Norbert Störmer: Inklusion zwischen Utopie und Realität
Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger, 24.01.2023

Norbert Störmer: Inklusion zwischen Utopie und Realität.
Frank & Timme
(Berlin) 2021.
592 Seiten.
ISBN 978-3-7329-0472-3.
D: 49,80 EUR,
A: 49,80 EUR,
CH: 74,70 sFr.
Reihe: Inklusion und Gesellschaft - Band 1.
Thema
Georg Theunissen – einer der vielleicht bekanntesten und renommiertesten Autoren im Bereich der Behindertenarbeit im deutschsprachigen Raum – hat die Inklusion einmal als wahrscheinlich wichtigstes Leitparadigma der professionellen Unterstützung von Menschen mit Behinderung bezeichnet – und zwar in jedem Lebensalter und allen Lebensbereichen (vgl. z.B. Theunissen 2010: 13 f.).
Mit dem Begriff der Inklusion ist entsprechend – wie Norbert Störmer in der Einleitung seines umfangreichen Fachbuches betont – seit geraumer Zeit ein anhaltender, vielschichtig geführter Diskurs verbunden, bei dem es um die Überwindung von Marginalisierung, Diskriminierung von Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen und das Postulat der vollen gesellschaftlichen Teilhabe an allen bestehenden Systemen der sozialen Gemeinschaft geht (vgl. S. 13).
Norbert Störmer thematisiert, dass die – nicht immer ideologiefrei geführten – Debatten über das Paradigma der Inklusion sowie den aktuellen Vorstellungen über deren konkrete Umsetzung mit der Vision einer inklusiven Gesellschaft – trotz scheinbar eindeutiger Bestimmungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) – von einer ganzen Reihe kritischer Auseinandersetzungen begleitet und einer Vielzahl komplexer Problempunkte überlagert werden (S. 14).
Der Autor möchte mit seiner Publikation daher primär „verdeutlichen, wo Probleme der Inklusion liegen, wo sich exklusive Prozesse in unserer Gesellschaft vollziehen und wo die Inklusion mit ihren Vorstellungen Anknüpfungspunkte für Veränderung im Sinne von wirklichen Transformationsprozessen findet und somit zu wirklichen Transformationsprozessen führen kann“ (S. 18). Dies kann nur gelingen, wenn neben den strukturellen Gegebenheiten auch die gegebenen Interaktions- und Kommunikationsprozesse wie auch die komplexen Machtstrukturen in der Gesellschaft betrachtet werden (S. 14).
Autor
Prof. Dr. Norbert Störmer hat – wie es in den sehr kompakten Verlagsinformationen auf dem Buchrücken beschrieben ist – als Professor für Heilpädagogik/​Behindertenpädagogik an der Hochschule Zittau/Görlitz gelehrt. Schwerpunkte in der Lehre lagen im Bereich der Grundlagen, Methodik und Therapie der Heilpädagogik/​Behindertenpädagogik sowie im Kontext allgemeiner Pädagogik.
Forschungsschwerpunkte waren und sind herausfordernde Verhaltensweisen, Kommunikations-, Sprach- und Wahrnehmungsbeeinträchtigungen sowie der entsprechende Umgang mit besonderen Ausdrucksformen des Verhaltens und dem Handeln in Gruppensituationen.
Im Verlag Frank und Timme (Verlag für wissenschaftliche Literatur) sind – neben dem vorliegenden Text – folgende Titel erschienen:
- „Interventionen/​Interventions“ (2006)
- „Lebensbegleitung und Förderung/Life Accompaniment and Support“ (2006)
- „Diagnostik und Planung/​Diagnostics and Planning“ (2011)
- „Du störst!: Herausfordernde Handlungsweisen und ihre Interpretation als Verhaltensstörung“ (2013)
Aufbau und Inhalt
Das insgesamt 592 Seiten starke Buch von Norbert Störmer ist inkl. Einleitung und Literaturverzeichnis in 14 Kapitel gegliedert. Teilweise – und themenspezifisch – erfolgt eine starke Untergliederung in bis zu 8 Unterkapitel. Jedem Hauptkapitel ein Zitat des deutschen Philosophen und dem Neomarxismus zuzuordnenden Philosophen Ernst Bloch vorangestellt.
Einleitung
Neben dem Aufbau der Arbeit skizziert der Verfasser – äußerst kurz – die oben schon beschriebenen zentralen Fragenstellungen, die er im Kontext seines 2020 fertig gestellten Buches bearbeiten/​beantworten will.
Die Debatte über Inklusion und der Fortbestand der gesellschaftlichen Segregation
Im 2. Kapitel befasst sich Norbert Störmer zunächst mit grundlegenden definitorischen Perspektiven der vielschichtigen Begriffe Inklusion, Integration und/oder Exklusion. Eingangs skizziert der Autor die These, dass gerade im Kontext des Inklusionsbegriffes viele Dinge noch im Vagen und Unklaren bleiben und es entsprechend kritisch zu fragen gilt, ob mit dem Begriff der Inklusion nicht auch ein leeres Versprechen oder gar – wie es einige zitierte Autor:innen beschreiben – eine „Inklusionslüge“ oder ein falscher „Budenzauber“ einhergeht (S. 19).
Entsprechend werden Probleme mit der Begrifflichkeit und – folgerichtig – auch mit der Inhaltlichkeit von Inklusion und Integration skizziert; dargestellt wird vor allen Dingen die Ambivalenz des Begriffes der Inklusion, denn obwohl eine eindeutige fachliche Definition im fachlichen Diskurs widersprüchlich bleibt, erscheint es erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Begriff Verwendung findet (S. 22).
Eine weitere Besonderheit sei, dass die (deutsche) Debatte über Inklusion stark und ggf. einseitig auf das Erziehungs- und Unterrichtssystem zugespitzt wird und/oder auch ein Verständnis von Subjektivität zu fehlen scheint (S. 27). Zusammenfassend hält Norbert Störmer fest, „dass die Debatte über Inklusion teilweise sehr undifferenziert geführt wird und sie über weite Strecken einen einseitigen, inflationären, ambivalenten, widersprüchlichen und oft auch nur rhetorischen Charakter hat“ (S. 28).
Im Zusammenhang mit der – schwierig zu definierenden – Begrifflichkeit der Inklusion erweitert der Verfasser seine Ausführungen um einen kompakten Exkurs zur Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Inklusionsdebatte (Kapitel 2.2). Er skizziert ein Problem der Geschichtsvergessenheit in der Inklusionsdebatte (Kapitel 2.3) und schreibt zur fehlenden gesellschaftstheoretischen Reflexion des fachlichen Diskurses um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Inklusion (Kapitel 2.5).
Gerade die Perspektive, dass es zu den realen Wirklichkeiten der Gesellschaft gehört, Menschen als Humankapital gebrauchen zu wollen, ohne diesen Menschen Subjektivität und Autonomie ernsthaft zu gewähren, beeinflusst – so Norbert Störmer – die Debatte nicht unerheblich (S. 45). In Form eines historischen Rückblicks werden im Folgenden soziale Bewegungen im Zusammenhang mit Inklusionsbemühungen beschrieben (Kapitel 2.5). Der Bogen ist dabei von den 1950er-Jahren (mit den ersten Elternvereinen) über die 1970er-Jahre (mit den bewusst provokativ benannten „Krüppelgruppen“) bis zur Gründung der Selbstbestimmt-Bewegung der 2000er-Jahre gespannt.
Im Kontext der zentralen Fragestellung endet das 2. Kapitel mit zusammenfassenden Perspektiven zu Exklusion, Inklusion und Integration im Sinne eines Orientierungsversuches bezogen auf einschlägige Transformationsprozesse (Kapitel 2.6). Hier bilanziert der Verfasser, dass es für die Inklusionsdebatte unabdingbar sei, die gegebenen sozialen Zusammenhänge einer genauen Analyse zu unterziehen und dabei vor allen Dingen zu beachten, wie stark Institutionen den Grad der Teilhabe von Menschen mit Behinderung bestimmen. Das „Gesellschaftsprojekt Inklusion“ muss das im Begriff der Inklusion angelegte „andere“ erfassen und das Bestehende entsprechend überwinden (vgl. S. 56 ff.)
Produktionsverhältnisse und Reproduktionsverhältnisse im Wandel
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention sind für Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernschwierigkeiten vor allen Dingen zentrale – und letztlich eigentlich selbstverständliche – Menschenrechte fixiert worden (S. 59). Im Kontext eines zunehmend als autoritär wahrnehmbaren Kapitalismus sieht Norbert Störmer allerdings ein deutlich verstärktes Auseinandertriften der Gesellschaft mit entsprechenden sozialen Desintegrationsprozessen und dem verunsichernden Eindringen kapitalistischer Imperative wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz in die sozialen Beziehungen (S. 60 f.).
Der Autor setzt sich anschließend mit der Ideologie des Neoliberalismus und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen seit den 1970er-Jahren auseinander (Kapitel 3.1). Gerade in der These – oder vielleicht gar im Aberglauben – dass Freiheit dann als gegeben angesehen wird, wenn grenzenlose Mobilität und ein Wachstum auf den Märkten gegeben, sowie eine Integration der Menschen ohne tiefgehende Regulierungen in die Marktprozesse möglich ist (S. 62), scheint es begründet zu sein, dass die diffuse Macht des Marktes desintegrierende Tendenzen – vor allen Dingen für den Arbeitsmarkt – mit sich gebracht hat.
Norbert Störmer sieht in der Konsequenz eine Abfolge von „Landnahmen nichtkapitalistischer Terrains“ (Kapitel 3.2) und einen veränderten Blick auf Menschen (Kapitel 3.3), wo aktuell Individuen vor allen Dingen danach bewertet werden, ob sie dem Marktgeschehen zur Verfügung stehen können und ob sie in unterschiedlichsten Bereichen der Wirtschaft etwas leisten können (S. 81). Gerade die scheinbar progressiven Vokabeln im Neoliberalismus (Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die menschliche Lebensführung sowie die Interaktion und Kommunikation massiv verändern (Kapitel 3.4), wenn eine Person zum „Unternehmer seiner selbst“ gemacht wird und Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit prägend werden (S. 88).
Inklusion erscheint – so der Autor – entsprechend nur machbar, wenn neoliberale Formierungen und Grundhaltungen zurückgedrängt werden (Kapitel 3.6), denn „Solidarität und das solidarische Handeln von Menschen zerfällt nicht von selbst, sondern wird immer zielgerichtet zerstört. Vernichtet wird dadurch aber immer auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Um grundlegende gesellschaftliche wie auch ökonomische Veränderungen herbeizuführen, ist die Rückkehr zu einem gewissen Kollektivismus und einem geteilten Gemeinsamen notwendig“ (S. 98).
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ in der Gesellschaft
Das folgende Kapitel stellt das 2002 gestartete – gleichnamige und durch Wilhelm Heitmeyer publizierte – empirische Forschungsprojekt und dessen Ergebnisse vor. Die grundlegende Frage der auf zehn Jahre angelegten Langzeitstudie war, ob die Würde des Menschen – entgegen der entsprechenden Formulierung unseres Grundgesetzes Art. 1 Abs. 1 – vielleicht doch antastbar ist. Nach der Vorstellung des Grundkonzeptes des komplexen Forschungsprojektes sind ausgewählte Ergebnisse skizziert.
Erkennbar sind laut Studie unter anderem eine nachlassende Integrationsbereitschaft und ein Schwinden der Akzeptanz des Grundsatzes der Gleichwertigkeit aller Bürger in der deutschen Gesellschaft; eine stärker empfundene Krisenbedrohung sowie zunehmende Desensibilisierung und Entsolidarisierung lassen Kernnormen wie Solidarität, Fairness und soziale Gerechtigkeit erodieren (vgl. S. 106 ff.).
Gerade die Bereitschaft zur Hilfe und Unterstützung von sozial schwachen Gruppen scheint deutlich abzunehmen. Gerade Angehörige höherer Einkommensgruppen betrachten Menschen in prekären Lebenslagen (wie z.B. Armut, Krankheit oder eben Behinderung) immer seltener als gleichwertig und etikettieren diese Menschen teilweise sogar als nutzlos (siehe S. 111). Erschreckend zeigen Befragungsdaten, dass etwa ein Drittel der (befragten) Deutschen tendenziell der Aussage zustimmen würde, dass sich eine Gesellschaft wenig nützliche Menschen und menschliche Fehler nicht mehr leisten kann und dass in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager genommen würde (S. 115).
Derartige Entwicklungen einer „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ – die erschreckend an historische Ereignisse im so genannten 3. Reich erinnern – ergeben folgerichtig große Herausforderungen für inklusiv ausgerichtete Transformationsprozesse, denn auch eine „in der Gesellschaft wirkende Menschenfeindlichkeit unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel. Eine Gesellschaft jedoch, die nach Gleichwertigkeit strebt, sollte Ungleichwertigkeiten und ihre Hintergründe erkennen können“ (S. 121).
Folgerichtig entgegnet Norbert Störmer muss das Leitbild der Gleichwertigkeit aller Menschen zum Standard des gesellschaftlichen Handelns werden, es gilt die Vielfalt von Menschen zu schätzen und dementsprechend zu verhindern, dass gesellschaftliche Minderheiten weiterhin in der Öffentlichkeit diskreditiert und ausgegrenzt werden (vgl. S. 122).
Diskriminierende und pathologisierende Prozesse in der Gesellschaft
Das untersuchte und – dem kritischen Blick der Öffentlichkeit nicht unmittelbar ausgesetzte – Syndrom der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ beruht stark auf einer Ideologie der Ungleichheit; im 5. Kapitel analysiert Norbert Störmer die daraus resultierenden Tendenzen einer zunehmenden Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen in der Gesellschaft.
Vor allem Langzeitarbeitslose, Obdachlose oder Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernerschwernissen (wie eben Menschen mit Behinderungen) werden – von vermeintlichen, selbsternannten Eliten – zur eigenen Selbstaufwertung abgewertet und herabgesetzt. Bedeutsam erscheinen dabei auch die Medien, die – mal unbewusst, mal bewusst provokativ – Ressentiments gegenüber bestimmten Personengruppen/​Minderheiten verstärken (vgl. S. 128 f.).
Die Konstruktion von Normen und/oder Normalität spielt dabei eine zentrale Rolle in der Gesellschaft (vgl. Kapitel 5.2). Ungeachtet der Tatsache, dass gesellschaftliche Normen nie statisch und absolut feststehend sein können und – als sozialkulturelles Phänomen – stetigem Wandel unterworden sind, passen sich Menschen konstruierten, normativen Gefügen (z.B. eben einer wie auch immer konstruierten Idee von Normalität) an, verinnerlichen und verallgemeinern diese.
Vorstellungen von Normen fordern – so der Verfasser – eine Akzeptanz dieser Normen und die Anpassung von Menschen an diese; Normen (und Regeln) werden somit für den einzelnen wie auch soziale Gruppen zu einem gewissen Wertmaßstab; problematisch ist der Umgang mit Abweichungen dieser Norm. Menschen die konstruierte Normalitätskriterien nicht erfüllen (können) werden – losgelöst von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – stark individualisiert und isoliert betrachtet; dies führt zu Wertungen von Personen; eine Abweichung von der Normalität wird zu einer persönlichen Eigenschaft und einem Wesensmerkmal – z.B. eben Mensch mit einer geistigen Behinderung – der betreffenden Person (S. 135 f.).
Entgegen der Erkenntnisse eines bio-psycho-sozialen Erklärungsmodells werden somit individuelle Problemstellung von Menschen geradezu pathologisiert und/oder biologisiert (S. 137 f.). Besonders auffallend ist dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Menschen werden als Menschen mit Behinderung klassifiziert, wenn sie signifikante Abweichungen von einer fiktiven Durchschnittsnorm zeigen und hinsichtlich Leistungsfähigkeit, der körperlichen Unversehrtheit und/oder des Lernens oder Handelns entsprechende Unterschiede festgestellt, diagnostiziert und/oder attestiert werden.
Der Diskurs um eine gelingende Inklusion muss sich – so Norbert Störmer im Weiteren – mit den Prozessen befassen, die zu spezifischen Klassifikationssystemen und Zuschreibungen (ICD -10, DSM-5. Lernbehinderung, geistige Behinderung etc.) führen, „Denn gerade die in solchen Klassifikationen eingebundenen Folgen von Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung sollen ja vermieden und überwunden werden“ (S. 141).
Gerade in den spezifischen Klassifikationssystemen von Behinderung spiegeln sich Abweichungen als Störungen wider; diese Störungen werden – wie schon aufgezeigt – aber individualisiert und eben als Störungen; Herausforderungen und/oder unerwünschtes Verhalten einzelnen Personen wahrgenommen (vgl. Kapitel 5.3); ausgehend von den vielschichtigen Kritikpunkten an den standardisierten Klassifikationen, verdeutlicht der Verfasser die Notwendigkeit der De-Kategorisierung im Spiegel der Inklusion (Kapitel 5.4).
Begrifflichkeiten – wie z.B. „sonderpädagogischer Förderbedarf“ oder „Verhaltensstörung“ – sollten überwunden werden; entsprechend „gilt es, Menschen als Subjekte zu behandeln; ihnen ihr Erleben zu belassen, Beziehungen zu ihnen herzustellen und eine erforderliche Unterstützung zum Lernen sicherzustellen. Unterstützungsangebote können und müssen sich also auf konkrete Personen in relevanten Sozialräumen beziehen … Pädagogisches Handeln muss unter diesen Voraussetzungen immer Bezug nehmen aus die individuelle Lebens- und Lerngeschichte, den individuellen Lernvoraussetzungen und der spezifischen Bedarfslage“ (S. 158).
Inklusion und Familie
Ab dem 6. Kapitel widmet sich Norbert Störmer unterschiedlichen Lebenslagen/​Teilhabebereichen/​Arbeitsfeldern in denen Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernerschwernissen mit den Chancen und Herausforderungen der Inklusion konfrontiert sind; er beginnt mit einer Betrachtung der Familie als gesellschaftliche Institution, der ganz bestimmte Erwartungen (Absicherung des Daseins/​Sorge um gesellschaftlichen Nachwuchs im Sinne einer Produktions- und Reproduktionsfunktion; Bildung von Humankapital etc.) entgegengebracht werden.
Familie wird zunächst vielschichtig im Wandel der Zeit betrachtet (Kapitel 6.1); die Bedeutung der Familie als wichtige Lebensgemeinschaft ist unter den Gesichtspunkten Erziehung und Bildung in familiären Kontexten diskutiert (Kapitel 6.2). Familien kommt hier die besondere Verantwortung für das Aufwachsen ihrer Kinder zu. Sie sind in der Regel Ausgangspunkt und grundlegender Ort für kindliche Bildungsprozesse (S. 177) – bildet doch die Kindheit das zentrale Fundament für die gesamte kognitive, sprachliche und sozio-emotionale Entwicklung eines Kindes (S. 181).
Entsprechend sollten kindgerechte und entwicklungsfördernde Interaktions- und Kommunikationsstrukturen entstehen, die – bei aller Heterogenität bestehender familiärer Systeme – von hoher Verlässlichkeit, Vertrautheit und Verfügbarkeit geprägt sind (S. 183 f.). Nachdem es aber eine nicht unerhebliche Gruppe von Eltern gibt, die diesen erwünschten, interaktiven und kommunikativen Rahmen für die kindliche Entwicklung nicht bereitstellen können, erscheint es wenig verwunderlich, dass Erziehung und Bildung in der Familie als Probleme identifiziert werden können (vgl. S. 184 ff.).
Entsprechend der umfassenden Aufgaben und Herausforderungen, mit denen Eltern konfrontiert sind, braucht es vielfältige Möglichkeiten der Unterstützung der Institution Familie zur Wahrnehmung ihrer originären Erziehungs- und Bildungsaufgaben wie z.B. in Organisationen wie Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Ganztagsschulen usw. (vgl. Kapitel 6.3).
Im Sinne der Inklusion gilt es für Familien mit Kindern mit spezifischen Lebens- und Lernschwierigkeiten die Gefahr unterschiedlicher Desintegrations- und Desorganisationsprozessen zu vermeiden; bedeutsam für die kindliche Entwicklung ist die professionelle und konstruktive Auseinandersetzung mit Enttäuschungen, Trauer und Wut, die ggf. mit der Geburt eines Kindes mit Behinderung verbunden sind.
Wichtig für die kindliche Entwicklung ist die Ressourcenorientierung in den pädagogischen Handlungsperspektiven – als zielgerichteter Gegenentwurf einer immer noch weit verbreiteten Akzentuierung auf erkannte Defizite, Nachteile und/oder Probleme auf Seiten des Kindes. Neben einer stärkeren Familienorientierung von sozialen Dienstleistungen in der Beratung, Begleitung und Assistenz Betroffener, braucht es die (Um-)Gestaltung der Infrastruktur der nahen sozialen Räume, in denen sich Partizipation und Integration alltagspraktisch verwirklichen lässt (S. 201).
Inklusion in Kindertageseinrichtungen
Der zunehmenden Bedeutung von Kindertagesstätten – als wichtiger Erziehungs- und Bildungsbereich – wird im 7. Kapitel Rechnung getragen; Kindertagesstätten sollen – laut § 22 SGB VII – Einrichtungen sein, in denen Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig in Gruppen gefördert werden und durch die die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützt und ergänzt werden soll. Gerade diese Förderung in Gruppenkontexten erweist sich aber – aufgrund der Heterogenität der Gruppe und/oder den subjektiven Problemlagen der Kinder – als außerordentlich schwierig (vgl. S. 203 f.).
Norbert Störmer betont entsprechend die gesellschaftliche Bedeutung von Kindertageseinrichtungen und skizziert (und kritisiert) ein – primär auf den Erwerb von Schlüsselkompetenzen und die Vermittlung von Wissenstatbeständen ausgerichtetes – Verständnis von Bildung im frühpädagogischen Bereich. Der Autor schildert Probleme hinsichtlich der kindgerechten Gestaltung der Interaktion und Kommunikation in Kindertagesstätten.
Nachdem Kinder bereits vor ihrem Eintritt in die Kindertageseinrichtung in ihrem familiären Lebensraum entsprechende, prägende Erfahrungen machen, ist es für Pädagoginnen und Pädagogen wichtig, sich frühzeitig und intensiv mit den Interaktions- und Kommunikationserfahrungen der Kinder in der Gruppe auseinanderzusetzen und ggf. latent vorhandenen Tendenzen zur Diskriminierung anderer und/oder Aspekten der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ entgegenzuwirken (vgl. S. 216).
Im Weiteren beschreibt der Verfasser Prozesse der Inklusion und Exklusion im Bereich von Kindertageseinrichtungen (Kapitel 7.3); er thematisiert u.a. Probleme der Segregation, welche in einer Pädagogik, die von einem enormen Ökonomisierung- und Beschleunigungsdruck dominiert wird, entstehen können. Dies wiederum bewirkt Schwierigkeiten in der individuellen Förderung der Kinder; gerade Kinder mit spezifischen Lebens- und Lernerschwernissen werden – auch über begriffliche Zuschreibungen wie „Behinderung“ oder „Förderung in heilpädagogischen Einrichtungen“ – zusätzlich ausgegrenzt.
Erneut mit Blick auf den schon zitierten § 22 SGB VIII plädiert Norbert Störmer für spezifische Unterstützungsnotwendigkeiten, wie sie z.B. ein Verbund unterschiedlicher Kindertageseinrichtungen mit speziellen Stützpädagogen bieten könnte. Elementar für die Arbeit der Fachkräfte sind spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote für den Umgang mit den vielfältigen Bedarfslagen der Kinder; nur so könne die Idee einer Kindertagesstätte für alle realisiert werden, wo alle Kinder gemeinsam leben, lernen und spielen (Kapitel 7.5).
Schule und Inklusion
Entsprechend der besonderen Bedeutung der schulischen Bildung bei Fragen der Inklusion, ist der Debatte um die Betreuung und Begleitung von Kinder mit einem diagnostizierten „sonderpädagogischen Förderbedarf“ das folgende Kapitel gewidmet; ungeachtet aller Bemühungen zur inklusiven Bildung werden Schulen – so Norbert Störmer – noch überwiegend als segregativer Erziehungs- und Bildungsraum organisiert bzw. von den Betroffenen entsprechend erlebt, denn es werden von der Politik weder die strukturellen und organisatorischen, noch die sachlichen und personellen Voraussetzungen für Umsetzung der Inklusion geschaffen (S. 258).
Insbesondere die gegebenen ausdifferenzierten Schulstrukturen in Deutschland legen Exklusionsprozesse geradezu nahe (vgl. Kapitel 8.2). Nachdem Lehrerinnen und Lehrer unverändert signalisieren, dass Sie nur über geringe Kompetenzen hinsichtlich der Gestaltung von Unterrichtsprozessen mit einer besonders heterogenen Schülerschaft besitzen (S. 265) kommt den Sonderschulen unverändert eine zentrale Rolle in der schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen in besonderen Lebensumständen und/oder mit einer Behinderung zu.
Im Kontext der möglichen – und im Sinne der Inklusion sicher anzustrebenden – Auflösung von Sonderschulen und ihrem Fortbestand innerhalb der Regelschule resümiert Norbert Störmer: „Sonderschulen erweisen sich als entbehrlich, aber auch erst dann, wenn Regelschulen sie unter Beachtung aller in Erwägung zu ziehender Faktoren auch entbehrlich machen und sich gemäß dieser Einrichtungen auch entsprechend verändern“ (S. 274).
Bei der Umsetzung inklusiver Perspektiven muss es daher – und trotz vielschichtiger Herausforderungen in der Interaktion und Kommunikation in der Schule – vor allen Dingen um Strukturveränderungen des stark gegliederten, segregativen Erziehungs- und Bildungssystems gehen (vgl. Kapitel 8.4). Um das gemeinsame, inklusive Leben und Lernen in einer Schule für alle zu ermöglichen, ergeben sich für Schulen spezifische Unterstützungsnotwendigkeiten wie z.B. die Einrichtung einer Schulbegleitung und/oder einer schulbezogenen Schulsozialarbeit.
Inklusion und die Pädagogik als Wissenschaft
Im anschließenden 9. Kapitel erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Pädagogik als der Handlungswissenschaft für die vielschichtigen, unterschiedlichen gesellschaftlichen Lernbereiche; dadurch, dass sich die Pädagogik im Laufe ihrer Entwicklung in viele sogenannte Bereichspädagogiken aufgelöst hat, ergibt sich eine nur schwer zu überwindende Misere mit der Heil- und Sonderpädagogik und ihrem spezifischen Selbstbild (Kapitel 9.2).
Die Vorstellungen der Einführung einer evidenzbasierten Pädagogik steht im Widerspruch zur Inklusion mit ihrer Notwendigkeit einer allgemeinen, basalen und nichtreduktionistischen Pädagogik (Kapitel 9.4). Die kritische Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Aspekten der Pädagogik führt Norbert Störmer zur These, dass sich Fragen der Inklusion letztendlich nur didaktisch lösen lassen.
Pädagoginnen und Pädagogen müssen folglich darauf ausgerichtet sein, bei den Schülerinnen und Schülern Erkenntnisprozesse zu ermöglichen und zu strukturieren über die schließlich ein nachhaltiger Prozess der Selbstbildung entstehen kann (S. 346). In den Blick genommen müssen dabei aber auch die Probleme der Diagnostik in inklusiven Prozessen und die entsprechende fachliche Professionalisierung.
Inklusion und Erwerbstätigkeit
Neben der schulischen Inklusion kommen der beruflichen Inklusion, der Erwerbstätigkeit und der auf diese ausgerichtete Berufsausbildung eine besondere Relevanz zu, denn „Eine Teilhabe am Arbeitsleben wird heute als der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe überhaupt angesehen. Einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, kommt damit in persönlicher wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Denn über die Erwerbsarbeit erfolgt nicht nur eine soziale Einbindung in das gesellschaftliche Arbeitsgeschehen, sondern diese Einbindung ist auch mit einer sozialen Anerkennung verbunden“ (S. 379).
Nachdem sich der allgemeine Arbeitsmarkt aufgrund seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen sowie seiner Entwicklungslogik als Markt angesehen werden muss, der sich durch soziale Ungleichheiten, vielfältige Verdrängungseffekte und Exklusionsmustern auszeichnet (vgl. S. 380) stellen sich entsprechend große Herausforderungen im Zusammenhang mit der Inklusion. Norbert Störmer skizziert in diesem Kontext eine Vorstellung von Arbeit und ihrer Ambivalenzen (Kapitel 10.1) und setzt sich differenziert mit dem – an neoliberalen Dogmen ausgerichteten – Arbeitsmarkt und seiner segregativen Strukturen auseinander (Kapitel 10.2).
Wenn Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernschwierigkeiten die gleichberechtigte Teilhabe an Prozessen der Arbeit ermöglicht werden soll, dann wäre – so die Schlussfolgerung – eine konsequente und nachhaltige Neuausrichtung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik notwendig (S. 396). Voraussetzung für eine Erwerbstätigkeit der Menschen mit Behinderung bildet die berufliche Bildung/die Berufsausbildung und der entsprechend schulisch vorbereitete Übergang in den Arbeitsmarkt.
Der Verfasser betont, wie komplex es für Betroffene sein kann, eine erfüllende Erwerbstätigkeit zu finden, die spezifische Problemlagen berücksichtigt (Kapitel 10.4). Eine Perspektive könnten – als Alternative zu den Werkstätten für Menschen mit Behinderung – rehabilitatorische Maßnahmen im Sinne einer „Unterstützen Beschäftigung“ und/oder unterschiedliche Möglichkeiten eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors sein.
Der Diskurs zur beruflichen Teilhabe kommt nicht umhin, Werkstätten und für Menschen mit Behinderung (WfbM) und entsprechende Tagesstätten kritisch zu betrachten; mit den etwa 2700 Betriebsstätten und etwa 300.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (vgl. S. 428) haben die Werkstätten einen bedeutsamen Sonderarbeitsmarkt etabliert.
Ungeachtet des Bekenntnisses zur Inklusion finanzieren sich die Werkstätten – so Norbert Störmer – über die Sozialleistungsträger und haben sich den Status ein „Ersatzarbeitsangebot für stark leistungsgeminderte Personen“ zur Verfügung zu stellen bewahrt. Sie operieren – trotz ihres Status als Sondereinrichtungen im Sozialleistungssystem – vielfach vorrangig auf der Grundlage marktwirtschaftlicher Gesetze (S. 431).
Nachdem in der aktuellen Konzeption die pädagogische Arbeit in Werkstätten sowohl arbeits- als auch berufsspezifische Momente der Ausgrenzung und Prekarisierung in sich trägt, bedarf es – so der Autor – der Überwindung gegebener Strukturen, ganz im Sinne des neuen Bundesteilhabegesetzes (BTHG); andernfalls werden die Werkstätten in sich geschlossene Sonderwelten bleiben, die keinen relevanten Beitrag zu einer inklusiveren Arbeitswelt leisten (S. 435).
Im Kapitel 10.7 diskutiert der Verfasser den dauerhaften Ausschluss aus einer Erwerbstätigkeit und stellt die Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Perspektive für Menschen mit individuellen Handicaps sein kann. Die reflektierten Ausführungen dazu werfen viele (noch) unbeantwortete und ambivalente Fragestellungen auf (z.B. ob es überhaupt ein lohnenswertes gesellschaftliches Ziel darstellen soll, wirklich alle Menschen mit einer mehr oder weniger hohen materiellen finanziellen Grundausstattung auszustatten).
Seiner bisherigen Bearbeitungslogik folgend, zeigt der Autor im Kapitel 10.8 Perspektive gemeinsamer Arbeitswelten auf. Die Frage, was möglich und was notwendig ist, wird eher auf einer Meta-Ebene diskutiert und ist von der Erkenntnis begleitet, dass der heutige Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit ganz sicher nicht durch inklusive Strukturen gekennzeichnet sein wird (S. 445).
Inklusion und das Leben in der Gemeinde
Neben der Teilhabe an Arbeitsmarkt stellt die – durch ein angemessenes Einkommen mögliche – selbstbestimmte Lebensführung im Gemeinwesen (einschließlich einer angemessenen Wohnsituation) sicherlich eine zentrale Zielperspektive für erwachsene Personen dar. Leider entspricht es noch lange nicht der Alltagsrealität vieler Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernproblemen, dass sich Betroffene die Grundsätze der Selbstbestimmung und Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft erschließen können (S. 453).
Viele Menschen mit Behinderung lebten und leben unverändert in Einrichtungen oder Anstalten, die – wie es Norbert Störmer zugespitzt formuliert – Orte der vollzogenen sozialen Ausgrenzung darstellen (Kapitel 11.1). Gerade das Wohnen in Heimen setzt den Menschen – durch mehr oder weniger notwendige organisatorische Strukturen, Regeln und geplante Tagesabläufe – teils enge Grenzen in der individuellen Lebensführung; Zielperspektive der Inklusion muss es dementsprechend sein, gerade auch in den Einrichtungen der Behindertenhilfe institutionalisierte Regeln zu überwinden und das selbstbestimmte Leben als die alltägliche, „normale“ Lebensführung aufzubauen.
Hier gilt es Selbstbestimmung zu fördern und Fremdbestimmung zu reduzieren – und dies vor dem Hintergrund, das selbstbestimmt leben dennoch bedeuten kann und wird, auf Unterstützung angewiesen zu sein (Kapitel 11.3).
Ganz im Sinne seiner Forderung nach umfassenden Transformationsprozessen in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernerschwernissen skizziert der Verfasser die zwingende Notwendigkeit, Veränderungen vorherrschender Betreuungsmentalitäten zu erreichen (Kapitel 11.4). „Dabei gilt es, in der kooperativen Arbeit zu entdecken, welche Möglichkeitsräume es gibt, welche sich neu entdecken lassen und welche ausgestaltet werden können“ (S. 492).
Eine besondere Bedeutung ist dabei dem Sozialraum bzw. der Sozialraumorientierung in der Gestaltung von Unterstützungsangeboten beizumessen, denn „soziale Geborgenheit von Menschen wird immer auch mit persönlichen sozialen Beziehungen im gewohnten Umfeld in Zusammenhang gebracht“ (S. 497). Dass die Transformation traditioneller Wohnstrukturen nicht problemlos verlaufen wird und ein Sozialraum eben auch ein Konfliktfeld sein kann, lässt Norbert Stürmer in seinen Überlegungen nicht unerwähnt.
Dennoch müssen sich notwendige Hilfe- und Unterstützungsangebote stärker an den subjektiven Vorstellungen und Wünschen einzelner Personen orientieren, wenn Inklusion gelingen soll (S. 514).
Inklusion im Spiegel politischer diesbezüglicher Bestrebungen
Mit der Einführung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wird die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernschwierigkeiten eingefordert und der Paradigmenwechsel eingeleitet, der die betroffenen Personen nicht länger zu Objekten eines bevormundenden Fürsorgeprinzips macht (S. 515). Die Umsetzung der Konvention auf regionaler Ebene beinhaltet eine zutiefst politische Dimension, die sich u.a. in speziellen Aktionsplänen manifestiert.
Norbert Störmer stellt u.a. exemplarisch den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung oder den Aktionsplan der Sächsischen Staatsregierung mit all ihren Begrenzungen vor. Er widmet sich kurz der deutschen Gesetzgebung (insbesondere dem Bundesteilhabegesetz) und versucht zu verdeutlichen, auf welchem Weg sich die Inklusion befindet.
Er attestiert, „dass zwar die Bundesregierung die UN-BRK unterschrieben hat und diese Konvention auch nachfolgend ratifiziert worden ist, jedoch in den zurückliegenden zehn Jahren kein gesteigertes Interesse zu entdecken war, die Bestimmungen der Konvention auch wirklich umsetzen zu wollen“ (S. 563).
Inklusion und das Prinzip Hoffnung – Inklusion erfordert Transformationsprozesse vielfältiger Art
Ausgehend von der Zielsetzung, dass Inklusion auf die volle, gleichberechtigte sowie gleichwertige aktive und selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen an den gesellschaftlichen Möglichkeiten des Lebens und Lernens ausgerichtet ist (S. 565), wiederholt Norbert Störmer in seinem letzten, zusammenfassenden und ausblickenden Kapitel die Notwendigkeit, dass es grundlegende Transformationsprozesse in der Betreuung, Begleitung und Bildung von Menschen mit individuellen, heterogenen Lebens- und Lernschwierigkeiten geben muss.
Nur, wenn eine andere Haltung gegenüber dem Phänomen „Behinderung“ eingenommen wird und wenn ein Weg eröffnet und beschritten wird, der auch grundlegende strukturelle Veränderungen erbringt, kann Inklusion gelingen. Es „wird … hinsichtlich der Umsetzung der Vorstellungen der Inklusion notwendig sein, die Demokratie zurückerobern zu müssen und es müssen viele offenkundig undemokratische Entscheidungsprozesse aus den Klammergriffen befreit werden, die sich durch Politikverdrossenheit, durch Lobbyismus und anderen Fehlentwicklungen aufgebaut haben“ zitiert Norbert Störmer abschließend noch einmal aus der Studie zur „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.
Diskussion
Das thematisch breit angelegte, in den Ausführungen stets kritisch reflektierte Buch von Norbert Störmer zur Inklusion zwischen Utopie und Realitätgreift zentrale Themenfelder auf, die sich im Kontext der Inklusion von Menschen mit besonderen Lebensumständen und Herausforderungen, Lebens- und Lernschwierigkeiten, Handicaps und Behinderung ergeben; die Ausführungen können – aber das ist dem Umfang und der unendlichen Themenvielfalt geschuldet – nicht durchgehend jede Facette des Themenspektrums vertiefend und abschließend erfassen. Hier bietet aber das Literaturverzeichnis zahlreiche Hinweise für die weitere Auseinandersetzung mit einzelnen Handlungs- und Lebenswelten von Menschen mit Behinderung.
Sehr positiv ist, dass der Autor in seinen Ausführungen ideologisches „Schwarz-Weiß-Denken“ vermeidet; der Text ist ein klares Plädoyer dafür, dass es sich lohnt, inklusiv zu denken und zu handeln; aber natürlich werden auch Begrenzungen und Schwierigkeiten – und vielleicht auch einmal die eine oder andere „fehlgeleitete Entwicklung“ thematisiert. Zumindest kurze Beispiele für gelingende Transformationsprozesse und Methoden und Techniken zur Umsetzung der Inklusion verweisen darauf, dass Inklusion vielleicht eine Vision aber eben keine unerreichbare Utopie sein kann.
Sicher gibt es – aber das liegt wohl am jeweiligen Interesse des Lesers/der Leserin – Passagen und Themen, die noch differenzierter und vielschichtiger denkbar sind; ggf. wäre es interessant, noch ein wenig mehr Praxisbezüge kennenzulernen und zu erfahren, wie genau – beispielsweise – die Umsetzung der „Unterstützten Beschäftigung“ oder einer „Schulbegleitung“ gelingen kann.
Gerade im Kontext der politischen Perspektiven des Themenspektrums (wie z.B. den Ausführungen zum Neoliberalismus) braucht noch weitere Lektüre einschlägiger Texte, um die Ausführungen von Norbert Störmer etwas vielschichtiger einordnen zu können. Viele juristische Perspektiven können – das ist schon dem Format eines solchen Fachbuches geschuldet – ebenso wenig umfassend betrachtet werden, wie die speziellen organisatorischen Rahmenbedingungen und Strukturen von Institutionen wie beispielsweise den Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
Wie schon erwähnt, ist der konkrete Praxisbezug – d.h. mit welchen Techniken und Methoden Inklusion umgesetzt werden kann – sicherlich kein zentraler Aspekt dieses Grundlagenwerkes. Hier braucht es schon das individuelle Interesse und die Vertiefung durch die Leserinnen und Leser.
Alles in allem bietet das vorliegende Buch aber einen erfreulich, außergewöhnlich vielschichtigen, ausgewogenen und lesenswerten Überblick zur Inklusion in all ihren Facetten und Herausforderungen; es ergänzt, erweitert und aktualisiert bekannte und relevante Publikation wie z.B. Empowerment und Inklusion vom eingangs schon erwähnten Georg Theunissen.
Fazit
Empfehlenswert ist „Inklusion zwischen Utopie und Realität“ für eine breit gefächerte Leserschaft. Spannend kann die Lektüre sicherlich für Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sein. Eine weitere potentielle Zielgruppe sollten politische Entscheidungsträger und Führungskräfte sozialer Organisationen sein – gerade im Kontext schulischer Bildung und/oder der Eingliederungshilfe sowie in der Ausbildung an Fachakademien und/oder Hochschulen. Insgesamt werden die fundierten Ausführungen in jedem Fall lohnende Anregungen, Gedanken und Fragestellungen für den weiteren fachlichen Diskurs bieten.
Literatur
Theunissen, Georg (2010): Inklusion – Schlagwort oder zukunftsweisende Perspektive?, in: Georg Theunissen/​Kerstin Schirbort (Hrsg.), Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemäße Wohnformen – Soziale Netze – Unterstützungsangebote, 2. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer Verlag, Stuttgart
Theunissen, Georg (2008): Empowerment und Inklusion – 2. Aufl., Lambertus Verlag, Freiburg im Breisgau
Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger
Diplom-Sozialpädagoge (FH)
Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung.
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