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Mario Spiz: Im Banne innerer Machtstrukturen

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 29.08.2022

Cover Mario Spiz: Im Banne innerer Machtstrukturen ISBN 978-3-96543-293-2

Mario Spiz: Im Banne innerer Machtstrukturen. Die Transformation traumatischer Prägungen, Aggressionen und Schattenbereiche in Ressourcen! Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2022. 237 Seiten. ISBN 978-3-96543-293-2. D: 18,95 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 25,50 sFr.

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Thema

Das Buch setzt sich mit den Auswirkungen belastender Kindheits- und Sozialisationserfahrungen und unterdrückter Aggression auf die Körpersensorik und das Gefühlsleben auseinander. Diese frühen Prägungen führen zur Ausbildung negativer „innerer Machtstrukturen“, die bis ins Erwachsenenalter wirksam bleiben. Es wird davon ausgegangen, dass Aggression – wenn sie von ihren destruktiven Inhalten befreit wird – ein Kraftpotenzial darstellt, das als Ressource genutzt werden kann. „Energetische Körper-Therapie“ stellt eine Möglichkeit dar, durch die Erweiterung der sensorischen Körperwahrnehmung nachhaltige Veränderungen der Persönlichkeit zu bewirken.

Autor

Mario Spiz ist Psychologe, Psycho- und Körpertherapeut und arbeitet als Therapeut, Supervisor, Coach und Lehrbeauftragter im von ihm gegründeten „Zentrum für energetische Körper-Psychotherapie und Psychosomatik“ in Zürich.

Aufbau und Inhalt

Das Buch beginnt mit einer sehr persönlichen Schilderung des Autors. Er beschreibt eindrücklich, wie er durch körpertherapeutische Arbeit einen Zugang zu seiner abgewehrten inneren Aggression finden konnte, eine Erfahrung, die für ihn mit einem Empfinden von Lebendigkeit und Lebenskraft verbunden war. Diese eigene transformierende Erfahrung nimmt er als Ausgangspunkt, um die negative Konnotation, die mit Aggression häufig verbunden ist, zu hinterfragen. Er fordert, die durch unterdrückte Aggression gebundenen Potenziale konstruktiv zu nutzen, statt anderen oder sich selbst dadurch zu schaden.

Das zweite Kapitel umfasst eine Zusammenschau neurobiologischer Befunde zum Thema Aggression, die sich vor allem auf die Ausführungen Joachim Bauers[1] stützen und den Schluss nahelegen, dass Aggression eher als reaktives Verhaltensprogramm statt als biologischer Trieb zu verstehen ist. Aggressive Reaktionen und Impulse aus der Kindheit bleiben dauerhaft im Körper verankert, auch wenn sie bewusst nicht mehr spürbar sind. An diese Ausführungen schließt die Darstellung eines Entwicklungs- und Organisationsmodells der Persönlichkeit und des menschlichen Bewusstseins an, an dem sich der Autor orientiert, und das dem neurobiologischen Paradigma einen ganzheitlichen Zugang mit feinstofflich-energetischen und spirituell-seelischen Dimensionen gegenüberstellt. Zwei ausführliche Fallbeispiele beschließen das zweite Kapitel.

Im Anschluss werden die Begriffe „Energie“ und „Kraft“ eingeführt, um im vierten Kapitel das Phänomen Aggression aus energetischer Sichtweise darzustellen. Hier zitiert der Autor ausführlich die energetische Therapeutin Maja Bandelier. Auch diese Darstellung wird durch zwei ausführliche Fallbeispiele illustriert, in denen der Autor seinen ganzheitlich-integralen Therapieansatz „Energetische Körper-Psychotherapie“ vorstellt.

Das fünfte Kapitel behandelt „Schatten und Schattenbereiche“, ein Begriff, der auf C.G. Jung zurückgeht und verdrängte oder abgespaltene Persönlichkeitsanteile bezeichnet, die aber dennoch psychodynamisch wirksam sind. Im folgenden Kapitel wird der Bereich des „Mentalen Schattens“ dargestellt. Dieser wird vom sogenannten „Mentalkörper“ generiert, der die kognitiv-intellektuellen Bereiche der Persönlichkeit umfasst. In diesem Bereich sind auch Abwehrformationen angesiedelt (z.B. der „innere Kritiker“ oder Täterintrojekte), die eine nachhaltige Veränderung etwa von dysfunktionalen Kindheitsprägungen verhindern. Auch hier wird anhand von Falldarstellungen nachgezeichnet, wie durch Körperarbeit ein Eintauchen in frühere belastende Erfahrungen erfolgt, damit sich die Betroffenen autoaggressiv gebundene Energie wieder aneignen können. „Wir beide, Klient:in und ich, steigen in die Höhle des Löwen, stehlen ihm seine Macht und versuchen, wieder heil rauszukommen.“ (Spiz 2022, S. 102)

Zusätzlich zu den „fünf Verbündeten des Mentalkörpers“ beeinflusst die „emotionale Altersregression“, also die unbewusste Regression in Kindheitszustände, das Erleben und Verhalten und blockiert damit Veränderung und Entwicklung. Im achten Kapitel wird beschrieben, wie bewusst geführte Atmung als Zugangstechnik zu Wahrnehmung und Bewusstsein dazu beitragen kann, im Erleben in der Gegenwart zu bleiben. Danach werden Trance-Phänomene beschrieben, die häufig als Schutzmechanismus gegen belastende oder überwältigende Kindheitserfahrungen entwickelt werden.

Im zehnten Kapitel geht es um die „Herz- oder Liebesschatten“, die aus energetischer Sicht entstehen, wenn zurückgewiesene oder verletzte Liebesenergie Gefühle wie Ärger, Verachtung, Hass oder Verbitterung generiert, die abgewehrt werden müssen, weil sie energetisch nicht mit Liebe vereinbar sind. Es folgt die Beschreibung zweier spezifischer Phänomene („zwanghafter Widerstand“ und „selbstschädigende Faszination“), die nach Ansicht des Autors ebenfalls nicht nur kognitiv, sondern auf der Ebene der Körperwahrnehmung analysiert und bearbeitet werden müssen, um tiefliegende frühere Prägungserfahrungen zu verändern. Schließlich werden das Thema Scham und die Verbindung zwischen Aggressionen, Ängsten und Energie erörtert.

In kurzen Abschnitten wird auf die Auswirkungen kollektiver Bedrohungen wie die Covid-19-Pandemie, Möglichkeiten des Übens von Körper-Feedback und das „Spürbewusstsein der Empfindungskognition“ eingegangen. Im vorletzten Kapitel greift der Autor die psychoanalytischen Konzepte von Übertragung und Gegenübertragung auf, die seiner Ansicht nach auch auf somatischen Übertragungswegen vermittelt werden können.

Im letzten Kapitel wird die Frage aufgeworfen, wie Psychotherapie nachhaltig wirken kann und warum viele Klient:innen trotz Psychotherapie später wieder in ihre alten Verhaltensmuster verfallen. Auch hier plädiert der Autor dafür, weniger an den damit verbundenen Kognitionen zu arbeiten, sondern die Aufmerksamkeit auf die Körpersensorik und verfestigte Körperreaktionen zu fokussieren.

Diskussion

Leser:innen, die mit dem Hintergrund des Autors nicht vertraut sind, mögen bei der Lektüre dieses Buchs möglicherweise zunächst verwirrt sein: Das Buch beginnt mit der Offenlegung einer persönlichen transformierenden Therapieerfahrung des Autors, im nächsten Kapitel folgt auf die Zusammenfassung aktueller neurobiologischer Forschungsergebnisse ein ganzheitliches Persönlichkeitsmodell, in dem u.a. auf die chinesische Medizin, spirituelle Ansätze, Genetik und feinstoffliche Einflüsse rekurriert wird. Die neurobiologische Darstellung besteht über weite Teile aus einer Aneinanderreihung von Zitaten Joachim Bauers, so wie in darauffolgenden Kapiteln oft seitenweise bisher unveröffentlichte Zitate von Maja Bandelier, einer Expertin für Energiearbeit, angeführt werden, deren Grundlage persönlichen Aufzeichnungen ihrer Vorträge und Seminare sind. Das Literaturverzeichnis ist unvollständig, die zahlreich verwendeten Fachbegriffe werden oft nicht umfassend erläutert usw. Gelingt es jedoch, die anfängliche Irritation zu überwinden und sich auf das Buch und seinen energetischen Ansatz einzulassen, trifft man auf die Überlegungen eines Autors, der sich aufrichtig bemüht, naturwissenschaftliches und energetisch-spirituelles Denken zusammenzubringen und seine Leser:innen an diesem Prozess teilhaben lässt. Das betrifft nicht nur die Versuche der Integration verschiedener Ansätze in den theoretischen Ausführungen, sondern vor allem auch die 15 Falldarstellungen, in denen Mario Spiz sehr freimütig auch schwierige therapeutische Situationen sehr offen darstellt und sich als Therapeut stärker und persönlicher zeigt, als dies in Falldarstellungen in Fachbüchern zumeist der Fall ist.

Vor allem ist dem Autor sein Bemühen anzurechnen, Prozesse, die auf körperlicher bzw. energetischer Ebene und daher nicht-sprachlich ablaufen, in Worte zu fassen.

Ein wenig irreführend sind die im Untertitel erwähnten „traumatischen Prägungen“, stehen im Zentrum der Falldarstellungen doch vorwiegend kränkende, belastende oder verletzende Beziehungserfahrungen, die nicht unbedingt traumatischen Charakter haben und als Thema in der psychotherapeutischen Behandlung jeder Psychotherapeutin und jedem Psychotherapeuten vertraut sind. Hier wirkt es etwas befremdlich, dass der Autor neben spirituellen Meistern munter verschiedene psychoanalytische Autor*innen sowie Wilhelm Reich, C.G. Jung, Milton H. Erickson, Paul Watzlawick, Fritz Pearls, Arnold Mindell u.v.m. zitiert, sodass die theoretischen Versatzstücke, mit denen der energetische Ansatz ergänzt wird, oft beliebig wirken.

Das Erschließen des Textes gestaltet sich auch herausfordernd durch eine Vielzahl von Ausdrücken, die als Fachbegriffe eingeführt werden: Zwanghafter Widerstand, Selbstschädigende Faszination, Verneinende und bejahende Realitätsblende, Trance-Identität, Spürbewusstsein, Empfindungskognition u.v.m. Möglicherweise sind diese Begriffe für Personen, die aus der einschlägigen Community kommen, vertraut und nachvollziehbar – für Außenstehende erschwert es den Zugang zum Text. Hier stellt sich mitunter die Frage, ob für manche Phänomene nicht auch etablierte Begriffe aus der Psychologie bzw. der Psychotherapiewissenschaft verwendet werden könnten, statt neue Bezeichnungen einzuführen.

Am Ende des Buchs wirft der Autor eine wichtige Frage auf, und zwar jene nach der Nachhaltigkeit von psychotherapeutischen Behandlungen. Spiz argumentiert, dass in der Therapie erarbeitete Lösungswege nur kurze Zeit für Entspannung sorgen, solange der alte „Gefühlsunterbau“ (Spiz 2022, S. 230) bestehen bleibt. Alte Überzeugungen, Denk- und Verhaltensmuster nur kognitiv-verbal zu bearbeiten, reicht für eine nachhaltige Veränderung nicht aus, wenn die entsprechenden Körpererinnerungen nicht verändert werden. Dies illustriert der Autor auch sehr anschaulich in seinen Fallbeispielen. Es wäre interessant, die Fallbeispiele aus der Perspektive anderer psychotherapeutischer Schulen zu untersuchen, um zu ergründen, wie dort nachhaltige Veränderungen der Persönlichkeit angestrebt werden.

Fazit

Wer offen ist für die Verbindung von klassischen psychotherapeutischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen mit ganzheitlich-energetischem Denken, wird in diesem Buch viele Anregungen für therapeutisches Arbeiten finden.


[1] Bauer, Joachim: Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Heyne: München 2013

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 29.08.2022 zu: Mario Spiz: Im Banne innerer Machtstrukturen. Die Transformation traumatischer Prägungen, Aggressionen und Schattenbereiche in Ressourcen! Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2022. ISBN 978-3-96543-293-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29167.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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