Jakob Humm, Peter Rieker et al.: Von drinnen nach draußen – und dann?
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 27.05.2022
Jakob Humm, Peter Rieker, Franz Zahradnik: Von drinnen nach draußen – und dann? Reintegration nach einer strafrechtlichen Verurteilung – Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittuntersuchung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
225 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6521-3.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Soziale Probleme - Soziale Kontrolle.
Thema
Der vorliegende Forschungsbericht gibt Einblick in die Ergebnisse einer Langzeitstudie zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung zuvor inhaftierter oder in stationären Behandlungsmaßnahmen (Maßnahmenvollzug/Maßregelvollzug) untergebrachter Straftäter. Dazu wurden über fünf Jahre hinweg Männer unterschiedlicher Altersgruppen mehrfach interviewt. „Im Ergebnis zeigt sich, dass je nach biographischen Ressourcen, Passgenauigkeit der Unterstützungsangebote sowie dem Umfang und der Qualität der Einbindung in Arbeit und soziale Beziehungen die gesellschaftliche Reintegration sowie die Etablierung eines selbstbestimmten Lebens mehr oder weniger gut gelingen“ (Umschlagtext).
Autoren und Entstehungshintergrund
Die drei Autoren der Studie arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter (Dr. Jakob Humm und Dr. Franz Zahradnik) und als Professor für Außerschulische Bildung und Erziehung (Prof. Dr. Peter Rieker) am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Das Forschungsprojekt zur Reintegration verurteilter Straftäter wird seit dem Jahr 2013 an diesem durchgeführt.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation folgt einem klassischen Studienaufbau und bietet neben einer Einleitung Hinweise zum theoretischen Bezugsrahmen für die Untersuchung von Reintegrationsprozessen, beschreibt die Untersuchungsgruppe und das methodische Vorgehen, definiert Konzepte und Varianten von Reintegrationsverläufen, geht auf die Bedeutung sozialer Beziehungen und die Bedeutung von Ausbildung und Erwerbsarbeit für die Reintegration ein und beschreibt besondere Belastungen und Herausforderungen im Reintegrationsprozess. Im letzten Kapitel erfolgt das Referat der zentralen Forschungsbefunde und ein Fazit.
Einleitung – Welche Bedingungen, Verläufe und Ergebnisse finden sich bei verurteilten Straftätern im Anschluss an eine Haftstrafe oder eine strafgerichtlich angeordnete Unterbringung in einer Klinik? Wie gelingt der Ausstieg aus strafrechtlich sanktioniertem Verhalten und welche individuellen und gesellschaftlichen Prozesse spielen dabei eine Rolle? Die Autoren umreisen mit diesen Aspekten das Anliegen ihrer Studie zum Verlauf von Reintegrationsprozessen nach Haft/Unterbringung und verweisen auf die einschlägigen soziologischen und kriminalsoziologischen bzw. kriminologischen Theorien und Erkenntnisse. Diese Konzepte sollen in der durchgeführten Langzeitstudie für die Forschung -und die Erkenntnis in Bezug auf Reintegrationsverläufe- nutzbar gemacht werden. Der Fokus liegt dabei auf den Selbstdeutungsmustern der betroffenen Männer, deren Erleben und deren Einschätzungen, die über einen Zeitraum von fünf Jahren mehrfach durch Interviews abgefragt wurden. Das Studienprojekt schließt damit an die Arbeiten der Desistance-Forschung an, wobei in der vorliegenden Arbeit der Begriff der „Reintegration“ verwendet wird. Damit nehmen die Autoren einen psycho-sozialen Fokus ein, fragen nicht nur nach den Bedingungen und Aspekten der betroffenen Personen, sondern auch nach den gesellschaftlichen Bedingungen und Prozessen, also nach der Art und Weise, wie „die Gesellschaft“ Straftäter wieder aufnimmt, oder eben nicht. Das Ausmaß einer solchen Integration lässt sich z.B. an der Art und Qualität der sozialen Beziehungen oder an der Teilhabe an Arbeits- und Bildungsprozessen ablesen. Die Langzeitperspektive der aufgelegten Studie begründet sich mit dem Gegenstand dieser Forschung: Reintegration als sozialer Prozess kann nicht in einer Momentaufnahme festgehalten werden, sondern verläuft an sich in einem längeren Kontinuum, in einem Prozess, den es gilt abzubilden und zu analysieren.
Theoretischer Bezugsrahmen – Dem Anliegen der Studie folgend, Prozesse sozialer Reintegration nachvollziehbar zu rekonstruieren werden in Kapitel zwei als theoretische Bezugspunkte vor allem die Erträge der Desistance-Forschung referiert. Schwerpunkte liegen hier auf der Entwicklung dieses Forschungsgebiets, bzw. Forschungsansatzes. Der Ertrag dieser theoretischen Bezugnahme für die vorliegende Studie liegt in der Gleichzeitigkeit der Handlungsmöglichkeiten, der Struktur und Qualität der sozialen Lebenswelt, der sozialen Einbettung der Betroffenen, deren Beteiligungsmöglichkeiten (Teilhabechancen) und deren Entwicklung einer inneren Haltung, die durch eine Abkehr von delinquenten Mustern gekennzeichnet ist. Mit einer derartigen multiperspektivischen Forschungshaltung distanzieren sich die Autoren (und ihre Studie) von unikausalen Erklärungsansätzen und verorten das Zustandekommen von Reintegration und Deliktfreiheit in einem biopsychosozialen Prozess (auch wenn dieser Begriff, das biopsychosoziale Paradigma hier nicht explizit genannt wird).
Untersuchungsgruppe und methodisches Vorgehen – Im folgenden Abschnitt werden die Untersuchungsgruppe und das forschungsmethodologische Vorgehen vorgestellt. Die untersuchte Population erweist sich dabei als erstaunlich inhomogen hinsichtlich Alter, Deliktstruktur und Art der absolvierten Unterbringung. Das Forschungsprojekt selbst ist als Langzeitstudie angelegt, „da davon auszugehen ist, dass individuelle Prozesse der Reintegration nach einer Verurteilung auf diese Weise adäquat rekonstruiert werden können“ (25). Gemeint ist damit, dass Reintegration ein dynamisches sich (mehr oder weniger langsames oder schnelles) Entwickeln darstellt und kein zeitlich eng umschriebenes Phänomen darstellt, dass innerhalb weniger Tage oder Woche abgeschlossen ist. Der Forschungsfokus liegt auf der subjektiven Sichtweise der Betroffenen Männer selbst, von Interesse sind die Rekonstruktion der Erfahrungen und Einschätzungen derjenigen, die mit den Anforderungen der Reintegration konfrontiert sind. Für einen späteren Forschungsabschnitt soll diese Perspektive noch um die Einschätzungen der Bezugspersonen der ehemaligen Strafgefangenen/​Untergebrachten ergänzt werden (25). Die Untersuchungsgruppe bestand zum Anfang aus 50 männlichen Probanden zwischen 17 und 61 Jahren aus den Bereichen Vermögens-, Gewalt-, Drogendelikten und sonstigen strafbaren Handlungen. Unterschiede bestanden ebenfalls in der Haftart/​Unterbringungsart. Das Dropout liegt bei 40 %, d.h. von den ursprünglich in der Erstbefragung interviewten Personen konnten in der letzten Interviewelle noch 30 Personen erreicht werden. Die Gespräche mit den Probanden wurden als problemzentriertes Interview nach Witzel geführt, also ein relativ offenes Verfahren zur Datenerhebung, in dem jedoch einzelne thematische Schwerpunktsetzungen durch die Befrager:innen vorgenommen wurden. Die Auswertung der Daten erfolgte im Kontext der Grounded Theory (Glaser und Strauss) und den dort etabilierten Auswertungsverfahren. Das transkribierte Datenmaterial wurde je Erhebungswelle offen codiert, daraus erfolgte die Kategorienbildung und deren Entwicklung. Zusätzlich wurden theoretische Bezugspunkte in den Prozess der Kategorienbildung integriert. Die Analyse und Einbeziehung der Datenauswertungen späterer Erhebungswellen führte zur Überprüfung bzw. Re-Kodierung der vorangegangenen Erhebungswellen „um über den gesamten Längsschnitt hinweg dieselben Kategorien zu verwenden und vergleichende Analysen zu ermöglichen“ (32). Aus diesem Analysematerial wurden schließlich Fallanalysen erarbeitet, „um spezifische Aspekte … genauer in den Blick zu nehmen“ (33).
Reintegration: Konzepte und Varianten – Die Darstellung der Forschungsergebnisse nimmt zunächst die unterschiedlichen Reintegrationsverläufe in den Blick und zeigt, wie Reintegration auf Grundlage verschiedener konkreter Schilderungen (der Betroffenen) verstanden werden kann. Dabei fallen verschiedene Reintegrationsmuster der Betroffenen auf, die von stabilen, weniger stabilen Phasen oder von Stagnation (der Entwicklung) geprägt sind. Assoziiert mit diesen Phasen sind bestimmte Bewältigungsmuster bzw. Verhaltensformen, u.a. auch erneute Delinquenz (als Ausdruck von Instabilität). Die erhobenen Muster „Stabilisierung“, „Diskontinuierliche Verläufe“, Stagnation werden durch Fallbeispiele (die aus dem Interviewmaterial gewonnen wurden) illustriert.
Soziale Beziehungen und ihre Bedeutung für die Reintegration – Als Reintegrationsbereich von besonderer Bedeutung für das Ausmaß des Gelingens von Teilhabe und Integration stellen die Autoren die Bedeutung sozialer Beziehungen dar. Dieser Befund deckt sich mit dem allgemeinen Forschungsstand (der hier auch referiert wird) zum Zusammenhang sozialer Integration, primärer Bezugspersonen und stabiler Lebensführung (auch) im Sinn deliktfreien Lebens (vgl. Stelly/​Thomas 2012). Die Auswertung zur Art und der Erleben der bestehenden sozialen Kontakte in der Untersuchungsgruppe wird auch in diesem Abschnitt durch Einzelfallanalysen dargestellt und gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge sozialer Beziehungen und Reintegrationsverläufe: Tragfähige soziale Beziehungen/früh einsetzende Reintegration; teilweise tragfähige soziale Beziehungen/verzögerte Reintegration; frühe Belastungen/​diskontinuierliche soziale Beziehungen/​stagnierende Reintegration. Auch in der vorliegenden Studie wird belegt, „dass die Befragten im Rahmen sozialer Beziehungen nicht nur wichtige Unterstützung erfahren, sondern dass sie im Rahmen des Reintegrationsprozesses zumeist auch Verantwortung für andere erleben. Demgegenüber können Reintegrationsverläufe dann stagnieren, wenn im Rahmen sozialer Beziehungen vor allem Gefühle von Bedürftigkeit und Abhängigkeit im Vordergrund stehen“ (105). Hervorgehoben wird abschließend, dass es bei der Auswirkung sozialer Beziehung auf den Reintegrationsprozess nicht ausreicht einzelne soziale Beziehungen zu betrachten, sondern dass „soziale Beziehungen ihre Bedeutung im Rahmen einer komplexen Beziehungskonstellation erhalten“ (106).
Reintegration durch Ausbildung und Erwerbsarbeit – Der Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Integration straffälliger Menschen gilt als belegt. Begreift man Reintegration als wechselseitigen Prozess zwischen subjektiven Voraussetzungen (Fähigkeiten, Haltungen) und strukturellen Rahmenbedingungen (Ausbildungsangebote, Jobangebote etc.) wird deutlich, wie psycho-soziale Prozesse auf Eingliederung, Stabilität und Teilhabe, letztlich auch auf Deliktfreiheit wirken können. Das Kapitel zu „Reintegration durch Ausbildung und Erwerbsarbeit“ referiert zunächst ebenfalls den bekannten Forschungsstand und den Zusammenhang zwischen sozial-beruflicher Einbettung und innerer Bereitschaft (Leistung, Kontaktgestaltung, Teilhabe). Die Analyse des Forschungsmaterials wird anschließend auf den Ebenen „Sinnstiftung und Motivation in der Arbeit“, „Bedeutung der beruflichen Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmotivation“, „Bedeutung des Einkommens“, „Soziale Eingebundenheit am Arbeitsplatz“ und „Reintegration durch Arbeit und Ausbildung“ ausführlich dargestellt, wobei wiederum zusätzliche Einzelfallanalysen zum Zusammenhang von Integration und, bzw. in Arbeit zur Veranschaulichung der Analysen dargestellt werden, etwa unter dem Aspekt „Integration durch Erwerbsarbeit als Dreh- und Angelpunkt der Reintegration“ (121), „Blockierte Integration in den Arbeitsmarkt als Ausdruck eines stagnierenden Reintegrationsprozesses“ (131), oder „Integration in die Erwerbsarbeit als Ausgangspunkt einer umfassenden Reintegration“ (142). Zusammenfassend wird dargestellt, dass gelungene Bildungs- und Arbeitsprozesse zusammen mit dem Erleben von Sinn, Bedeutung, Selbstwirksamkeit, ökonomischer Ausstattung, sozialem Status und sozialer Einbettung einen günstigen Einfluss auf den Reintegrationsprozess haben können.
Belastungen und Herausforderungen im Reintegrationsprozess – Im siebten Kapitel werden besondere Belastungen und Herausforderungen im Reintegrationsprozess auf der Ebene der Erzählungen der interviewten Haftentlassenen dargestellt. Solche Belastungsaspekte können im Bereich von gesundheitlichen Einschränkungen/​Krankheit, Verschuldung, oder Drogenkonsum und damit verbundenen Stigmatisierungen liegen. Im Zentrum der Analysen steht die Einschätzung, wie diese Belastungen erlebt und inwieweit sie bewältigt wurden. Die hier eng an den Einzelfällen orientierte inhaltliche Analyse zeigt die individuellen Belastungserfahrungen, die individuellen Bewältigungsansätze und -erfolge und greift als zusätzliche Perspektive den Aspekt sozialer Stigmatisierungserfahrungen durch soziale Akteure und Gruppen auf, die als sozialer Stress erlebt und beantwortet werden (müssen), jeweils verbunden mit Auswirkungseffekten auf den Reintegrationsprozess.
Zentrale Befunde und Fazit – Das abschließende achte Kapitel fasst die zentralen Forschungsbefunde der vorgelegten Langzeitstudie zur Reintegration von aus Haft/Unterbringung entlassener Straftäter zusammen. Soziale Einbettung, die -nachhaltige- Erfahrung emotionaler und instrumenteller Unterstützung und Zuwendung, die Fähigkeit zur und Integration in Bildungs- und Arbeitsprozesse, die Erfahrung der Bewältigung sozialer Stresserfahrungen wirken sich insgesamt positiv auf die Reintegration im Sinn eines gelingenden Prozesses aus, wobei sich zeigt, das Reintegration meist kein linearer Prozess ist, sondern solche Entwicklungsphasen eher störanfällig, mitunter fragil und von Rückschlägen gekennzeichnet sind. Professionelle Unterstützungsangebote werden von den Betroffenen dabei unterschiedlich erlebt und bewertet und liegen auf einem Kontinuum von kontrollierend/​strafend bis hilfreich/​unterstützend (vgl. dazu die Forschungsarbeit von Jeanette Pohl https://www.socialnet.de/rezensionen/​26928.php). Effekte für den Reintegrationsverlauf konnten in der vorliegenden Analyse auch auf der Ebene statische, deliktbezogene und dynamische Faktoren (also biografische Belastungen und Fehlentwicklungen, Stigmatisierung wg. der Deliktart, aktuell-dynamische Belastungsfaktoren) ausgemacht werden, die jeweils als strukturell-chronisches Geschehen oder eher akutes Problem auftauchen und unterschiedliche Belastungseffekte auslösen können. Als Gesamtklammer um die einzelnen Forschungsbefunde und -bereiche zeigt sich schließlich dass die unterschiedlichen Integrationsebenen (Beziehungen, Arbeit, professionelle Unterstützung, akute Belastungserfahrungen etc.) nicht abgegrenzt für sich bewertet werden können, sondern die Qualität von Reintegrationsverläufen im jeweils individuellen Zusammenspiel dieser Ebenen (z.B. akute Stressbelastung bei guter sozialer Unterstützungssituation vs. chronische Stresserfahrung bei sozialer Exklusion) zu sehen ist.
Zielgruppe
Zielgruppen des Buches sind alle Berufsgruppen, die mit straffällig gewordenen Menschen und in den Bereichen Resozialisierung, Rehabilitation und Sozialtherapie tätig sind.
Diskussion
Humm, Rieker und Zahradnik legen mit ihrer Fragestellung „Von drinnen nach draußen – und dann?“ eine solide Langzeitstudie zur Wiedereingliederung straffällig gewordener Menschen vor. Das Forschungsdesign orientiert sich an den Befunden der Desistance-Forschung und führt diese unter dem besonderen Blickwinkel der Betroffenenperspektive, straffällig gewordene und deswegen strafrechtlich oder psychiatrisch Untergebrachte weiter. Damit erfüllt die Forschergruppe einen wichtigen Beitrag partizipativer Sozialforschung, welche die Forschungsobjekte selbst, deren Erfahrungen, Bewertungen und Deutungsmuster in den Fokus rücken. Eine in der Sozialforschung weiterhin eher seltene, in der Kriminalforschung in den letzten Jahren allerdings häufigere Perspektivenwahl (z.B. Hahn 2007, Stiels-Glenn 2016, Pohl 2020).
Die gewählte Langzeitperspektive, die Datenerhebung erfolgte in mehreren Wellen in einem insgesamt fünfjährigen Zeitraum erweist sich dabei als äußerst angemessen, da Reintegration, bzw. Resozialisierung kein kurzfristiges oder statisches Phänomen ist, sondern einen längerfristigen Prozess darstellt, der zudem von unterschiedlichen Ebenen beeinflusst wird: der Gesellschaft, der Gemeinde, den engeren sozialen Strukturen in Freundschaften und Familie, der Art, Struktur und Quantität professioneller Hilfsangebote, den individuellen Merkmalen der betroffenen Personen. Reintegration bzw. Resozialisierung erfolgt dabei selten als linearer Prozess, sondern ist durch Brüche, Umwege, Rückwärtsentwicklungen, Fortschritt, Stillstand etc. gekennzeichnet. Die gewählte Zeitperspektive kann dies berücksichtigen und durch die wiederholten Erhebungswellen auch tatsächlich erfassen und abbilden.
Die theoretische Bezugnahme des Forschungsprojekts erscheint mit fast ausschließlicher Fokussierung auf die Desistanceforschung allerdings zu kurz gegriffen. Lebenslage(forschung), Resozialisierung, Stress(bewältigungs)forschung, das Resilienzkonzept, Salutogenese und die neueren Erkenntnisse aus den Prognosewissenschaften (v.a. zur Wirkung von Protektivfaktoren) hätten eine breitere theoretische Fundierung ermöglicht, auch um dem Darstellungsfokus der Betroffenen eine differenziertere Auswertungsbasis zu geben. Wahrscheinlich ergeben sich (auch) aus diesem Grund keine Forschungsergebnisse die auf Erleben von Sinn (abgesehen im Kontext von Erwerbsarbeit), die Bedeutung von Spiritualität, die positive innere Verknüpfung mit Behandlungs- oder Unterbringungserfahrungen hinweisen. Ebenso findet sich kein Bezug zur Bedeutung abgeschlossener störungs- und deliktbezogener Behandlungserfahrungen, deren ambulante Fortsetzung und -entwicklungsbezogen- flexible Ausgestaltung.
Eine weitere Einschränkung benennen die Autoren selbst (216): mit (zu Beginn der Befragung) 50 Interviewpartnern und einem Dropout von 40 Prozent bewegt sich die Untersuchungspopulation an der Untergrenze einer -definitionsbedürftigen- Repräsentativität. Legt man einfache strukturelle Merkmale der Planung einer Forschungspopulation (Altersgruppen, Familienstand, Dauer der Haft- bzw. Unterbringungserfahrung, Unterbringung in Haft oder Klinik, Deliktart) an, ergibt sich schnell eine Gruppengröße von 100 Personen, womit bei einem zu erwartenden Dropout eine Abschlusserhebung im fünften Jahr mit 50-60 Personen zu realisieren wäre.
Zu differenzieren wäre abschließend noch zwischen den unterschiedlichen Tätergruppen, strafrechtlich voll verantwortlichen Tätern und psychisch kranken Tätern aus dem schweizerischen Maßnahmenvollzug. Hier scheinen die Grundbedingungen (Ausmaß der Beeinträchtigungen, Vorerfahrungen, Unterbringungserfahrung, Stigmatisierungserfahrungen etc.) zu unterschiedlich, um diese beiden Gruppen in ein Forschungsprojekt zu integrieren. Zur Differenzierung dieser beiden Gruppen erscheint die Aufteilung in mehrere Projekte angeraten.
Unabhängig davon gelingt den Autoren der Studie der Nachweis, dass es im Bereich der Resozialisierung kaum repräsentative Einzelmerkmale gibt, welche den Rückschluss erlauben, eine günstige Auswirkung auf Wiedereingliederung und Resozialisierung zu haben. Was in einem Fall günstig wirkt, kann in einem anderen Fall wirkungslos bleiben. Was in Fall A als zentrale Basis trägt, erscheint bei einer anderen Person eher als Randerscheinung. Die vorgelegte Langzeitstudie erlaubt hier genaue Einblicke, auch in der Art der gewählten Analysedarstellung, welche Dynamiken es in konkreten Fällen gibt, welche Merkmale dabei zu beobachten sind und -vor allem- wie diese durch die Betroffenen selbst wahrgenommen werden. Damit ist der Anspruch der Autoren an ihr eigenes Forschungsprojekt mehr als erfüllt, einen „Beitrag zur Weiterentwicklung der kriminologischen Forschung und zur Reflexion der professionellen und alltagsweltlichen Unterstützung der sozialen Reintegration“ (13) zu leisten.
Fazit
Eine differenzierte Studie zur Wahrnehmung von Reintegrationsprozessen bei ehemals strafgerichtlich untergebrachten Straftätern. Die Schweizer Forschungsgruppe rückt mit ihrer Langzeitstudie die Betroffenen selbst in den Fokus kriminologischer Forschung und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur kriminologischen Forschung im Feld der Resozialisierungsforschung.
Literatur
Hahn, G. (2007). Rückfallfreie Sexualstraftäter. Salutogenetische Faktoren bei ehemals im Maßregelvollzug behandelten Patienten. Bonn: Psychiatrie Verlag
Pohl, J. (2020). Wege der (Ver-)Besserung? Erfahrungen Straffälliger mit Sozialer Arbeit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Stelly, W. & Thomas, J. (2012). Brüche und Kontinuitäten „krimineller“ Entwicklungsverläufe. In: Gahleitner, S. B. & Hahn, G. (Hrsg.). Übergänge gestalten – Lebenskrisen begleiten. Klinische Sozialarbeit, Bd. 4. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 187- 201.
Stiels-Glenn, M. (2016). Therapie mit Pädophilen? Pädophile beurteilen ihre Therapie. Lengerich: Pabst
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 27.05.2022 zu:
Jakob Humm, Peter Rieker, Franz Zahradnik: Von drinnen nach draußen – und dann? Reintegration nach einer strafrechtlichen Verurteilung – Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittuntersuchung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6521-3.
Reihe: Soziale Probleme - Soziale Kontrolle.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29190.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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