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Johanna Brandstetter (Hrsg.): Soziale Frage(n) der Zukunft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.05.2022

Cover Johanna Brandstetter (Hrsg.): Soziale Frage(n) der Zukunft ISBN 978-3-7329-0683-3

Johanna Brandstetter (Hrsg.): Soziale Frage(n) der Zukunft. Frank & Timme (Berlin) 2021. 301 Seiten. ISBN 978-3-7329-0683-3. D: 39,80 EUR, A: 39,80 EUR, CH: 59,70 sFr.
Reihe: Transposition - Ostschweizer Beiträge zu Lehre, Forschung und Entwicklung in der sozialen Arbeit - Band 10.

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Soziale Frage: Vademecum und Prätention

Im individuellen und kollektiven, sozialpolitischen und existenziellen Diskurs über Fragen nach Gerechtigkeit, Wohlhabenheit und Menschenwürde wird die „soziale Frage“ in demokratischen Gemeinschaften als Menschenrecht postuliert: „Jedermann hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit und hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“ (Art. 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948). Es ist weder Hilfe noch Gabe, sondern Recht, dass jeder Mensch ein freies, friedliches, gleichberechtigtes und gerechtes Leben führen kann.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Überall, wo Leben ist, soll Würde sein! In der sich immer interdependenter entwickelnden (Einen?) Welt gestalten sich und wirken Recht und Unrecht, entstehen Wohlbefinden und Unwohlsein; werden die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse ärmer. Mit dem Begriff „neue soziale Frage“ werden im lokal- und globalgesellschaftlichen Diskurs alte und neue Herausforderungen thematisiert, wissenschaftliche Transformationskonzepte entwickelt, digitale, ökonomische und ökologische Prozesse gedacht. Es sind Appelle, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“, wie dies 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ zum Ausdruck bringt; und es sind Aufforderungen zum Perspektiven- und Systemwechsel, weg von kapitalistischen, ausbeuterischen und ungerechten Strukturen, weg vom „business as usual“ und „throughput growth“ (Durchflusswachstum), hin zu „sustainable development“, einer tragfähigen, nachhaltigen Entwicklung (Brundtland-Bericht „Our Common Future“, 1987).

Im Rahmen des interdisziplinären Kontextstudiums an der Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen fand 2019/2020 eine Ringvorlesung statt, in der „Soziale Frage(n)“ thematisiert und diskutiert wurden. Die Sozialwissenschaftler*innen und Sozialarbeiter*innen Johanna Brandstetter, Kerstin Bronner, Stefan Köngeter, Andreas Laib, Axel Pohl und Steve Stiehler legen die interdisziplinären Beiträge zur Ringvorlesung in den Sammelband vor. Die Texte wollen „einen adäquaten, zukunftsgerichteten Beitrag (leisten)… Anschlussstellen wie auch Widersprüche aufzeig(en), Akteure zusammenführ(en), unverbundene Diskurse einander übersetz(en) und die Sozialen Fragen immer wieder stell(en), wenn sie beantwortet zu sein scheinen“ (S. 297).

Aufbau und Inhalt

Es sind die Megatrends, wie sie sich für die neuen sozialen Fragen stellen und Wandlungs- und Veränderungsprozesse notwendig machen: „Neo-Ökologie“ als Herausforderungen für einen neuen Umgang und ein neues Verständnis des Zusammenhangs zwischen Mensch und Umwelt darstellen (vgl. dazu auch: Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php) – „Gender Shift“ als Transformationsprozess von geschlechtsspezifischen Aspekten und „Care Arbeit“ – „Urbanisierung“ als Wohn- und Arbeitsentwicklung – „New Work“ als Wandel von Tätigkeitsformen – „Mobilität“ als individuelle, familiale und technologische Herausforderungen – „Individualisierung“ als freiheitliche, autonome wie auch zerstörerische Eigenschaft (siehe auch: Paul Collier/John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php) – „Konnektivität“ als Kommunikations-, Kooperations- und Vernetzungsdynamik – und „Sicherheit“ im Spannungsverhältnis von Freiheit und Kontrolle.

Der Sozialwissenschaftler von der Stuttgarter THBW, Wolf Rainer Wendt, setzt sich mit seinem Beitrag „Ökologische Vernunft in Sozialen Fragen – Zur ökosozialen Gestaltung nachhaltigen Zusammenlebens“ mit dem vielfältigen Diskurs um nachhaltiges Leben und Bewusstsein Hier und Heute auseinander. Er plädiert für „wirtliche Verhältnisse und wirtliches Verhalten“, und er ist überzeugt: „Wir können uns und gemeinsames Leben nur in rücksichtsvoller und umsichtiger Teilhabe an der Welt nachhaltig behaupten“.

Der Jenenser Soziologe Stephan Lorenz thematisiert „Soziale Fragen ökologischer Krisen“, indem er auf die sichtbaren und heimlichen, bewussten und unbewussten, akzeptierten und geleugneten Wechselwirkungen und Defizite beim individuellen und kollektiven Umgang der Menschen miteinander verweist. Er fordert auf, „zwischen sozial-ökologischen und sozialen Fragestellungen zu unterscheiden“.

Die Ökonomin Mascha Madörin verweist auf den Megatrend: „Care Arbeit“, indem sie sich mit Produktion und Verbrauch, Anspruch und Bedürfnis in den ökonomischen Prozessen auseinandersetzt. Mit dem Konzept „Care-Ökonomie“ lassen sich Irrwege vermeiden, das „kapitalistische Business-Modell“ überwinden und dysfunktionale (Einsparungs-)Maßnahmen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen als konterkarierende Politik aufzeigen.

Die Baseler Genderforscherin Andrea Maihofer diskutiert: „Zum emanzipatorischen Potential in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Geschlechterverhältnisse“. Es sind die befreienden und Gleichheitsforderungen, die traditionalistische, hierarchische und patriarchale Strukturen verhindern, die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit für Alle erheben, Diskriminierung, Missachtung und Ausbeutung abschaffen, neue Solidaritäten zustande bringen, Toleranz und menschliche Vielfalt als Grundlage der Conditio Humana zu leben.

Der Humangeograf von der Frankfurter Goethe-Universität, Bernd Belina, erläutert mit dem Beitrag „Urbanisierung und Soziale Frage“ die lokalen und globalen Entwicklungen von Verstädterung. Es sind Gentrifizierungen, Spekulationen, Privatisierungen, Wohnungsnot und Umweltschäden, denen durch verantwortungsbewusste, gemeinwohlorientierte Politik entgegengewirkt werden muss.

Der Berliner Gesellschaftswissenschaftler Martin Kronauer fragt: „Soziale Ungleichheit und Soziale Frage, was ist neu an der neuen Sozialen Frage?“. Mit seiner Analyse beschränkt er sich auf die gesellschaftlichen, politischen Entwicklungen in den kapitalistisch strukturierten, repräsentativen demokratischen Ländern im globalen Norden. Der Fingerzeig geht in die Richtung von demokratischen Defiziten, von populistischen und rechtsradikalen Bewegungen und von auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Tendenzen.

Die Zürcher Soziologin Bettina Isengard stellt ihre Forschungsergebnisse zur Thematik „Generationen in der Schweiz: zwischen Solidarität und Multilokalität“ vor. Es sind die demographischen Wandlungsprozesse, bei denen sich die traditionellen, familienbezogenen Zusammenhänge verändern, und zwar sowohl in die eine Richtung der Familien-, Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbindungen als auch (vermehrt) hin zu Vereinzelung und Isolation.

Die Migrations- und Integrationsforscherin Nadia Baghdadi thematisiert mit ihrem Beitrag „Soziale Fragen in der Migrationsgesellschaft. Eine Annäherung über soziales Leiden“ individuelle und kollektive Befindlichkeiten bei Einwanderungsprozessen. Am Beispiel der Migrationsentwicklung in Liechtenstein informiert sie über ihre Forschungsergebnisse. Das „normative Paradoxon“ wird deutlich, dass die „westlichen Migrationsgesellschaften… die plurale Demokratie… als Ziel in Aussicht stellt, sie gar verspricht – aber nicht einlöst“.

Der Potsdamer Philosoph und Politikwissenschaftler Heinz Kleger fragt: „Die Zukunft welcher Solidarität?“. Er setzt sich mit den verschiedenen, wissenschaftlichen Begrifflichkeiten von Solidarität in modernen Gesellschaften auseinander, analysiert die philosophisch-weltanschaulichen, die gemeinwesenorientierten und die sinnstiftenden, engagierten Verständniszusammenhänge: „Solidarität ist in veränderlichen Relationen zu denken, die sie nicht relativieren müssen“.

Die Wiener Soziologin Saskia Schindler nimmt mit ihrer Frage „Exkludierende Solidarität oder Entsolidarisierung?“ die gesellschaftlichen Entwicklungen hin zum „Rechtsruck“ auf und analysiert die Bedeutung für Soziale Fragen. Am Beispiel der österreichischen, gesellschaftspolitischen Entwicklung zeigt sie die Strategien, Informations- und Argumentationsmuster von rechtsradikalen, rassistischen und populistischen Parteien auf und warnt vor ego-, ethnozentristischen und nationalistischen Einstellungen.

Der Kölner Sozial- und Raumwissenschaftler Herbert Schubert diskutiert die Phänomene „Einbettung als Soziale Frage in der Netzwerkgesellschaft“. Es geht darum zu erkunden, wie Menschen gesellschaftlich eingebettet, integriert und aufgehoben sind. Der „Raum“ wird zum Ort und zum Fundament (siehe dazu auch: Jörg Döring, u.a., Hrsg., Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6606.php).

Der Berliner Bildungswissenschaftler Lars Gerhold reflektiert mit der Frage: „Wie sicher wollen wir leben?“ Aspekte von Sicherheit und Unsicherheit im sozialen Leben der Menschen. Es sind Fragen nach den Risiken, Konflikten, Gefahren und Bedrohungen des Lebens. Und es sind Entwürfe und Überlegungen, wie „Kulturen der Sicherheit“ entwickelt und etabliert werden können (vgl. dazu auch: Corinne Michaela Flick, Hg., Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29300.php),

Diskussion

Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, sozialen Megatrends erzwingt ein Bewusstsein von Ganzheit und Zusammenhang beim terrestrischen Leben der Menschen. Es sind Auseinandersetzungen darüber, wie im sozialen Dasein individuelle, familiale und andere gemeinschaftsstiftende Strukturen entstehen oder auch verhindert werden; es sind die im digitalen Zeitalter vermischten und enorm wirksamen Verhältnisse zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Sicherheits- und Risiko-Aspekten, die fachlichen und fächerübergreifenden Anforderungen an die Soziale Arbeit stellen. So ist es nicht unlogisch, die sozial-(pädagogische) und sozial-(politische) Bedeutung der Sozialen Arbeit interdisziplinär zu begreifen. Dieser Perspektivenwechsel freilich kann nicht mit der „Vogel-Strauss-Methode“, dem „Ohne-mich“ gelingen; es braucht die tätige, engagierte Kompetenz zum aktiven Denken und Tun, und es ist notwendig, sozial klug zu denken und zu handeln (Clemens Albrecht, 2020)0, wach zu denken (Rebekka Reinhard, 2020), Streitlust und Streitkunst zu üben (Stephan Russ-Mohl, 2020) und eine Theorie und Praxis der „Sozialität des Handelns“ zu entwickeln (Frithjof Nungesser,2019).

Fazit

Es treffen sich zufällig zwei Männer, die in früherer Zeit gut bekannt miteinander waren, sich aber im Laufe der Jahre aus dem Augen verloren haben: „Du hast dich ja gar nicht verändert“, begrüßt ihn der eine; der andere erbleicht und antwortet: „Oh!“ (nach Bert Brecht, Geschichten von Herrn K.). Menschen müssen sich, wenn sie human existieren und menschenwürdig leben wollen, verändern. Es kommt darauf an, das anzustrebende „gute Leben“ immer wieder neu zu denken. Die sozialen Fragen der Gegenwart und Zukunft fordern vom Individuum und von den Gemeinschaften und Gesellschaften Sensibilität. Zuversicht und Hoffnung. Sie sind nur demokratisch und freiheitlich zu erreichen!

Die im Sammelband „Soziale Frage(n) der Zukunft“ vorgestellten theoretischen und praktischen Überlegungen zu den gesellschaftlichen, interdisziplinären Herausforderungen lassen sich auch als Handbuch lesen, je nachdem, ob und inwieweit die Texte in die professionellen Zusammenhänge von Aus- und Fortbildung, von Caritas und Therapie gebracht werden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.05.2022 zu: Johanna Brandstetter (Hrsg.): Soziale Frage(n) der Zukunft. Frank & Timme (Berlin) 2021. ISBN 978-3-7329-0683-3. Reihe: Transposition - Ostschweizer Beiträge zu Lehre, Forschung und Entwicklung in der sozialen Arbeit - Band 10. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29205.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.


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