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Stefan Timmermanns, Niels Graf et al.: "Wie geht’s euch?"

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 17.02.2022

Cover Stefan Timmermanns, Niels Graf et al.: "Wie geht’s euch?" ISBN 978-3-7799-6443-8

Stefan Timmermanns, Niels Graf, Simon Merz, Heino Stöver: "Wie geht’s euch?". Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 150 Seiten. ISBN 978-3-7799-6443-8. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Die vorliegende Publikation von Stefan Timmermanns, Niels Graf, Simon Merz und Heino Stöver stellt die Ergebnisse einer deutschsprachigen Online-Befragung zur Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und queeren Personen (LSBTIQ*) mit einem n von 8.700 auswertbaren Fragebögen vor. Theoretisch zugrunde gelegt wird das Minority-Stress-Modell. Auf seiner Basis werden in der Studie Fragen der Lebenssituation, des Wohlbefindens und gesellschaftlichen Engagements sowie zu Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von sich selbst als LSBTIQ* identifizierenden Personen adressiert.

Autor

Niels Graf ist am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung der Katholischen Hochschule NRW tätig und forscht dort u.a. zu sexueller und geschlechtlicher Identität und Substanzgebrauch.

Simon Merz ist Kommunikationswissenschaftler und arbeitet als Jugendbildungsreferent in der queeren Stiftung Akademie Waldschlösschen.

Heino Stöver ist Professor für Sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Frankfurt (University of Applied Sciences).

Stefan Timmermanns ist Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Frankfurt (University of Applied Sciences). Er war Mitarbeiter von pro familia, der Deutschen AIDS-Hilfe und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik.

Aufbau und Inhalt

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um einen klassischen Forschungsbericht. Nach einer knappen Einführung und theoretischen Verortung wird das methodische Vorgehen erläutert und werden schließlich die Ergebnisse präsentiert. Die Ergebnisdarstellung ist wie folgt gegliedert:

  • Coming-out von LSBTIQ*
  • Soziale Kontakte, Freizeit und Community
  • Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen
  • Physisches und psychisches Wohlbefinden

Eine Zusammenfassung und Schlussbemerkung beschließt den Band.

Inhaltsbeschreibung

Die beiden mit insgesamt 14 Seiten prägnant gehaltenen einführenden Kapitel leisten die Verortung der Studie „Wie geht’s euch?“ in der internationalen und bundesweiten Forschungslandschaft, wobei sowohl die Bedeutung von Untersuchungen größerer deutscher und internationaler (insb. EU-europäischer) Institutionen als auch von Selbstorganisationen (wie die erste deutschsprachige intersektionale Studie „…nicht so greifbar und doch real“ [LesMigras 2012]) gewürdigt werden. Bereits bei diesem Studienüberblick werden Belastungserfahrungen für LSBTIQ*-Personen deutlich, die anschließend mit dem Minority-Stress-Modell gefasst werden. Aufgrund von Erfahrungen (Marginalisierung, Diskriminierung, Gewalt) bildeten sich spezifische Verhaltensweisen aus, die einerseits ungünstig wirkten, andererseits durch die positive Bewältigung herausfordernder Situationen zu Ressourcen und Resilienzen bei den „betroffenen“ Individuen führen könnten.

Im sich anschließenden dritten Kapitel wird das Methodische Vorgehen von „Wie geht’s euch?“ vorgestellt. Erläutert werden Fragebogengestaltung, ethische Standards und Akquise-Vorgehen. Es handelte sich um eine Online-Erhebung, die an Personen ab 16 Jahre gerichtet war und die breit über Verbände gestreut wurde. Im Ergebnis liegt eine Erhebung vor, die zwar nicht repräsentativ für die Gesamtheit von LSBTIQ* in Deutschland ist, aber aufgrund der Größenordnung der Teilnehmenden (n = 8.700) aussagekräftige Ergebnisse zu den Forschungsfragen liefert. (Die begrenzte Repräsentativität gilt für umfassende sexualwissenschaftliche und diversitätsorientierte Erhebungen per se, da sich durch die sensiblen Thematiken und gute ethische Orientierung auf Freiwilligkeit stets ein hoher Drop-out ergibt, sodass die Reichweite der Aussagen beschränkt ist.) Gute Aussagekraft liefert die vorliegende Untersuchung insbesondere für cis-männliche Personen, die mit 76 % das Gros der Stichprobe ausmachen. Knapp 14 % der Teilnehmenden sind cis-weiblich. Absolut 658 Personen (7,6 %) sind trans*, 160 (1,8 %) gender*divers und 45 (0,5 %) inter*. In Bezug auf die sexuelle Orientierung verorten sich rund zwei Drittel der Teilnehmenden als schwul, 9,4 % als lesbisch, 13,9 % als bisexuell; eine orientierungs*diverse oder pansexuelle Orientierung geben zusammen 9,0 % der Befragten an, 0,6 % (54 Personen) ordnen sich als asexuell ein. Wie bei umfassenderen Online-Erhebungen üblich, ergibt sich ein Bildungs- bzw. ökonomischer Bias, zudem sind jüngere Personen überrepräsentiert.

Die zentralen Kapitel des Buches widmen sich der Ergebnispräsentation. Dabei wird zunächst auf die Frage des „Coming-outs von LSBTIQ*“ eingegangen. Die eigene klare identitäre Verortung war zentrale Basis der Untersuchung. Thematisiert werden alle Phasen des Coming-out-Prozesses: erstes Spüren, erstes Benennen, erstes Erzählen, offen leben. Die gefunden Häufungen in Bezug auf diese Ereignisse in den verschiedenen Altersspannen decken sich mit anderen Erhebungen und geben Hinweise für angepasste Unterstützungsarbeit. Auffallend sind etwa die Angaben für trans* Personen, die bei über 50 % ein „erstes Spüren“ im Alter von 0 bis 10 Jahren benennen.

Auch für „Soziale Kontakte, Freizeit und Community“ bestätigt die Studie bereits vorliegende Erkenntnisse. Allgemein gesagt, handelt es sich bei der „LSBTIQ*-Community“ um eine gesellige und sehr kommunikative Zielgruppe. Das zeigt sich in den Freizeitaktivitäten, aber auch an einem ausgeprägten gesellschaftspolitischen Interesse (wobei letzteres auch im Zusammenhang mit dem Bildungs- bzw. ökonomischen Bias der Stichprobe steht). Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Tendenz zeigt sich – in besonderem Maß bei inter* und bei trans* Personen, aber auch bei Asexuellen – Einsamkeit verbreitet.

Schließlich reihen sich auch die Ergebnisse zu „Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen“ sowie „Physischem und psychischem Wohlbefinden“ weitgehend in diejenigen anderer Untersuchungen ein – zuletzt etwa der umfassenden EU-europäischen Studie der Fundamental Rights Agency (2020). Diskriminierungen sind sowohl in der Öffentlichkeit und im medizinischen Bereich als auch in der Familie an der Tagesordnung. Erfreulich scheint hier eine leicht positive Tendenz im gesundheitlichen Bereich: Immerhin geben nun etwa 60 % der befragten Trans*, Gender*diversen und Inter* an, hier keine Diskriminierung erlebt zu haben; auch Diskriminierung in der LSBTIQ*-Community wird von diesen Personengruppen in geringerem Maß als in anderen Studien berichtet. Etwa 70 % der trans* und gender*diversen haben in der LSBTIQ*-Community keine Diskriminierung erlebt, hingegen hat etwa die Hälfte der Inter* dort Diskriminierung erfahren. In Bezug auf Gewalt wird körperliche Gewalt am häufigsten von schwulen und bisexuellen cis-Männern berichtet (jeweils rund 50 %). Sexualisierte Gewalt haben hingegen deutlich am häufigsten lesbische (47 %) und bisexuelle cis-Frauen (58 %) erfahren. Die Suizidalität ist geringer als in anderen Studien: Der höchste Wert zeigt sich bei trans* Personen. Hier gaben 16 % der Befragten an, dass sie mindestens einen Suizidversuch unternommen haben – andere bundesweite und internationale Studien ermittelten hier regelmäßig Werte zwischen 30 und 40 %.

Diskussion

„Wie geht’s euch?“ bestätigt, das LSBTIQ* besonderen, herausfordernden Lebensbedingungen unterliegen und in großem Maß Diskriminierungs- und/oder Gewalterfahrungen gemacht haben. Punktuell scheint aber eine positive Tendenz auf, die mit der stärkeren gesellschaftlichen Thematisierung von erforderlicher Akzeptanz gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in Verbindung stehen dürfte. So ermittelte die Antigewalt-Studie von LesMigras (2012) noch ganz andere Werte: Von den befragten Trans* hatten 82 % Verachtung und Demütigungen erlebt, 75 % sexualisierte Gewalt, 50 % Diskriminierung in der Ausbildung bzw. am Arbeitsplatz, 44 % Diskriminierung im Gesundheitsbereich. Insbesondere die geringeren Werte, die „Wie geht’s euch?“ in Bezug auf Suizidalität erhoben hat, könnten auf eine positive Tendenz hinweisen.

Allerdings war die Stichprobe von LesMigras (2012) anders ausgerichtet: Besonders marginalisierte Gruppen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen waren, konnten hier in gutem Maß angesprochen werden. „Wie geht’s euch?“ erreichte hingegen überproportional gut gebildete und vergleichsweise ökonomisch besser gestellte Personen. Das liegt jeweils auch an der Studienorganisation: Um in besonderem Maß marginalisierte Gruppen zu adressieren, könnte es sinnvoll sein, ihre Selbstvertretungen in die Studienorganisation einzubeziehen. Das bedeutet gerade, dass auch Selbstvertretungen von Queers of Color, von arbeitslosen sowie obdachlosen Queers direkt für die kooperative Studienorganisation gewonnen werden sollten. Auf diese Weise ließen sich möglicherweise auch die Personengruppen gewinnen, die nicht so gut digital und analog vernetzt sind. Ein solcher Hinweis gilt aber wiederum allgemein für gegenwärtig in Deutschland durchgeführte sexualwissenschaftliche und diversitätsorientierte Studien – und nicht nur spezifisch für diese.

Darüber hinaus wäre es in einer Folgestudie sinnvoll, nicht allein auf die Frage der Identität – und ein damit verbundenes Coming-out – zu fokussieren, vielmehr wäre es wichtig, auch die Jugendlichen und Erwachsenen in Erhebungen einzubeziehen, die spezifische Erfahrungen – etwa mit gleichgeschlechtlichem Sex – machen, sich aber nicht klar identifizieren möchten. Gerade unter Jüngeren ist die Tendenz vorhanden, sich nicht festzulegen und sich selbst Möglichkeitsräume zu eröffnen. Hieraus resultieren spezifische Erfahrungen, die in der Forschung (und der pädagogischen Arbeit) nicht unberücksichtigt bleiben sollten.

Fazit

Für das eigene gesetzte Thema ist „Wie geht’s euch?“ insgesamt eine gut gemachte und reflektierte Studie, die auf einer großen Stichprobe basiert und daraus gute Aussagekraft entwickelt. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse anschaulich und nachvollziehbar vor. Erfreulich ist, dass die Autoren die Grenzen der vorliegenden Studie zudem deutlich benennen, sodass der*dem Lesenden die Einordnung erleichtert wird.

Entsprechend sollte der Band „Wie geht’s euch?“ einen guten Platz in den Bibliotheken sozial- und erziehungswissenschaftlicher Fachbereiche finden und darüber hinaus insbesondere politische Entscheidungsträger*innen und pädagogische Fachkräfte erreichen. „Wie geht’s euch?“ macht auf guter Datenbasis klar, warum die Akzeptanz gegenüber LSBTIQ*-Personen fördernde gesellschaftliche Anstrengungen weiterhin erforderlich sind.

Literatur

Fundamental Rights Agency (2014): Being Trans in the European Union: Comparative analysis of EU LGBT survey data. Wien. Online: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-being-trans-eu-comparative-0_en.pdf (Zugriff: 6.2.2022).

Fundamental Rights Agency (2020): A long way to go for LGBTI equality. Luxembourg. Online: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2020-lgbti-equality-1_en.pdf (Zugriff: 6.2.2022).

LesMigras (2012): „…nicht so greifbar und doch real“: Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 62 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 17.02.2022 zu: Stefan Timmermanns, Niels Graf, Simon Merz, Heino Stöver: "Wie geht’s euch?". Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6443-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29162.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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