Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.03.2022

Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Heyne Verlag (München) 2022. 256 Seiten. ISBN 978-3-453-60563-3. D: 10,99 EUR, A: 11,30 EUR, CH: 16,90 sFr.
Die stärkste Kraft des Individuums ist der andere Mensch
„Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“ – dieser Wunsch und diese Hoffnung im menschlichen, friedlichen Miteinander bestimmt das Nachdenken des Menschen über sich und die Welt von Anfang an. Es sind die existentiellen Erfahrungen, dass der Einzelne sich nicht zu einem Homo sapiens, einem verständigen, einsichtsvollen, wissenden, empathischen Lebewesen entwickeln kann, wenn Egoismus und nicht Altruismus sein Leben bestimmt. Philosoph*innen haben zu allen Zeiten darüber nachgedacht, wie es gelingen kann, dass der anthrôpos will und anstrebt, ein „Homo sozialis“ zu sein. Der Mensch ist von Geburt an – und nicht selten während seines ganzen Lebens – ein unvollständiges, verletzbares „Mängelwesen“ (Helmuth Plessner); darauf angewiesen, empathisch und verantwortungsbewusst begleitet, beraten und gefördert zu werden. Die US-amerikanische Psychologin Judith Butler drückt da so aus: „Menschliche Verletzbarkeit ist nicht aufhebbar oder kompensierbar“; dabei aber nicht in Passivität oder gar Fatalismus zu verfallen, sondern kommunikativ und aktiv ein Selbst in Sich und im Andern zu entwickeln. Es ist die Herausforderung, sich seiner Verletzlichkeit bewusst zu sein und im Dialog und sozialen Kontakten nach Wegen zu suchen, diese humane Wirklichkeit nicht zu einem Manko, sondern zu einer Win-Win-Situation werden zu lassen (siehe z.B. dazu: Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Warum und wie entstehen Egozentrismen, ideologische Höherwertigkeitsvorstellungen, Konflikte, Diktaturen und Machtmissbräuche? Im Kaleidoskop und in den Kakophonien des menschlichen Zusammenlebens sind es überwiegend Verquerdenkereien und Thronungen von vermeintlichen, herbeigeführten, nicht selten auch von der Umgebung zugejubelten Allmachtgefühlen. Der Philosoph von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, Hartmut Rosa, stellt in seiner Gesellschaftsanalyse fest: „Dem Fortschritt der Moderne wohnt eine Verschleißunruhe inne, während die Vergangenheit zunehmend entwertet und die Zukunft ihrer Substanz beraubt wird“. Sein philosophisches, soziologisches und gesellschaftspolitisches Konzept: „Unruhe bewahren – Denken!“. Er setzt sich damit auseinander, dass sich „das Leben vollzieht als Wechselspiel zwischen dem, was uns verfügbar ist, und dem, was uns unverfügbar bleibt, uns aber dennoch ‚etwas angeht‘; es ereignet sich gleichsam an der Grenzlinie“. Das Prinzip „Anachronie“ bedeutet, dass eine Analyse über eine gesellschaftliche Entwicklung als Rück- oder Vorausschau angegangen werden kann, als Alternative zum „business as usual“ und zur Chuzpe von allseitiger und allzeitiger „Verfügbarkeit von Welt“. Die Grenzlinie zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, zwischen Perfektion und Unvermögen gilt es zu erkennen. Es ist die für viele (Macht-)Menschen schmerzhafte Einsicht, dass der Mensch nicht alles machen darf, was er kann (oder zu können glaubt), dass ein Gleichgewicht notwendig ist bei den Bedürfnissen nach dem Selbst, dem Sozialen und zur Natur. Mit der „Soziologie der Weltbeziehung“ will Rosa den Resonanzboden bereiten, wie die Beziehung der Menschen zur Um-, Mit- und Allwelt in der Moderne bereitet werden kann. Es ist weder das Paradies, noch die Hölle, sondern die reale Herausforderung für ein gutes Leben alles Daseienden auf der Erde. Das Verfügbare stellt sich dabei in vier Dimensionen dar: Sichtbar machen – Erreichbar machen – Beherrschbar machen – Nutzbar machen. Machen aber, das unterliegt bei der Betrachtung des klassischen Weltanschauungsdiskurses ganz verschiedenen Fallstricken: als Entfremdung statt Anverwandlung im Marxschen Sinn, als Verdinglichung statt Verlebendigung bei Adorno und Lucács, als Weltverlust statt Weltgewinn in der Arendtschen Auffassung, als Unlesbarkeit statt Verstehbarkeit der Welt nach Blumenberg; und als Entzauberung statt Beseelung, wie sie Max Weber formuliert hat. So wird „Resonanz“ als intellektuelles Verstehen und emotionales Berühren von Welt: „Resonanzbeziehungen sind … dadurch gekennzeichnet, dass sich mit und in ihnen Subjekt und begegnende Welt verändern“; bezeichnenderweise jedoch mit dem Grundwiderspruch, dass sich „die transformativen Effekte einer Resonanzbeziehung ( ) stets und unvermeidlich der Kontrolle und Planung der Subjekte (entziehen), sie lassen sich weder berechnen noch beherrschen“. Hier nähern wir uns den Bedingungen, Voraussetzungen und Möglichkeiten, wie sie sich beim „Kreativitätspotenzial“ (Andreas Reckwitz) und beim Vorurteilskomplex (Anton Pelinka) darstellen: Resonanz impliziert eine zweiseitige Bewegung: „Es genügt nicht, dass ich auf die Welt zugreife, sondern Resonanz setzt voraus, dass ich mich anrufen lasse, dass ich affiziert werde, dass mich etwas von außen erreicht“ (Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25302.php).
Aufbau und Inhalt
Vom Berliner Neurowissenschaftler, Psychotherapeuten und Mediziner Joachim Bauer gibt es wegweisende und interdisziplinäre Ratschläge darüber, wie menschliche Beziehungen entstehen, wirken und unter Kontrolle gebracht werden können. Es ist der Resonanzraum, der gute und schädliche Verhältnisse schafft. Dazu hat er bereits mehrere Verlautbarungen getroffen, z.B. die Frage, welche Bedeutung Gefühle im Verhältnis der Menschen zueinander haben („Warum ich fühle, was du fühlst“, 2005), wie Ängste und Schmerzen das Leben der Menschen beeinträchtigen können („Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“, 2011), und wie die individuelle und kollektive Willensbildung wirkt („Selbststeuerung. Die Weiterentwicklung des freien Willens“, 2015). 2019 führt er mit der Nachschau „Wie wir werden, wer wir sind“ sein intellektuelles Mühen fort, indem er die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Natur und das Sein des Menschen als „Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz“ definiert. Es sind die Bestrebungen des anthrôpos nach Selbstbestimmung und Autonomie (siehe dazu auch: Martina Franzen, u.a., Hrsg., Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17917.php). „Resonanz“ als sozialer, empathischer Wert und Tugend, die erworben werden muss: Sie ist Spiegel und Stempel zugleich.
Der Autor gliedert die Studie, neben dem Vorwort, in 15 Kapitel, in denen er bereits mit den Überschriften verdeutlicht, worum es ihm geht – nicht um Rezepte und Anweisungen, sondern um Anregungen zum Selbst-, Mit- und Zusammendenken:
- Wie kommt der Mensch zu einem „Selbst“?
- Ausbau des Selbstsystems und Autonomieerwerb
- Wenn das Selbst verhungert: Eine Romanfigur aus „Der Bungalow“
- Neurobiologische Rezeptoren für den Geist
- Selbst, Körper und Sexualität
- Selbstkonstruktion: Individualität und Identität
- Pädagogik als Öffnung von Möglichkeitsräumen
- Menschliche Arbeit
- Leiden am Selbst: Narzissmus, Abhängigkeit, Depression
- Erschütterung und Auflösung des Selbst: Traumatisierung, Gaslighting, Demenz
- Kulturen, Psyche und Gehirn: „Ich“ und „Wir“
- Das aufgeblähte Selbst: Die Schwierigkeit, im Selbst zu Hause zu sein
- Selbst-Fürsorge
- Im Resonanzraum der Gesellschaft.
Es ist nicht selbstverständlich und auch nicht zwingend gegeben, dass das menschliche Selbst gewissermaßen "automatisch“ entsteht. Es sind die Zeitläufte, die intellektuellen wie die kakophonen Entwicklungen, die die Frage „Wie wir werden, wer wir sind“ beantworten lassen: „Das Selbst als Komposition internalisierter Elemente steht in einem dialektischen Verhältnis zum Selbst als Akteur“ (S. 104). Es sind die Hinweise und Bezugspunkte auf neurobiologische und neurodidaktische Phänomene, die in der Bildung und Erziehung, wie auch im alltäglichen Umgang miteinander bedeutsam sind: „Ohne Beziehung keine Motivation“ (S. 113). Die Balance zwischen den theoretischen Herleitungen, den kulturellen und zivilisatorischen Bezügen, den philosophischen und literarischen Quellenverweisen und den praktischen Tipps ermöglichen es der Leserschaft, nachzuvollziehen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Selbst die richtigen Richtungen weisen und zur Selbst- und Weltfindung führen kann und ermöglicht, „unsere Identität zu bewahren, nichts in uns hineindrücken zu lassen, was sich nicht als mit uns kongruent anfühlt, andererseits durchlässig zu bleiben, eigene Haltungen und Werturteile in Frage zu stellen, sich von anderen Menschen inspizieren und verändern zu lassen“ (S. 208).
Diskussion
Im „Selbst“ zu Hause zu sein, human, gerecht, sozial und empathisch zu leben, ist notwendig – und schwer. Die Unterscheidungen zwischen Gut und Böse (Markus Gabriel/Gert Scobel, Zwischen Gut und Böse. Philosophie der radikalen Mitte, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28603.php), zwischen Leiblichkeit und Ethik (Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse. Leiblichkeit, Polykontextualität und implizite Ethik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24084.php), benötigen die Anstrengung, über das eigene und das kollektive Leben der Menschen nachzudenken: „Wir alle neigen dazu, unerwünschte, unschöne Teilstücke unseres Selbst abzuspalten, also nicht mehr als zu uns gehörig zu erklären und sie anderen Menschen zuzuschreiben“. Nur allzu leicht, bewusst oder unbewusst, wird Individualität zum Individualismus und Egoismus (Paul Collier/John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php). Die Frage, wie wir geworden sind, wer und was wir sind, ist nicht einfach eine intellektuelle, theoretische Wissens- und Bewusstseins-Übung, sondern eine notwendige, alltägliche, individuelle und lokal- und globalgesellschaftliche Herausforderung zum Sein: „Der Umgang mit unserem Selbst – und mit dem unserer Mitmenschen – erfordert Sensibilität, Geduld, Bewahrung, manchmal aber auch einen mutigen Schritt hinein in Möglichkeits- und Entwicklungsräume“. Es sind Ermunterungen, Anstöße und Empfehlungen zum sich trauen, Mensch zu sein. Der Schweizer Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) hat diese Fähigkeit „positive Subversion“ bezeichnet und mit dem von Kurt Marti (1921 – 2017) in Berner Mundart verfasstem Gedicht „Wo chiemte mer hi?“ ausgedrückt: „Wo kämen wir hin/wenn alle sagten/wo kämen wir hin/und niemand ginge/um einmal zu schauen/wohin man käme/wenn man ginge“ (Nach uns die Zukunft, Bern 1979).
Fazit
Die modernen Neurowissenschaften haben, mit suchenden, interdisziplinären Kooperationen, die traditionellen Erkenntnisse vom „Selbst“ gewissermaßen neu entdeckt und in der Theorie und Praxis des Bewusstseins vom „Sein“ wirksam gemacht: „Unser Selbst ist unauflöslich verbunden mit dem Du und, mehr als uns das bewusst ist, immer auch ein Wir“. Resonanz, als Ich- und Weltbeziehung, ist eine Hab-Acht-Funktion, die es gilt, zu erkennen, zu beachten und zu leben, lebenslang!
Die Studie „Wie wir werden, wer wir sind“, ist eine historische Nachschau, eine aktuelle Bestandsaufnahme, und eine Zukunftsperspektive! Sie gehört in das schulische Bildungscurriculum und in den Verhaltenskodex der Erwachsenenbildung!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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