Maria Bühner, Rebekka Rinner (Hrsg.): Sexualitäten sammeln
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 10.03.2022
Maria Bühner, Rebekka Rinner (Hrsg.): Sexualitäten sammeln. Ansprüche und Widersprüche im Museum.
Böhlau Verlag
(Wien Köln Weimar) 2021.
200 Seiten.
ISBN 978-3-412-52347-3.
D: 30,00 EUR,
A: 31,00 EUR.
Reihe: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum: Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden - Band 15.
Thema
„Sexualitäten sammeln“ setzt sich mit der Relevanz des Museums in Bezug auf das Themenfeld Sexualität auseinander. Dabei werden insbesondere Aktualisierungen diskutiert, die mit der stärkeren gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und queeren Personen (LSBTIQ*) verbunden sind.
Herausgeberinnen
Der Band entstand im Zusammenhang mit der Neukonzeption des Themenraums „Sexualitäten“ der Dauerausstellung „Abenteuer Mensch“ des Deutschen Hygiene-Museums Dresden sowie dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten sammlungsbezogenen Forschungsprojekt „Dinge und Sexualität: Produktion und Konsumtion im 20. und 21. Jahrhundert“. Er ist der 15. Band in der Reihe „Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden“ und wurde herausgegeben von:
Maria Bühner, Kulturwissenschaftlerin, Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, forscht zur Subjektivierung weiblicher* Homosexualitäten in der DDR; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Dinge und Sexualität“ am Deutschen Hygiene-Museum Dresden.
Rebekka Rinner, studierte Kulturarbeiterin mit inhaltlichen Schwerpunkten auf Teilhabe und Diversifizierung; wissenschaftliche Projektassistenz im Forschungsprojekt „Dinge und Sexualität“ am Deutschen Hygiene-Museum Dresden.
Teresa Tammer, Historikerin und Philosophin, promovierte zu den Verflechtungen schwuler Bewegungen im geteilten Deutschland der 1970er und 1980er Jahre; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Dinge und Sexualität“ am Deutschen Hygiene-Museum Dresden.
Katja Töpfer, Museologin und Kunsthistorikerin, setzt sich insbesondere mit kritischer Sammlungsarbeit auseinander; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Dinge und Sexualität“ am Deutschen Hygiene-Museum Dresden.
Aufbau und Inhalt
„Sexualitäten sammeln“ ist ein Sammelband. An ein Vorwort und eine Einleitung schließen sich die drei Kapitel „Sexualitäten neu sichten und sammeln“, „(Sich) Sexualitäten erschließen“ und „Sexualitäten vermitteln und begreifen“ an, die jeweils zwei bis vier Aufsätze beinhalten. Den Band beschließt ein Autor*innenverzeichnis.
Inhaltsbeschreibung
Der vorliegende Band ist sehr praxisnah orientiert. So startet er – nach Vorwort und Einleitung, die seinen Entstehungszusammenhang umreißen –, im ersten Kapitel „Sexualitäten neu sichten und sammeln“ mit zwei Beiträgen zu Sammlungen, die aus LSBTI*-Perspektive Aktualisierungen erfahren haben bzw. entstanden sind. Sophie Gerber eröffnet Einblicke in die Sammlungen des Technischen Museums Wien. Sie stellt entlang des Onlinekatalogs konkrete Ausstellungsobjekte vor und wie sie mit dem Themenfeld Sexualität verbunden sind. Deutlich wird, wie Sammeln und Sichten einer technischen Sammlung funktioniert und gesellschaftlich eingebunden sind. Im sich anschließenden Aufsatz skizziert Pia Singer Hintergrund und Bedeutung des Sammlungsprojekts „München sucht seine LGBTI*-Geschichte“ und welche Relevanz das Sammeln, Bewahren und Sichtbarmachen von Objekten aus gesellschaftlich marginalisierten queeren Kulturen für die Anerkennung dieser Personengruppen hat. Beide Beiträge zeigen: „Archive und Sammlungen sind keine neutralen Depots, und Objekte und Unterlagen werden nicht zufällig dort aufbewahrt. Der Entscheidung, sie dauerhaft zu erhalten, gehen Relevanzsetzungen voraus, die eingelagert sind in hegemoniale gesellschaftliche Deutungsmuster.“ (Singer, S. 39). Entsprechend machen die ersten beiden Aufsätze deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Akzeptanz gegenüber geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten, Herausforderungen für Museen und ihre Sammlungen darstellen und Veränderungen der Sammlungen als Katalysatoren der Entwicklungen dienen können.
Das sich anschließende zweite Kapitel „(Sich) Sexualitäten erschließen“ liefert in vier Aufsätzen die weitere Fundierung der kritischen Reflexion des musealen Sammelns und Ausstellens. Entlang des Beispiels der Aufnahme von Pin-Up-Kalendern in Sammlungen macht Jana Wittenzellner die zwiespältige Position von Museen deutlich. Sammlungen seien ein „Werkzeug, Wissen und Fähigkeiten vor dem Vergessen zu retten. Ob allerdings wertvolles Wissen verloren ginge, nähme man die Pin-Up-Kalender nicht in die Sammlung auf, darf durchaus bezweifelt werden. Andererseits: Wie können wir entscheiden, was in Zukunft bedeutsam sein wird?“ (S. 66). Wittenzellner diskutiert die gesellschaftliche Rolle der Museen, auch als „hegemoniale Institutionen“ (S. 65) – sie würden sich dieser Rolle zunehmend bewusst und versuchten einen Spagat zwischen „neutraler“ Institution in Tradition eines europäischen Wissenschaftsverständnisses und „aktivistischer“ Positionierung für „individuelle[s] und gesellschaftliche[s] Wohlergehen“ (ebd.). Ein Pin-Up-Kalender als „sexistisches Objekt“ könne dabei durchaus herausfordern – auch die Museumsmitarbeiter*in selbst –, die Wirkung könne aber kontrastiert werden durch weitere Pin-Up-Kalender, die den klassischen „männlichen Blick“ durchkreuzen. Anschließend erläutert Peter Rehberg die Bedeutung queerer Archive am Beispiel des Schwulen Museums Berlin, das sich heute als „inklusiver queerer Ort für alle sexuellen Minderheiten und nicht-normativen Genderentwürfe“ (S. 85) versteht. Rehberg greift als einziger im Band explizit einen Bezug zu DDR-Geschichte auf, indem er für die Erläuterung der Bedeutung queerer Archive auf das Beispiel die Porno-Alben von Siegmar Piske zentral setzt. Zugleich scheint in seinem Beitrag auf, dass zwischen Sexualität und Geschlecht zu unterscheiden ist. Der Beitrag von Martha Clewow verdeutlicht am Beispiel des Londoner Haringey-Vanguard-Projekts die Relevanz queerer Archive, um marginalisierte Perspektiven im gesellschaftlichen Erinnern berücksichtigen zu können – dabei sei auch gerade Oral history bedeutsam, da „written records of an LGBTQ+ past rarely exist, or were censored or destroyed“ (S. 105). Das Kapitel beschließt der Aufsatz von Hannes Hacke, der auf die Praxis der Verschlagwortung in Sammlungsdatenbanken fokussiert. Er diskutiert die Praxis der Klassifikation kritisch und zeigt, wie über die Verschlagwortung gesellschaftliche Ungleichverhältnisse (Dominanz und Marginalisierung) anschaulich werden. Zugleich – so führt Hacke aus – „bilden Apparate der Wissensorganisation, wie Datenbanken, Thesauri und Normdaten, Wissen nicht nur ab, sondern sind Teil der diskursiven Produktion von Identitäten und Praktiken“ (S. 125). Eine neue, queere Dokumentationspraxis dürfe sich nicht nur auf eine „Inklusion von marginalisierten Sexualitäten“ beschränken (S. 128), sondern müsse die Wissensinfrastrukturen im Museum insgesamt kritisch reflektieren.
Einem klassischen Spannungsbogen folgend, kommt (erst) im dritten Kapitel „Sexualitäten vermitteln und begreifen“ der Aufsatz, der – im Interesse des Bandes zentral – auf die Neukonzeption des Themenraums „Sexualitäten“ im Deutschen Hygiene-Museums fokussiert. Geschrieben ist er von Anina Falasca, die die Notwendigkeit der Neugestaltung des Themenraums im traditionell gewachsenen Museum verdeutlicht und skizziert, welche Überlegungen der Neugestaltung zugrunde lagen. Insbesondere veranschaulicht Falasca gesellschaftliche Entwicklungen und aktuelle Auseinandersetzungen im Hinblick auf sexuelle und gesellschaftliche Vielfalt, Schwangerschaftsabbruch sowie die Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen. Die Ausstellung versuche dabei möglichst viele Perspektiven zu berücksichtigen, wenn ein Museum auch verschiedentlich an Grenzen stoßen müsse. „Die Idee des Ausstellungskonzeptes war es, die existierende Vielfalt von Sexualitäten sichtbar zu machen. Deshalb gibt es auch keine Vitrine mit dem Titel ‚Homosexualität‘ oder ‚Queer‘ oder ‚Trans*‘. Stattdessen wird in jeder Ecke der Ausstellung gezeigt: Menschen sind vielfältig, Sexualitäten, Körper und Geschlechter sind vielfältig und waren es schon immer“ (S. 154). Die zwei weiteren Aufsätze des dritten Kapitels vertiefen die politische Dimension (Beitrag vom Kollektiv „Objects of Desire“) und wenden sich neuen sexualpädagogischen Materialien zu (Beate Absalon). Mit dem Beitrag des Kollektivs „Objekts of Desire“ wird eine Ausstellung vorgestellt, die im Jahr 2019 im Schwulen Museum gastierte und die Perspektiven von Sexarbeiter*innen zum Inhalt hat – in Form ihrer Stimmen, Geschichten und Artefakte. Beate Absalon stellt abschließend Materialien für die sexualpädagogische Praxis vor, die etwa – endlich korrekt und komplett! – die Bestandteile der Vulva vollständig vorstellen und vielfältige körperliche Ausprägungsformen berücksichtigen. Absalon schlägt damit die Brücke zwischen Museum und Schule.
Diskussion
Der gut lesbare und vielschichtige Band macht anschaulich, warum sich aktuell museale Darstellungsweisen von Sexualitäten und Geschlechtern wandeln. Durch die praxisnahen Einblicke in verschiedene Sammlungen und die theoretischen Einordnungen erhalten sowohl mit dem Thema vertraute Leser*innen neue Einblicke, werden aber gleichzeitig auch diejenigen mitgenommen, die sich bislang noch nicht vertiefend mit Darstellungsweisen von Sexualität und Geschlecht im Museum befasst haben.
Wünschenswert wäre eine deutlichere Unterscheidung zwischen Sexualität und Geschlecht gewesen. Trans* repräsentiert eben keine Sexualität, sondern Geschlecht. Und die Marginalisierungen vollziehen sich in Bezug auf die verschiedenen Buchstaben im Kürzel LSBTIQ* sehr unterschiedlich. Hier liegt sicherlich eine weitere Aufgabe auch für Museen, die klarere Differenzierung zu leisten und damit – als Bildungseinrichtungen – Kindern und Jugendlichen sowie insbesondere Erwachsenen (darunter Fachkräften) Orientierung zu bieten. Auch erschließt sich beim Obertitel des Buches „Sexualitäten sammeln“ nicht, warum insbesondere auf marginalisierte Identitäten fokussiert wird und nicht auf Fragen sexueller Entwicklung, Herausforderungen in verschiedenen Altersstufen und vielfältige sexuelle Praktiken. Hier sollte von Leser*innen ergänzend der Band „Dinge und Sexualitäten“ [1] des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herangezogen werden, der im Sinne eines Ausstellungskatalogs expliziter Sexualität und mit ihr verbundene Objekte diskutiert und weniger der Marginalisierung von Personengruppen nachgeht.
Schließlich wäre es bedeutsam, die Perspektiven zu vertiefen, wie museale Sammlungen sexuelle und geschlechtliche Identitäten erst hervorbringen. In den Beiträgen dieses Bandes – insbesondere im Aufsatz von Hannes Hacke – klingt diese Dimension nur an, obgleich etwa die „Zwischenstufenwand“ im historischen Institut für Sexualwissenschaft – im Kontext medizinischer Wissenschaft – äußerst bedeutsam dafür war, Menschen „wie Insekten auf[zu]reihen und auf seltsame Namen [zu] taufen“. [2] Im Anschluss an eine solche Perspektive wäre auch kritisch zu befragen, ob das einfache Sichtbarmachen von marginalisierten Personengruppen schon zu mehr Akzeptanz führt – oder wie eine Sichtbarmachung aussehen muss, damit sie nicht zu mehr Diskriminierung und Gewalt führt. Hier bieten die Beiträge einige Hinweise – unter anderem die Entscheidung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden keine Identitäts-Vitrinen zu entwerfen, sondern stetig die Vielfältigkeit von Merkmalen aufzuzeigen.
Fazit
„Sexualitäten sammeln“ ist ein unbedingt lesenswerter Band, der vielfältige Denkanstöße bereithält. Ertragreich erscheint es, die Lektüre mit dem Ausstellungsband „Dinge und Sexualitäten“ zu verbinden.
[1] Roeßiger, Susanne; Tammer, Teresa; Töpfer, Katja; Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hrsg., 2021): Dinge und Sexualitäten: Körperpraktiken im 20. und 21. Jahrhundert. Dresden: Sandstein Verlag.
[2] Foucault, Michel (1983 [1976]). Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. S. 59. Vgl. Çetin, Zülfukar; Voß, Heinz-Jürgen (2016): Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: Kritische Perspektiven. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 66-68.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 10.03.2022 zu:
Maria Bühner, Rebekka Rinner (Hrsg.): Sexualitäten sammeln. Ansprüche und Widersprüche im Museum. Böhlau Verlag
(Wien Köln Weimar) 2021.
ISBN 978-3-412-52347-3.
Reihe: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum: Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden - Band 15.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29228.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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