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Dorothee Schäfer, Michael Behnisch (Hrsg.): Professionelle Nähe in der Heimerziehung

Rezensiert von Dr. Remi Stork, 12.04.2022

Cover Dorothee Schäfer, Michael Behnisch (Hrsg.): Professionelle Nähe in der Heimerziehung ISBN 978-3-947704-26-2

Dorothee Schäfer, Michael Behnisch (Hrsg.): Professionelle Nähe in der Heimerziehung. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (Frankfurt am Main) 2022. 192 Seiten. ISBN 978-3-947704-26-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.
Reihe: Praxis und Forschung - Band 38.

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Thema

Beziehungsarbeit ist der fachliche Kern einer lebensweltorientierten, auf Aneignung setzenden und partizipativen pädagogischen Arbeit in Wohngruppen der stationären Jugendhilfe. Die Autorinnen und Autoren des Bandes sehen die besondere Qualität von Beziehungsarbeit in der Gestaltung professioneller, d.h. reflektierter Nähe.

Herausgeberin und Herausgeber

Michael Behnisch ist Professor für Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit an der Frankfurt University, Hochschule für angewandte Wissenschaften. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu den Hilfen zur Erziehung und insbesondere zum Thema Heimerziehung.

Dorothee Schäfer war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University, Hochschule für angewandte Wissenschaften und ist jetzt wissenschaftliche Referentin bei der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH).

Entstehungshintergrund

Das Buch entstand im Rahmen des Forschungsprojektes PISUM (Pädagogische Intimität – Studie zur Untersuchung von Mustern der Gestaltung pädagogischer Beziehungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern). In dem Projekt sollte untersucht werden, inwiefern professionelle Nähe weniger Gefährdung als vielmehr Schutzfaktor gegen sexualisierte Gewalt darstellen kann. Die Forschenden führten hierzu Interviews mit Jugendlichen und Fachkräften, Gruppendiskussionen und Beobachtungen in sechs Wohngruppen unterschiedlicher Träger durch und werteten diese in Anlehnung an die Grounded Theory aus.

Aufbau

Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden die Forschungsergebnisse dargestellt. Im zweiten Teil werden diese Analysen in vier Fachaufsätzen von bekannten Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fragestellungen heraus diskutiert, bevor im dritten Teil wiederum die beiden Herausgebenden auf die vier Texte „antworten“, indem sie Leitlinien professioneller Nähe entwickeln und begründen.

 Inhalt

Im ersten Teil des Bandes werden auf der Basis des erhobenen Materials fünf Dimensionen professioneller Nähe herausgearbeitet: die Raumgestaltung, der Umgang mit Körperlichkeit in Begegnungen, der Zusammenhang von Sprache, Beziehungen und Nähe, die Bedeutung der „Dinge“ (nicht ganz trennscharf in Bezug zur Raumgestaltung) und die Möglichkeiten zeitlicher Strukturierungen und Gestaltungsprozesse.

In diesen fünf Dimensionen werden jeweils drei Fragen anhand von empirischem Material diskutiert:

  1. Wie werden Formen guter, professioneller Nähe in pädagogischen Beziehungen hergestellt?
  2. Unter welchen Bedingungen entwickeln sich schützende und fördernde Nähebeziehungen in den Wohngruppen?
  3. Wo lassen sich Gefahrenmomente für Grenzüberschreitungen identifizieren?

Offenkundig zielt das Buch stark auf das Positive. Die Schilderungen und Zitate fokussieren insbesondere eine erfolgreiche Praxis der stationären Jugendhilfe. Die aufscheinende Praxis lässt sich beinahe durchgängig als kompetent umgesetzte, lebenswelt- und situationsorientierte pädagogische Arbeit begreifen. Kritische Einwände der Jugendlichen werden ebenfalls aufgegriffen und reflexiv bearbeitet; stehen aber nicht so stark im Vordergrund, wie Anlass und Ausgangspunkt des Buches vermuten lassen.

Die Analysen der Autorinnen und des Autors im ersten Teil des Buches sind stets nachvollziehbar, bleiben zunächst nah am Beobachteten und beziehen sich dann auf die zentralen Fachdiskurse, die sich mit den Herausforderungen in der Balancierung von Nähe und Distanz beschäftigen.

Im zweiten Teil des Buches ordnen die nicht an der Studie beteiligten externen Wissenschaftler*innen das Material und die Bewertungen der Forschenden unterschiedlichen fachlichen Diskursen zu. So beginnen Liane Pluto und Mike Seckinger damit, den Zusammenhang zwischen einem professionellen Umgang mit Nähe und dem Vorhandensein einer Kultur der Partizipation zu erklären. Sehr gut nachvollziehbar kommen sie zu dem Schluss, dass vertrauensvolle, transparente und zugleich individuelle Beziehungen die Basis für gelingende Partizipation darstellen. Zugleich aber braucht die demokratische Aushandlung in und mit den Gruppen auch die Möglichkeit aller Akteure zu Distanz und Distanzierung und insofern stellt sich die Wohngruppe bereits hier als hybride Form zwischen alltagsweltlichem Handeln und institutioneller Rahmung, bzw. zwischen Privatheit und Öffentlichkeit dar. Die Wohngruppe als Institution mit ihren transparenten und fair ausgehandelten Spielregeln braucht und bietet Nähe und Distanz, um sich einerseits vertrauensvoll verständigen und andererseits rationale Entscheidungen in Sachfragen treffen zu können, die nicht einseitig von Emotionen und Beziehungen abhängig sind.

Aus der Perspektive der erfahrenen Weiterbildnerin und Supervisorin (?) diskutiert Ulrike Schmauch die Ergebnisse der Studie unter Hinzuziehung eigenen Materials in Bezug auf die professionelle Rolle der Pädagog*innen in der Heimerziehung. Während die abgedruckten Beiträge zur PISUM-Studie sich insbesondere auf die Erfahrungen und Perspektiven der Kinder und Jugendlichen konzentrieren, werden hier ergänzend bedeutsame Probleme mit zu viel Nähe aus der Sicht der Fachkräfte vorgestellt und bearbeitet, z.B. Wünsche nach Massagen und Zärtlichkeiten, fehllaufende Beziehungswünsche (z.B. Verliebtsein in die Fachkräfte), Wünsche nach lebenslangem Kontakt uvm. Ulrike Schmauch zeigt auf, wie man in Teams mit diesen Konflikten umgehen kann, ohne den Schluss zu ziehen, dass man stärker auf Distanz setzen sollte, um solchen Prozessen von Übertragung und Gegenübertragung möglicherweise zu entgehen.

Claudia Equit stellt in ihrem Beitrag eine Verbindung zwischen der Bedeutung von professioneller Nähe und den Möglichkeiten der Bildungsförderung her. Dabei greift sie auf eine eigene Studie mit 25 beteiligten Einrichtungen der Heimerziehung zurück, bei der sie sich insbesondere auf ein Drittel der Einrichtungen bezieht, die sie dem „partizipativen Typus“ zuordnet. Sie hat festgestellt, dass Einrichtungen, die stark auf Anerkennung, Wertschätzung von Subjektivität und Partizipation setzen auch besondere Chancen in der Bildungsförderung bereitstellen können, wenn Bildung sehr offen als Aneignung begriffen wird.

Im vierten Beitrag stellen Bianca Nagel und Barbara Kavemann die Ergebnisse ihrer eigenen Studie „Auf-Wirkung“ vor, in der sie 25 Anhörungen von Betroffenen auswerten, die in den 1950er und 1960er Jahren in Heimen sexualisierte Gewalt erlebt haben. Sie fordern für die moderne Heimerziehung die Entwicklung gemeinschaftlicher und kontinuierlicher Reflexionskulturen, damit die auch heute weiterhin bestehenden Gefährdungen frühzeitig erkannt und abgewendet werden können. Der Beitrag bezieht sich leider nicht auf die Ergebnisse und Vorschläge der PISUM-Studie.

Im dritten Teil des Buches entwickeln Michael Behnisch und Dorothee Schäfer auf der Basis ihrer Studie und den Anregungen der vier Aufsätze im zweiten Teil des Buches „Leitlinien professioneller Nähe“ für die Gestaltung pädagogischer Beziehungen in der stationären Jugendhilfe. Diese Leitlinien – die sie im Folgenden erläutern – lauten:

  • Beteiligung und Selbstbestimmung
  • Thematisierungsfähigkeit und Transparenz
  • Prinzipielle Generalisierbarkeit
  • Subjektorientierung
  • (Selbst-)Bildung und Aneignung
  • Machtsensibles Handeln
  • „Begriffenes Tun“ zwischen Nähe und Abstinenz der beruflichen Rolle
  • Gestaltung des „Hybriden Ortes Heimerziehung“ in der Gleichzeitigkeit von Institution und Lebenswelt

In ihrem Fazit fassen die beiden Autor*innen ihre Gedanken noch einmal zusammen und betonen nochmals die Besonderheit und Individualität intersubjektiver Nähepraktiken bei permanenter Reflexion der Risiken und Gefahren. Sie enden mit der Forderung, dass moderne Heimerziehung angemessene, d.h. zugleich klare wie auch individuell gestaltbare Handlungsleitlinien benötigt, damit Nähe zum Schutz und nicht zur Gefahr für die Kinder, Jugendlichen und Fachkräfte wird.

Diskussion

Das Buch von Dorothee Schäfer und Michael Behnisch kommt zur rechten Zeit. Angesichts der aktuellen Herausforderungen, Schutzkonzepte für die Jugendhilfe zu erarbeiten, macht die PISUM-Studie deutlich, dass Nähe im Alltag der Heimerziehung dringend notwendig und entwicklungsfördernd ist. Wenn Nähepraktiken gut gemacht sind und reflexiv immer wieder betrachtet werden, können sie darüber hinaus als Schutz der Kinder und Jugendlichen verstanden werden, weil sie Vertrauen und Kommunikation ermöglichen. Damit ist klar, dass Schutz nicht durch Distanz und „no touch – Praktiken“ allein entstehen kann sondern die Bewältigung der Schutzherausforderung eine humane und gute Praxis in hybriden, d.h. lebensweltorientierten Organisationen erfordert.

In den ersten Kapiteln zeigen die Autor*innen anhand konkreter Beispiele auf, wie gute Nähe in der Heimerziehung aussieht und wie sie gelingen kann. Die PISUM-Studie liefert hierfür hervorragendes, wenngleich nicht spektakuläres Material. Das innere Raunen des/der Lesenden entsteht eher dadurch, dass das Material einfach und klar präsentiert wird. Es zeigt – was man oft wenig vermutet – die Möglichkeiten guter und gelingender Heimerziehung. Diese ist, wen wundert es, alltags- und lebensweltorientiert, bereit zu individueller und zugleich transparenter Kommunikation und fußt auf Begegnungen, Beziehungen und Partizipation. Wenn man am ersten Teil des Buches Kritik äußern möchte, dann vielleicht dies, dass kritische Beispiele nur am Rande auftauchen. Dass laute und zuweilen ruppige Sprache, die von Jugendlichen beklagt wird, dann etwas vorschnell als verbale Gewalt und Ausübung von Macht bezeichnet wird, ist nicht ganz überzeugend.

Insofern habe ich in der Studie das Stichwort Konflikte sehr vermisst. In Wohngruppen der Jugendhilfe besteht der Alltag – zumal, wenn er Nähe zulässt – aus Konflikten, die sowohl Ärgernis als auch Entwicklungsmotor sein können. Ich wunderte mich beim Lesen, warum dieses Thema nicht vorkam, da ich davon ausgehe, dass es zentral ist.

Die kommentierenden Beiträge des zweiten Teils bringen noch einmal Leben in das Material der Studie. Auch wenn der Text von Nagel und Kavemann nicht wirklich auf die Studie eingeht, wird man als Leser*in doch durch alle vier Texte angeregt, das Material tiefergehend zu verstehen und den Herausgebenden gebührt ein Lob für diese didaktische Idee, die eigene Studie durch Kommentare von außen aufzuwerten und auf dieser Basis eigene Schlussfolgerungen anzustellen.

Fazit

Das Buch „Professionelle Nähe in der Heimerziehung“ beschäftigt sich mit dem Kern der sozialpädagogischen Arbeit in der stationären Jugendhilfe. Es geht der Frage nach, wie Beziehungen in Institutionen gelingen können, die zugleich Allltags- und Lebensorte für Kinder und Jugendliche darstellen. Dabei ist das Vorgehen der Autor*innen bewundernswert einfach und kreativ zugleich. Die PISUM-Studie förderte ausreichend gutes Material zutage – man kann den beteiligten Wohngruppen für ihre gute Praxis nur danken – das dann gut sortiert und vorsichtig ausgewertet wurde. Entstanden ist ein sehr gutes – und für heutige Verhältnisse sehr preiswertes – 192seitiges Buch, dass die Alltagspraxis der Beziehungsarbeit beschreibt und multiperspektivisch kommentiert, ohne dass auch nur einmal auf die „Störungen“ der jungen Menschen oder die bereits andernorts in ausreichender Weise dargestellten Annahmen der Bindungstheorie Bezug genommen wird.

Rezension von
Dr. Remi Stork
Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt „Hilfen zur Erziehung“ an der FH Münster.
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Es gibt 27 Rezensionen von Remi Stork.

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Zitiervorschlag
Remi Stork. Rezension vom 12.04.2022 zu: Dorothee Schäfer, Michael Behnisch (Hrsg.): Professionelle Nähe in der Heimerziehung. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (Frankfurt am Main) 2022. ISBN 978-3-947704-26-2. Reihe: Praxis und Forschung - Band 38. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29226.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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