Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Vergaberecht in der Praxis Sozialer Arbeit
Rezensiert von Dr. Sebastian Conrad, 16.09.2022

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Vergaberecht in der Praxis Sozialer Arbeit.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2022.
80 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3490-1.
D: 16,00 EUR,
A: 16,50 EUR.
Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Jg.53, Heft 1/2022.
Thema
Als Querschnittsmaterie kommt dem Vergaberecht ähnlich wie dem Beihilferecht die Eigenschaft zu, ganz unterschiedliche Bereiche staatlichen Handelns zu beeinflussen. Selten ist dies frei von Friktionen. Das Zusammentreffen von Vergaberecht und Sozialrecht bildet hiervon keine Ausnahme. Dass das Einkaufsverhalten des Sozialstaats am Maßstab des Vergaberechts zu messen sein kann, ist sicherlich keine ganz neue Erkenntnis. Dennoch sind die Berührungspunkte beider Welten auch heute noch nicht vollständig ausgeleuchtet. Der hier zu besprechende Band widmet sich diesem Thema und erörtert in sechs Beiträgen Fragen, die sich aus der Anwendung des Vergaberechts in der Praxis der sozialen Arbeit ergeben. Der thematische Bogen wird von allgemeinen Fragen der Anwendbarkeit des Vergaberechts über konkrete Konfliktpunkte zwischen Vergaberecht und sozialen Dienstleistungen bis hin zu Aspekten der nachhaltigen Beschaffung sozialer Dienstleistungen, alternativen Gestaltungsformen für die Beschaffung sozialer Dienstleistungen und nicht zuletzt Rechtswegfragen gespannt.
Autorinnen und Autoren
Die Verfasser der Beiträge stammen überwiegend aus den Wohlfahrtsverbänden, daneben aus der Anwaltschaft sowie der öffentlichen Verwaltung und der Justiz.
Entstehungshintergrund
Das Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit wird als Vierteljahresheft im Auftrag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. herausgegeben. Der hier zu besprechende Band ist als Heft 1 des Jahrgangs 2022 erschienen.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Beitrag des Bandes erläutert Albrecht Philipp „Ziele, Vorgaben für die Anwendbarkeit und tatsächliche Bedeutung“ des Vergaberechts in der sozialen Arbeit. Der Beitrag bietet einen Überblick über die je nach Bereich unterschiedlich ausgeprägte Bedeutung des Vergaberechts für die Beschaffung sozialer Leistungen. Philipp erläutert in Grundzügen die Voraussetzungen für die Anwendung des Vergaberechts und stellt dar, in welchen für soziale Dienstleistungen relevanten Konstellationen vergaberechtliche Vorschriften keine Anwendung finden. Open-house-Vergaben, In-house-Beauftragungen und die gesetzliche Bereichsausnahme für den Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) sind wichtige Bereiche, in denen jedenfalls die Bestimmungen des GWB-Vergaberechts keine Geltung beanspruchen. Auch die grundsätzliche Vergaberechtsfreiheit von Zuwendungen zeigt Philipp unter Hinweis auf die wegweisende Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 11. Juli 2018 (VII-Verg 1/18) auf. Einzelne konkrete Bereiche sozialer Dienstleistungen ordnet er schließlich vergaberechtlich ein. Für die Zukunft wagt Philipp die Prognose, dass insbesondere der Fachkräftemangel den Wettbewerb im Bereich der sozialen Dienstleistungen einschränken werde und dass deshalb das Vergaberecht bereits faktisch an seine Grenzen gelangen werde.
Ihren sich daran anschließenden Beitrag widmen Christian Bernzen und Cornel Hüsch dem „Sozialvergaberecht in der kommunalen Praxis“. Nach einer einführenden Darstellung der Grundlagen sozialrechtlicher Leistungsbeziehungen stellen sie ebenfalls Grundzüge der normativen Struktur des Vergaberechts und seiner Anwendungsvoraussetzungen vor. Einen gewissen Schwerpunkt legen sie dabei auf den Begriff des öffentlichen Auftraggebers i.S.v. § 99 GWB. Zutreffend betonen sie, dass allein polizeirechtlich motivierte Befugnisse der Aufsichtsbehörden regelmäßig nicht ausreichen, um einen ansonsten staatsfernen privaten Träger sozialer Aufgaben als öffentlichen Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 2 GWB zu qualifizieren. Dass diese Grenze im Einzelfall nicht immer eindeutig gezogen werden kann, belegt etwa der von den Verfassern herangezogene Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 4. September 2017 (Z3-3-3194-1-31-06/17). Am Beispiel der Vereinbarungen über Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 123 SGB IX erläutern die Verfasser weitere Abgrenzungsschwierigkeiten.
Mit ihrem Beitrag über die „Auswirkungen des Vergaberechts auf die Erbringung sozialer Leistungen“ übt Anuschka Novakovic fundamentale Kritik an der Anwendung vergaberechtlicher Vorschriften auf die Beschaffung sozialer Dienstleistungen. Die Auftragsvergabe nach vergaberechtlichen Regeln hat im sozialen Bereich nach ihrer Auffassung (ausschließlich) „negative […] Folgen“ (S. 37), und dem Vergaberecht schreibt sie insgesamt sogar die Eignung zu, die gewachsenen Strukturen der Anbieter sozialer Leistungen zu „zerstören“ (S. 28). Zur Begründung dieser Thesen führt Novakovic mehrere Forderungen des Vergaberechts an, die mit den Erfolgsfaktoren sozialer Arbeit, die sie im Wesentlichen in der Beibehaltung gewachsener, regionaler und auf Eigeninitiative beruhender privater Strukturen sieht, unvereinbar seien. Hierzu zählen nach ihrer Auffassung u.a. die Ausrichtung des Vergaberechts auf einen regelmäßigen Auftragnehmerwechsel, die Rigidität vergaberechtlicher Verfahren, die vergaberechtlichen Grenzen für die Vorgabe von Tariflöhnen durch öffentliche Auftraggeber und nicht zuletzt die Ausrichtung des Vergaberechts auf einen Wettbewerb um das wirtschaftlichste Angebot. Viele dieser Argumente fordern Widerspruch heraus. So tut Novakovic dem Vergaberecht bitteres Unrecht an, wenn sie etwa die von ihr zentral hervorgehobene Ausrichtung vergaberechtlicher Verfahren auf den Wettbewerb mit einer Preisorientierung gleichsetzt (S. 31 f., 37). Tatsächlich definiert das Vergaberecht die Wirtschaftlichkeit eines Angebots unmissverständlich anhand seines Preis-Leistungs-Verhältnisses (§ 127 Abs. 1 Satz 3 GWB), und es liegt allein in der Hand des öffentlichen Auftraggebers, den damit gezogenen Rahmen unter Berücksichtigung qualitativer und somit auch langfristiger und gesamtwirtschaftlicher Gesichtspunkte näher auszufüllen. Selbst die Möglichkeit eines reinen Wettbewerbs um die beste Qualität gibt das Vergaberecht den Auftraggebern ausdrücklich an die Hand (§ 58 Abs. 2 Satz 3 VgV). Dass ein schlichter Preiswettbewerb umgekehrt sogar vergaberechtswidrig ist, wenn dadurch die unterschiedliche Qualität der Angebote nicht hinreichend abgebildet wird, ist bereits judiziert worden (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11. Dezember 2013, VII-Verg 22/13 m.w.N.). Es sind zudem gerade soziale Dienstleistungen, bei denen eine Angebotswertung allein nach dem Preis häufig wesentliche Wirtschaftlichkeitsfaktoren ausblendet und damit unzulässig ist (Rixen, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, Band 1, 4. Aufl., § 130 GWB Rn. 36). Richtig ist allerdings, dass die Veranstaltung eines fundierten Qualitätswettbewerbs mit Aufwand verbunden ist, insbesondere dann, wenn der öffentliche Auftraggeber durch sachgerechte Eignungs- und Zuschlagskriterien, Kalkulationsvorgaben und eine durchdachte Leistungsbeschreibung den von Novakovic beschriebenen Nachteilen eines preisorientierten Wettbewerbs entgegenwirken will. Dass öffentliche Auftraggeber diesen Aufwand mitunter scheuen und Vergabeverfahren deshalb nur mittelmäßige Ergebnisse hervorbringen, ist freilich keine Besonderheit der Beschaffung sozialer Dienstleistungen, sondern ein vielerorts zu beobachtendes Phänomen.
Monika Paulat stellt die „Erfahrungen mit Vergabeverfahren aus Sicht der Sozialgerichtsbarkeit“ vor. Ihr Beitrag weckt Erinnerungen an die Frühzeit der Vergabe von Arzneimittelrabattverträgen (§ 130a Abs. 8 SGB V), als eine von den AOKs beim örtlichen Sozialgericht erhobene Anfechtungsklage gegen den Beschluss einer Vergabekammer die vergaberechtliche Welt erschütterte und sich am Ende Bundessozialgericht (Beschl. v. 22. April 2008, B1 SF 1/08 R) und Bundesgerichtshof (Beschl. v. 15. Juli 2008, X ZB 17/08) in der Frage der Zuständigkeit für die Vergabenachprüfung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung unversöhnlich gegenüberstanden. Nach einem zweifachen Eingreifen des Gesetzgebers spielt dieser Konflikt heute keine Rolle mehr, auch wenn, wie Paulat zutreffend beklagt, die Motivation für die umfassende Zuweisung des gerichtlichen Vergaberechtsschutzes zu den Oberlandesgerichten als Beschwerdeinstanz bis heute nicht vollständig erhellt ist (S. 41 f.). Anhand jüngerer Gerichtsentscheidungen zeigt Paulat sodann anschaulich auf, dass mit dieser gesetzlichen Zuweisung keineswegs alle Fragen der Rechtswegeabgrenzung im Bereich des Sozialvergaberechts beantwortet wurden. Namentlich die Zuständigkeit für die Beurteilung der Zweckmäßigkeit von Hilfsmittelversorgungsverträgen nach § 127 Abs. 1 SGB V a.F. wurde in der Folgezeit ähnlich kontrovers beurteilt, wobei Sozialgerichte und Zivilgerichte hier anders als noch bei den Arzneimittelrabattverträgen allerdings dazu neigten, die Zuständigkeit bei der jeweils anderen Gerichtsbarkeit zu sehen. Mit der Abschaffung von Hilfsmittelausschreibungen durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz hat sich auch diese Frage inzwischen erledigt. In verändertem Gewande lebt sie indessen beim Streit um Open-house-Vergaben fort, wie Paulat abschließend beschreibt. Die von Paulat befürwortete Entscheidung der Zuständigkeitsfrage danach, ob das Ob oder das Wie einer Vergabe betroffen ist (S. 44), kann auch in diesem Kontext als sinnvolle Richtschnur herangezogen werden.
Die „[n]achhaltige Beschaffung sozialer Dienstleistungen“ erläutern Friederike Mussgnug und Ralf Grosse. Hierzu zeigen sie zunächst im Überblick das vergaberechtliche Sonderregime für die Vergabe sozialer und anderer besonderer Dienstleistungen gemäß § 130 GWB auf. Sie erörtern sodann vergaberechtliche Möglichkeiten für eine „sozial verantwortliche Beschaffung“ (S. 53), also insbesondere die Berücksichtigung sozialer und umweltbezogener Aspekte (§ 97 Abs. 3 GWB) im Vergabeverfahren. Klar strukturiert verorten sie diese Gesichtspunkte an unterschiedlichen Stellen im Vergabeverfahren, etwa der Definition der Eignungsanforderungen, der Zuschlagskriterien oder des Beschaffungsgegenstandes. Anhand von Beispielen erläutern die Autoren die praktische Umsetzung der nachhaltigen Vergabe und leiten daraus Erfolgsfaktoren ebenso wie Herausforderungen für die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten im Vergabeverfahren ab. Zu Recht betonen sie dabei etwa, dass eine Fokussierung auf den Preis nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit, sondern schon unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Beschaffung häufig verfehlt ist.
Anna Droste-Franke, Claudia Momm und Paula Wenning schließlich stellen einen „Instrumentenkasten für die Finanzierung sozialer Dienstleistungen“ vor. Darunter verstehen sie die verschiedenen Mittel, mit denen die öffentliche Hand ihren Beschaffungsbedarf im sozialen Bereich decken kann. Ausgehend von der sozialrechtlichen Gewährleistungspflicht (§ 17 SGB I) zeigen sie insbesondere auf, in welchen Fällen das sozialrechtliche Sachleistungsprinzip oder spezialgesetzliche Regelungen (z.B. gemäß § 45 Abs. 3 i.V. m. Abs. 1 SGB III) der Anwendung des Vergaberechts entgegenstehen oder aber diese verpflichtend vorgeben. Die nicht solchermaßen determinierten Bereiche kann die öffentliche Hand nach eigenem Ermessen beispielsweise durch Beschaffung in wettbewerblichen Vergabeverfahren, durch Abschluss marktoffener Leistungsverträge oder aber durch Finanzierung über Zuwendungen ausgestalten. Wie die Verfasserinnen darlegen, ist diese Beschaffungsfreiheit der öffentlichen Hand vergaberechtlich nicht vorgeprägt, wohl aber unter Beachtung sozialrechtlicher Grundsätze auszufüllen. Entscheiden sich öffentliche Auftraggeber für die Beschaffung von Dienstleistungen im Wettbewerb, räumt ihnen das Vergaberecht beim Einkauf sozialer und anderer besonderer Dienstleistungen weitreichende Freiheiten bei der Wahl der Verfahrensart ein (§ 130 Abs. 1 GWB), die öffentliche Aufraggeber ansonsten üblicherweise nicht haben.
Diskussion
Insgesamt bieten die Beiträge vielfältige Einblicke in die Herausforderungen, zu denen die Anwendung des Vergaberechts in der Praxis sozialer Arbeit mitunter führt. Zentrale Fragen etwa zur Anwendung des Vergaberechts werden benannt und so ins Bewusstsein auch derjenigen gerückt, die sich nicht ohnehin schon fortlaufend mit vergaberechtlichen Themen befassen. Die Beiträge liefern eine gute Grundlage, um diese Punkte anhand der jeweils einschlägigen rechtlichen Vorgaben inhaltlich zu vertiefen und dadurch für die konkrete Umsetzung nutzbar zu machen. Die ablehnende Grundhaltung einzelner Beiträge gegenüber der Anwendung des Vergaberechts freilich ruft geradezu danach, auch gegenteilige Argumente ins Blickfeld zu rücken. So mögen beispielsweise die immensen Einsparungen, die die Anwendung des Vergaberechts bei Beschaffungen der Krankenkassen bewirken konnte, sicherlich auch auf die Besonderheiten der Marktverhältnisse im Gesundheitswesen zurückzuführen sein. Dennoch zeigen sie, dass die Einführung wettbewerblicher Beschaffungsstrukturen im Sozialbereich erhebliche Entlastungen für das Gemeinwesen bewirken kann und dass auch dieser Aspekt zu berücksichtigen ist, wenn man sich mit der Frage befasst, wie der Sozialstaat seinen Beschaffungsbedarf decken soll – von dem Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit durch vergaberechtlich strukturierte und umfassend nachprüfbare Beschaffungen ganz zu schweigen.
Fazit
Der Band beleuchtet verschiedene Berührungspunkte zwischen dem Vergaberecht und der Beschaffung sozialer Dienstleistungen vorwiegend aus dem Blickwinkel der sozialen Praxis. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen auf Fragen der Anwendung des Vergaberechts, seiner Abgrenzung zu anderen Formen öffentlicher Beschaffung im Sozialbereich und auf bestimmten Einzelthemen wie der Berücksichtigung sozialer und umweltbezogener Aspekte im Vergabeverfahren und der Abgrenzung der Rechtswege. Die Beiträge bieten damit einen guten Überblick über Grundfragen des Vergaberechts im sozialen Bereich, über mögliche Auswirkungen vergaberechtlicher Beschaffungen auf die Erbringung sozialer Leistungen und über Handlungsoptionen der zuständigen Stellen.
Rezension von
Dr. Sebastian Conrad
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Berlin
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