär an die Seite gestellt werden. Das schafft Raum für eine inklusive Geschichtsdidaktik“ (S. 344).

Das Buch kann allen Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften, Mitarbeiter_innen außerschulischer Bildungseinrichtungen, Museumspädagog_innen, Forschenden aus den beteiligten Fachdisziplinen und Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen uneingeschränkt empfohlen werden.

Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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Zitiervorschlag
Karoline Klamp-Gretschel. Rezension vom 12.05.2022 zu: Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte. V&R unipress (Göttingen) 2021. ISBN 978-3-8471-1255-6. Reihe: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik / Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik - Band 24. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29160.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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