Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich
Rezensiert von Arnold Schmieder, 17.05.2023

Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Piper Verlag GmbH (München) 2022. 2. Auflage. 272 Seiten. ISBN 978-3-8270-1415-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Thema
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es im Artikel 3 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes. Das wird gleich im Titel des Buches von Ronen Steinke bestritten. Indem er viele Einzelfälle vorstellt und kommentiert, zeigt er, dass und wie der soziale Status und die finanziellen Ressourcen eines Beklagten bei der Rechtsprechung eine Rolle spielen können. Der Autor macht Verbesserungsvorschläge.
Autor
Dr. Ronen Steinke ist Jurist und recherchiert und publiziert seit Jahren zu Justizthemen, auch als Autor und Redakteur der Süddeutschen Zeitung.
Inhalt
Nebst Vorwort, einem sehr umfänglichen Anmerkungsapparat und einer Danksagung ist das Buch in dreizehn Kapitel mit jeweils drei Unterkapiteln gegliedert. Gleich im Vorwort wird betont, dass „Arme und Reiche (…) vor dem Strafrecht in vielerlei Hinsicht ungleich (sind). Die Justiz begünstigt jene, die begütert sind. Und sie benachteiligt jene, die nichts haben.“ (S. 12) Auch distanziert Steinke sich von dem seit Karl Liebknecht tradierten Begriff der „Klassenjustiz“, wie er als „neue“ im Untertitel seines Buches hervorgehoben ist, auch darum, weil ihm das „Wort ‚Klasse‘ (…) schwer über die Lippen“ kommt. „Es klingt nach einer Vereinfachung eines Problems, das viel komplexer ist. Die ärmeren Milieus sind kein Monolith.“ (S. 15)
Das Kapitel I. Anwälte beginnt mit einer scheint’s provozierenden Unterzeile: „Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger wird der Angeklagte“. (s. p.) Wie durchgängig in seinem Buch zeigt Steinke anhand authentischer Fälle, dass die Angeklagten auch im häufigen Fall von Bagatelldelikten schlechter wegkommen, wenn sie versuchen, sich selbst zu verteidigen. Auch werden Pflichtverteidiger*innen nicht ohne Weiteres zugeordnet, wobei hinzukommt, dass sie von der Staatskasse sehr schlecht honoriert werden. Anderseits gibt es auch das Phänomen, dass sich Anwält*innen mit dem Gericht gut stellen und nicht durch „Kampfeslust“ auffallen wollen; auf sie entfallen im Juristenjargon die wenig schmeichelhaften Bezeichnungen wie „Verteidiger mit eingebautem Rechtsmittelverzicht“ oder „Gerichtsnutten“. (S. 45)
Auch das Kapitel II Urteile beginnt mit einer bündigen Zusammenfassung: „Je prekärer die Lebensumstände, desto strenger entscheiden Richter“. (s. p.) „Ungleichbehandlung“ macht sich nicht direkt am „ökonomischen Status“ fest, sondern auch z.B. an einem „vermeintlichen Versagen in den sozialen Rollen“ etwa „als Vater und Ehemann.“ (S. 53) Und wer, weil arm, eventuell Lebensmittel stiehlt, was vormals als „Mundraub“ milder geahndet wurde, und wer dabei mehrfach erwischt wird und gar noch von seinem Diebesgut etwas veräußert, handelt dann „gewerbsmäßig“ und kann „deutlich schärfer bestraft“ werden. (S. 59 ff.) Das kann auch Arbeitslose treffen, die unter dem Strich seltener Bewährung bekommen.
„Je vermögender man ist, desto billiger kommt man davon“, lautet die Unterzeile zu Kapitel III. Geldstrafe. Die bekannten „Tagessätze“ mögen den Eindruck erwecken, Arme und Reiche würden gleichbehandelt. Doch fängt die Ungleichbehandlung mit der Schätzung des Einkommens von Tätern seitens der Justiz an. Das Finanzamt kann nicht zu Rate gezogen werden. Zwischen Strafverfolgungsbehörden und Finanzbehörden steht das Steuergeheimnis „wie eine Brandmauer“. (S. 81) Und bei einer fälligen Geldstrafe ist begünstigt, wer „reiche Gönner hat“ (S. 86), weil deren Einspringen statthaft ist.
Kapitel IV. Gefängnis, da inspiziert Steinke diese Institution unter dem wichtigen Aspekt eines „neue(n) Schuldenturm(s)“. Die Anzahl der Menschen mehrt sich, die, da sie eine Geldstrafe nicht zahlen können oder sie nicht abarbeiten können, mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bedacht werden. Ersichtlich mit steigender Arbeitslosigkeit füllten sich so die Justizvollzuganstalten zunehmend. Und da sich manche Menschen sogar wünschen in Haft zu kommen, nicht nur Obdachlose, fragt der Autor: „Wenn dieser Ort heute von Armen als Gnade empfunden wird, wie wenig Gnade herrscht dann auf den Straßen?“ (S. 103)
Kapitel V. U-Haft ist zusammenfassend untertitelt: „Wer prekär lebt, wird häufiger präventiv eingesperrt“. (s. p.) Es geht noch nicht um Strafe, sondern um Fluchtgefahr. Schlecht ist es also, „keine Wohnung, keine Arbeit und auch keine Familie“ zu haben, zudem gilt ein fehlender Schulabschluss als „‚fluchtbegünstigend‘“. (S. 117 f.) Für Asylbewerber*innen sieht es unter diesen Voraussetzungen besonders ungünstig aus, dass ihnen eine U-Haft erspart bleibt. Kaution könnte diese Haft ersparen, doch: „Man muss nur etwas Vermögen übrig haben, das man übergangsweise an die Justiz abtreten kann – wenn man vermögend genug ist, kostet es einem unter dem Strich eigentlich gar nichts.“ (S. 128)
Um die „Welt der weißen Kragen“ (s. p.) geht es im Kapitel VI. Wirtschaftskriminalität. Steinke rollt an Fällen auf, wie Geldstrafen als Spesen abgerechnet und wie sie von der Steuer abgesetzt werden. Und es gibt die „sogenannten Spezialstrafrechtsschutzversicherungen“ (S. 140), die besonders für Manager interessant sind für den Fall, dass ein strafwürdiges Handeln durch ihre Berufstätigkeit veranlasst ist. Außerdem ist ein Deal möglich, wobei es darum geht, so Steinke, „ob der Beschuldigte dem Staat etwas anbieten kann, das für den Staat reizvoll ist.“ (S. 146) ‚Reizvoll‘ kann schon ‚Arbeitserleichterung‘ sein: Wenn hochdotierte Anwälte, meist mehrere, die Gerichte mit Korrespondenz überfluten, sind diese – bei in der Regel tatsächlicher Arbeitsüberlastung – froh, wenn sie ein Verfahren vom Tisch bekommen.
Und es gibt die „Welt der Schwächsten“ (s. p.), die im Kapitel VII. Elendskriminalität behandelt wird. Dass Prostituierte kriminalisiert werden, nicht aber ihre Freier, ist ein schon lange bekannter Skandal, dass Hartz-IV-Betrüger*innen härter bestraft werden als Steuerhinterzieher*innen, dürfte weniger bekannt sein. Den Autor veranlasst das zu der Frage, ob es für die Diskrepanz „irgendeine gerechte Erklärung“ gibt: „Ist der Sozialbetrug der Armen verwerflicher als der Sozialbetrug der Reichen?“ Juristen würden dem Sinne nach im Hinblick auf die armen Betrüger argumentieren, die „Gemeinschaft ist solidarisch mit dir – und das willst du frech ausnutzen und doppelt kassieren?“ Bei der Steuerhinterziehung hingegen: „Das sei ja selbst erwirtschaftetes Geld, halb so wild.“ (S. 164) Betteln, so man mit Alimentationen nicht über die Runden kommt, ist kein Ausweg. Auf Bettler*innen trifft man all überall. Sie stören, nicht nur die drogenabhängigen Bettler*innen. In Bezug auf diese Menschen und ihre Bettelei macht der Autor das „Comeback einer Kriminalisierung“ aus (S. 166), obwohl es in Deutschland „eigentlich nicht strafbar“ ist: „Trotzdem ist der Staat hier mit einer Akribie hinterher, als ginge es um schwere Kriminalität.“ (S. 170)
Dass der „Konsum (…) durch alle Schichten (geht), die Bestrafung nicht“ (s. p.), kehrt Steinke im Kapitel VIII. Drogen hervor. Es bleibt festzuhalten, dass es in Deutschland mehr Drogenabhängige gibt, „die in Gefängnissen sitzen, als Drogenabhängige, die sich in Therapieeinrichtungen befinden.“ (S. 181) Wenngleich sich seit Erscheinen des Buches von Steinke in Bezug auf Besitz und Konsum von Cannabis einiges in Richtung Liberalisierung zu bewegen scheint, wird die generelle Problematik um Drogen nicht ausgehebelt. Sie scheint ein Unterschichtenproblem zu sein, was trügt. Es ist „frappierender (…), dass diejenigen, die deswegen vor Gericht landen, vor allem der Unterschicht angehören. Der Staat sieht bei ihnen also offenbar deutlich genauer hin.“ (S. 187)
Steinke macht im abschließenden Kapitel 13 Vorschläge wie es besser gehen könnte, u.a. die Strafjustiz materiell und personell besser aufzustellen, weil ein ‚Kaputtsparen‘ „auf Kosten der Armen“ geschieht. Insbesondere an linke Politiker*innen adressiert er: „Wer in soziale Gerechtigkeit investieren will, der sollte nicht nur an Sozial- oder Bildungsetats denken, sondern auch an die Justiz.“ (S. 199) Dass Zahlungsunfähige nicht ins Gefängnis geschickte werden sollten, Drogenkonsument*innen entkriminalisiert werden sollten, man Bettler*innen in Ruhe lassen möge etc. versteht sich nach der Lektüre des Buches – erst einmal – von selbst.
Diskussion
Steinkes Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ setzt den Artikel 3 des Grundgesetzes auf den Prüfstand: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Doch vor das Gericht treten sie als Ungleiche, was den Sozialstatus und das Pekuniäre betrifft, womöglich auch die politische Orientierung. Bisweilen stoßen sich auch die Leitmedien daran, die ‚linke‘ Presse hat ein waches Auge. Soll dieser Artikel des Grundgesetzes mehr als ein Bollwerk gegen Willkür sein, dann reicht diese Gleichheit vor dem Gesetz nicht hin, so ist der Autor zu verstehen, wird gar in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit von sozialer Ungleichheit und weit auseinanderklaffenden Lebenschancen zwar nicht gerade ad absurdum geführt, aber eine daran geknüpfte Erwartungshaltung an vor allem Gerechtigkeit wird enttäuscht. Das dokumentiert der Autor an sehr vielen Einzelfällen, die durchaus verallgemeinerbar sind. Es ist brillanter Journalismus in aufklärender Absicht, nicht nur ‚publikumswirksame‘ Skandalisierung. Unter Einbeziehung des umfangreichen Anmerkungsapparates darf man auch public science in Anklang bringen. Dort ist auf Dokumente verwiesen und auch u.a. auf rechtssoziologische Debatten, mit denen der Autor offenkundig in hohem Maße vertraut ist.
„Das Geld ist heute, was früher das Recht des Stärkeren war.“ Dieser Satz ist nicht von Ronen Steinke, sondern von Vincent van Gogh (in einem Brief an seinen Bruder). Geld erhöht die Chancen, vor Gericht gut bis glimpflich wegzukommen. Gerecht ist das nicht, jedenfalls wird es weithin als ungerecht empfunden. Doch was gerecht ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Hans Kelsen, ein bedeutender, demokratisch gesinnter und ideologiekritischer Verfassungs- und Völkerrechtler des zwanzigsten Jahrhunderts, der als Rechtspositivist gilt, wollte dabei den Staat als Gesamtheit von rechtlichen Sollenssätzen begriffen wissen, wo er an Kant orientiert war. Er bekannte, „ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muss mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist.“ Es ist nicht ehrenrührig, wenn man Kelsen vorhält, dass jeder, dem nach seinem Empfinden Unrecht widerfährt, für sich formulieren kann, was er oder sie für gerecht hält – was auch stellvertretend möglich ist und ein oft zentral gegen Macht und Herrschaft umkämpftes Feld. Für Sozialphilosophen war und ist der Begriff der Gerechtigkeit ein schwerer Brocken. John Rawls hat einen Trittstein gelegt. Er formulierte den Gedanken an Gerechtigkeit um und neu zu „Gerechtigkeit als Fairneß“ (so der Titel seines Buches). Fairness müsse Bestandteil einer liberalen Globaleinstellung sein, sei somit als vernünftigste Form des politischen Liberalismus zu betrachten und zu verwirklichen. Damit reüssierte Rawls. Legt man die Elle von Steinkes dokumentierten Fällen und seine Argumentation an, dann ist es auch um diese Fairness recht schlecht bestellt. Hauptsächlich sind die sogenannten gesellschaftlichen Unterschichten betroffen, werden unfair behandelt. Wirkliche Gerechtigkeit, was immer das sei und was es in bürgerlich kapitalistischen Gesellschaften eben immer nur heruntergebrochen auf einigermaßen Fairness geben kann, wird ihnen nicht zuteil. Das werden nicht alle, aber viele Menschen so empfinden, die wie Kelsen nicht so genau wissen, was Gerechtigkeit ist, und dieses moralische Gut nur je subjektiv definieren (wobei es allerdings sehr breite intersubjektive Überlappungen gibt). Man hat sich mit einer relativen Gerechtigkeit zu begnügen, die als zumindest Fairness die gesellschaftliche Bühne tritt und damit auch im Gerichtssaal zu erwarten ist. Auch mit dieser relativen Gerechtigkeit hapert’s, vor allem gegenüber Unterschichtsangehörigen, wie man aus Steinkes Buch schlussfolgern kann.
‚Unterschicht‘ ist ein Begriff aus der Soziologie. Man geht fehl, wenn man ihn mit dem analytischen Begriff ‚Klasse‘ identifiziert. Der Klassen-Begriff wird vor allem unter marxistisch orientierten Wissenschaftler*innen im Hinblick auf seine heutige Erklärungsreichweite nach tradierter Definition diskutiert. Auch so gesehen ist es plausibel, dass sich Steinke vom Begriff „Klassenjustiz“ distanziert. Und wenn der Begriff ‚Klasse‘ nicht trennscharf ist (oder scheint), dann ist der Begriff „neue Klassenjustiz“ auch recht fragwürdig. Die vergangene semantische Aufladung mit allen historischen Konnotationen ist nicht mehr stimmig und die „ärmeren Milieus sind kein Monolith.“ (S. 15) So in etwa das Argument des Autors. Das scheint plausibel, solange man sich (nur) bei Schichtungs- und Milieutheorien vergewissert.
Jedoch kann man sich auf Spurensuche nach einem Fortleben jener vormaligen Klassenjustiz begeben, die moderater geworden ist oder sein kann dadurch, dass sie sich Zeit und Umständen angepasst hat. „Änderungen“, hielt 1871 Marx fest, „die von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit diktiert werden, bahnen sich früher oder später ihren Weg; wenn sie zu einem dringenden Bedürfnis der Gesellschaft geworden sind, müssen sie befriedigt werden, und die Gesetzgebung wird immer gezwungen sein, sich ihnen anzupassen.“ Das provoziert die Frage, ob solcherlei Anpassung nicht vornehmlich gesellschaftliche Integration bedeutet, ohne die systemischen Grenzsetzungen zu verletzen. Steinke selbst stößt diesen Gedanken an. Er zitiert einen Juristen, das „Grundgesetz“ gehe „von der bestehenden Wirtschaftsordnung aus, das wirtschaftliche Ungleichheit kennt.“ (S. 129) Darin sind weitere Ungleichheiten generiert. Jüngst wurde im „Chancenmonitor“ des Ifo-Instituts ein „frappierendes Ausmaß“ an Ungleichheit festgestellt: Kinder ärmerer Eltern haben deutlich schlechtere Bildungschancen. Das ist schon länger bekannt und Kinderarmut auch und nur eine der vielen Baustellen, wo Ungleichheit mit einem nebulösen Gerechtigkeitsempfinden kollidiert. Übrigens wandern die Sprösslinge reicherer Eltern in Privatunis ab, die derzeit boomen; der Nachwuchs armer Eltern hat – so ist es bei Steinke nachzulesen – eine höhere Wahrscheinlichkeit, in den Knast ‚abzuwandern‘.
Fragt sich also weiterhin, wie gesellschaftliche Integration und Ordnung durch Gesetz und Rechtsprechung besorgt wird und stabilisiert werden soll. Dazu noch einmal Marx, der 1857 an anderer Stelle vermerkte, wobei er die bürgerlichen Ökonomen ins Gebet nahm, ihnen schwebe vor, „daß sich mit der modernen Polizei besser produzieren lasse als z.B. im Faustrecht. Sie vergessen nur, daß auch das Faustrecht ein Recht ist, und daß das Recht des Stärkeren unter anderer Form auch in ihrem ‚Rechtsstaat‘ fortlebt.“ Dass van Gogh bei Marx abgepinnt hat, ist höchst unwahrscheinlich. Aber in alltäglichen Narrativen lebt jenes Recht des Stärkeren fort, der seine Stärke aus Geldmitteln bezieht. Unschwer wird man veranlasst, die kapitalistische Wirtschaftsordnung als Ursache zu inspizieren. Letztlich (un)dank derer ist es um die finanziell schlechter bis schlecht Gestellten der ‚Unterschichten‘ recht ungünstig bestellt, jener, die sich ersichtlich nicht als „Klasse für sich selbst“ (Marx) formieren noch dem Anschein nach eine „Klasse im Werden“ (Thompson) sind. Zusammenschluss und kollektive Gegenwehr der ‚Ausgebeuteten‘ aber war für Marx eine conditio sine qua non, um alle „Verhältnisse umzuwerfen, in denen“, wie er schon 1843/44 schrieb, „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Nur wie? Marx' Lieblingsdichter waren laut Paul Lafargue sowohl Aischylos als auch Shakespeare (übrigens auch Goethe und Dante) und für ihn war die Beschäftigung mit Literatur ein Erkenntnisinstrument. Ob er für die Form seines ‚Umwerfens‘ durch Shakespeare inspiriert worden ist, können wir nicht wissen. Da heißt es in „Romeo und Julia“: „Die Welt hat kein Gesetz, dich reich zu machen;/Drum sei nicht arm, brich das Gesetz und nimm!“ Das war um 1594 bis 1596. Gegen solche Botschaft wurden in und mit der bürgerlichen Gesellschaft Bollwerke aufgetürmt, nicht nur rechtliche – vor und nach Marx.
Aber es wurden nicht erst in jüngerer Vergangenheit auch Rechte erstritten, nicht nur, doch wesentlich durch gewerkschaftliche Kämpfe. Ob die darauf reagierende Gesetzgebung sich „anpasst“ (s.o.), ob sich darin Recht und Rechtsprechung in Richtung einer „relativen Gerechtigkeit“ (s.o.) und zugleich weniger Ungleichheit entwickelt haben, scheint so zu sein; wie weit und ob hinreichend, werden diejenigen befinden, die sich ungerecht behandelt und benachteiligt nicht nur fühlen, sondern es laut Steinke de facto sind. Es kommt vor, darauf verweist der Autor, dass bestehende Gesetze nicht zum Vorteil resp. zur Entlastung von Beklagten herangezogen werden. Es scheint kurios in der Nähe eines ‚lückenfüllenden Richterrechts‘ zu siedeln, jedenfalls für den juristischen Laien, wenn es oft weniger um ein Delikt geht „als um das, was einige Richter die ‚Lebensführungsschuld‘“ von jemandem nennen. (S. 51) Dieses Richterrecht dient der Konkretisierung bestehender Gesetze im Einzelfall, ohne an deren Stelle zu treten.
Bleibt abschließend die Frage, ob sich etwas derart geändert hat, dass wir uns langsam und unsicher in Richtung Gerechtigkeit und Gleichheit nicht nur vor dem Gesetz bewegen. Da geben die Sätze von Hermann Klenner aus seinem Buch „Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit“ Anlass zum Zweifel: „Solange die gesellschaftlichen Ursachen für die Existenz von Recht und Unrecht bestehen bleiben, bleiben auch die Ursachen dafür bestehen, dass es zwar herrschende und davon abweichende, aber keine für jedermann anerkennungsfähigen Auffassungen darüber gibt, worin denn eigentlich ‚Gerechtigkeit‘ bestehe. Die Gerechtigkeit mitsamt ihrem Gegenteil ist nämlich wie das Recht und dessen Gegenteil durch den Selbstwiderspruch der Gesellschaft bedingt; deren Ausdrucksweise liegt nicht in der Eintracht sondern in der Zwietracht, im Streit.“ Doch in seinem Aufsatz „Karl Marx und die Frage nach der gerechten Gesellschaft“ erläutert Klenner weiter, die „existentiellen Fragen der Menschheit“ dürften „nicht einfach ins Gewissen des einzelnen Menschen abgeschoben werden“, und als „unabdingbar“ sah er einen die „Selbstbestimmung des Individuums garantierende(n), die Machtausübung in der Gesellschaft legitimierende(n) Rechtsmechanismus“ an. Und weiter: „Wie zum Menschsein des Einzelnen seine geistig-moralische Kontrollinstanz, sei es Glauben oder sei es Vernunft, jedenfalls sein Gewissen gehört, so gehört zum Menschlichsein oder -werden der Gesellschaft eine Legitimierungsinstanz für das gewesene und kommende Verhalten der Machthaber.“ – An dieser Stellschraube dreht Steinke engagiert.
Steinke geht mit der Justiz hart zu Gericht – und auch mit sozialen Verhältnissen – und legt den Finger in viele Wunden, die es dringend zu schließen gilt. Er unterschlägt allerdings nicht, dass die Justiz unter Personalmangel leidet, unter zu viel bürokratischem Aufwand, auch unter Zeitmangel zur Einholung von Hintergründen, die für die Rechtsprechung eigentlich gebraucht würden. Auch das wird in seinen Vorschlägen, „wie es besser gehen könnte“, sehr deutlich.
Fazit
Der Autor optiert auf Reformen, weitreichende. Dieser Weg wird steinig sein. Die Lektüre seines Buches wird bei vielen Leser*innen, die zu wünschen sind, Empörung schaffen. Wer dann nicht nur die Fäuste im Ohnmachtsloch seiner Hosentasche ballen will, wird etwas tun wollen. Doch was und wie und mit welchem letztgültigen Ziel? Das wird diskutiert werden müssen und dann ggf. über Steinkes „Vorschläge“ hinaus.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Es gibt 121 Rezensionen von Arnold Schmieder.
Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 17.05.2023 zu:
Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Piper Verlag GmbH
(München) 2022. 2. Auflage.
ISBN 978-3-8270-1415-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29215.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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