Kristina Kühnbaum-Schmidt (Hrsg.): Streitsache Assistierter Suizid
Rezensiert von Heribert Wasserberg, 27.06.2022

Kristina Kühnbaum-Schmidt (Hrsg.): Streitsache Assistierter Suizid. Perspektiven christlichen Handelns. Evangelische Verlagsanstalt (Leipzig) 2022. 128 Seiten. ISBN 978-3-374-07083-1. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
„Mir geht das alles nicht weit genug. Ich möchte gehen können, wann ich will – auch kerngesund und ohne Rechtfertigung irgendjemandem gegenüber. Im Moment ist das nur mit bestimmten Suizid-Varianten möglich. Das ist entwürdigend. Und die Freigabe der Medikamente über einen Arzt für einen selbstbestimmten, würdevollen Abschied ist überfällig.“
Menschen wie Leserbriefschreiber Thomas Strack aus München wollen das tödliche Medikament einfach zur Befriedigung ihrer Nachfrage beziehen können, über den Arzt oder auch über das Bürgeramt, von der Apotheke oder vom Gesundheitsamt, postalisch oder per DHL – eigentlich egal, wie und woher. Hauptsache, sie müssen sich nicht rechtfertigen, wofür sie sich nicht zu rechtfertigen haben. Hauptsache gehen können, auch in Frieden mit der Gesellschaft.
Auch der Rezensent findet, dass ihm keine Hürden im Weg stehen sollten, wenn er sein Leben human und menschenwürdig beenden möchte. Politisch spielen Menschen mit diesen Wünschen und Bedürfnissen allerdings keine Rolle. Denn in Politik, Verbänden, Medien muss sich ein Konsens gebildet haben, dass man eine gesetzliche Selbsttötung nicht allein, sondern nur mit Hilfe Dritter durchführen dürfen soll und kann. Deshalb hat die Diskussion über Selbsttötung und Suizidassistenz etwas Absurdes; es kann nicht sein, was nicht sein darf: Wo kämen wir denn hin, wenn alle ebenso so wie der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der Herr Strack oder der Rezensent Herr im eigenen Haus sein wollten am Lebensende, und dies wohlmöglich auch noch mit freundlicher Unterstützung der Behörden? Damit die Rollenzuweisung an den Staat, Dienstleister der Bürger:innen auch bei dem humanen Suizid zu sein, so lange wie möglich weiter tabu bleiben kann, wird die Suizidassistenz zum Gegenstand der Aufmerksamkeit erhoben, und ist deshalb auch das Thema dieses Aufsatzbandes, welcher Vorträge einer Veranstaltungsreihe der Evangelisch-lutherischen Nordkirche dokumentiert.
Autor:innen oder Herausgeberin
Prof. Dr. Michael Germann, Professor für Öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Kirchenrecht an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Richter des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt, Vorsitzender des Rechtsauschusses der Generalsynode der VELKD.
Prof. Dr. Dietrich Korsch, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Marburg.
Prof. Dr. Annette Noller, Oberkirchenrätin und Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, zuvor Professorin für Theologie und Ethik in sozialen Handlungsfeldern und Diakoniewissenschaft an der ev. Hochschule Ludwigsburg.
Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner, Ordinarius für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Universität Wien, Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin (IERM).
Kristina Kühnbaum-Schmidt (Herausgeberin), Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, stellvertretende leitende Bischöfin der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) und stellvertretende Vorsitzendes des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB).
Aufbau
Die Aufsatzsammlung dokumentiert im Anschluss an die Einleitung der Herausgeberin die vier Beiträge der Autor:innen,
Inhalt
Die Fragestellung des Aufsatzbandes (gemäß der Verlagsmeldung): „Soll (…) künftig assistierte Sterbehilfe auch in kirchlichen Einrichtungen möglich sein? (…) Angesehene Theologen und Theologinnen [und ein angesehener Jurist; HW] debattieren die sehr kontroversen Positionen nicht nur im deutschen und evangelischen, sondern auch im ökumenischen und europäischen Kontext. Sie beleuchten das umstrittene Thema aus juristischer, theologischer und diakonischer Perspektive. In welcher Beziehung stehen Freiheit und Selbstbestimmung zur Konstitution des Menschen als Gemeinschaftswesen, als Geschöpf unter Geschöpfen? Wo genau kommt die Menschenwürde ins Spiel? Wie zeigt sich christliches Handeln im Horizont der Liebe Gottes? Eines Gottes, der unbedingt für das Leben eintritt – auch am Ende des Lebens und darüber hinaus!“
„Ist Suizid ein Menschenrecht?“ fragt die Herausgeberin Kristina Kühnbaum-Schmidt am Beginn ihrer Einleitung (S. 7–13), und lässt damit einen Grundton dieser Aufsatzsammlung anklingen, in welchem sich Fassungslosigkeit, Verärgerung, Zweifel und Schicksalsergebenheit verbinden. Denn natürlich weiß die Herausgeberin, dass Suizid nunmehr in Deutschland als ein Grundrecht gilt und insofern auch „ist“. Und das sich hieraus auch für die Kirchen und ihre Wohfahrtsorganisationen „Entscheidungsnotwendigkeiten“ (S. 7) ergeben.
Der Aufgabe, diese Notwendigkeiten auszuloten, unterzieht sich zunächst der Volljurist Michael Germann in seiner facettenreichen, bemerkenswert flüssig zu lesenden und für spezifisch fachlich interessierte Personen lesenswerten verfassungsrechtlichen Erklärung und Interpretation sowie ethischen Diskussion des Verfassungsgerichtsurteils (S. 15–45): „Der Schwerpunkt liegt auf dem Überblick über die Urteilsbegründung, der die juristische Struktur der Grundrechtsprüfung nachzeichnet (1.) und die Prämissen in der Auslegung des Grundgesetzes sichtbar macht, die das Bundesverfassungsgericht seinem Urteil zugrunde legt (2.). Für sie lässt sich dann nach Ansätzen zur juristischen Kritik am Urteil fragen (3.). Der abschließende Ausblick beschränkt sich auf ein Aperçu zu den rechtspolitischen Folgen des Urteils (4)“ (S. 15). Diese seien voraussichtlich: „Das Recht auf Selbsttötung wird betont, die Institutionalisierung der Suizidhilfe wird staatlich organisiert, die Suizidhilfe wird zum bürokratischen Vorgang. Die Geschäftsmäßigkeit, Routine und Normalität der Förderung der Selbsttötung, die der Gesetzgeber vorher als Gefahr für die Selbstbestimmung der Menschen bewertet hat und nach der Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts auch so bewerten durfte (…), muss sich der Staat paradoxerweise jetzt selbst zu eigen machen, um einen Rahmen für die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung schaffen zu können, in dem der Autonomieschutz noch zur Geltung kommen soll“ (S. 47). Bleibt nur noch, nach der Meinung Germanns, der Schutz der „Freiheit, sich von der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in jeder Hinsicht fernzuhalten (…). Das gilt wie für jeden Einzelnen auch für die gesellschaftlichen Organisationsformen grundrechtlicher Freiheit, unter ihnen die Kirchen mit ihren diakonischen Trägern und Einrichtungen.“
Mit diesem Fazit hätten eigentlich Vortragsreihe und Buch abgeschlossen werden können. Die evangelische Kirche hätte sich eigentlich der römisch-katholischen Kirche anschließen können, welche ihren Beschäftigten jede Suizidhilfe verbietet, zumal innerhalb ihrer Einrichtungen. Jedoch liegen die Dinge in der evangelischen Kirche anders, die das Sprichwort „Roma locuta, causa finita“ (Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt) nicht kennt, hingegen zudem den Primat des Theologischen vor dem Juristischen pflegt.
In diesem Buch haben daher drei Theolog:innen das letzte Wort, denn eine spezifische Notwendigkeit für die gewählte Reihenfolge der Beiträge ist nicht ersichtlich. Im ersten der drei theologischen Beiträge (S. 47–66) widmet sich Dietrich Korsch der Frage, wie frei der menschliche Wille wirklich sei. Willensfreiheit und Selbstbestimmung führen in die Tiefen reformatorischer Theologie, nachzuverfolgen in Luthers Schriften Von der Freiheit eines Christenmenschen und De servo arbitrio – dass der freie Wille nichts sei. In diesen Schriften fielen wichtige theologische Grundentscheidungen, welche die gesellschaftliche und politische Kultur Deutschlands bis heute beeinflussen. Insbesondere der lutherische Protestantismus ist ausgesprochen skeptisch, wenn es um Autonomieansprüche und deren Rechtfertigung geht. Korsch hatte schon an anderer Stelle dem Bundesverfassungsgericht vorgeworfen, falsch geurteilt zu haben. An diesem Ausgangspunkt anknüpfend, behandelt Korsch hier nun das Thema Selbstbestimmung und Willensfreiheit mit teilweise sprachanalytischen Verfahren, teilweise religionsphilosophischen Reflektionen. Er durchwandert die Themenwelten „Leben und Lebenserhalt“ (1.), „Lebensunterhalt, Sprache und Selbstbild“ (2.), „Selbstbestimmung und freier Wille“ (3.), „Die Unbedingtheit der Selbstbestimmung“ (4.) und „Die Endlichkeit der Selbstbestimmung“ (5.), bevor er bei dem Thema „Die Einzigartigkeit der Selbsttötung“ (6.) ankommt. Nachdem er hier zunächst die Selbsttötung als Selbstwiderspruch der Selbstbestimmung problematisiert (6.1), behandelt er die Frage „Selbsttötung und Schuld“ (6.2). Korsch meint, dass Selbsttötung keine Sünde sei, denn: „Auch die Selbsttötung kann die Verbindung, die von Gott her zum Menschen hin als Grund von dessen Existenz besteht, nicht abbrechen.“ (S. 58). Freilich habe die Selbsttötung Folgen, unter anderem die Negation von Sinnin der Sprache. Nach einem Kapitel über den Begriff „Beihilfe zur Selbsttötung“ (7.) wendet sich Korsch schlussendlich dem Gegenstand „Selbstbestimmung und das eigene Sterben“ (8.) zu: „Wir empfinden unser eigenes Leben in Gestalt unseres Selbstbildes, auf welches Erkennen, Wollen und Sich-Ausdrücken zurückgeht.“ „Die Einkehr des Selbstbildes in seinen Grund ist die spezifische Weise der Selbstbestimmung am Lebensende. Darum kann man sagen: Sein Leben enden lassen, ist Ausdruck unbedingter Selbstbestimmung“.
Praktische Konsequenzen aus dem Gedankengang dieses Aufsatzes zu ziehen, wird nicht allen leichtfallen. Jedoch nimmt das Buch nun eine sehr lebenspraktische Wendung, indem Annette Noller Die Perspektiven der Diakonie zur Suizidassistenz darlegt (S. 67–89) und sogleich dem pietistischen württembergischen Pfarrer Christian-Georg Blumhardt das Wort erteilt: „Wir sind Protestleute gegen den Tod!“ Diakonie sei, „in jeder Lebensphase aus der Auferstehungshoffnung zu leben und sie in konkrete gesellschaftliche Handlungsformen zu gießen.“ Nach diesem Einstieg lässt Noller im zweiten Kapitel des Aufsatzes bei Augustinus‘ Verdammung des Suizids einen ideengeschichtlichen Durchgang beginnen, welcher die Selbsttötung als eine über lange Jahrhunderte hinweg als Sünde, später als krankhaft bewertete Handlung darstellt. Um dann auf den nun anstehenden abrupten Paradigmenwechsel zu sprechen zu kommen: „Diakonie und Kirche sind nun durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erneut dazu herausgefordert, darüber nachzudenken, ob und in welchen Situationen ein Suizid als eine selbstbestimmte, willentlich gesteuerte Tat zu verstehen ist, die im Horizont der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes zu verorten ist.“ (S. 70). Anschließend (3. Medizin und sozialethische Kontexte: Vom Vertrauen zum Vertrag) wird die Hinwendung zu Schutzkonzepten in Bezug auf die Patientenautonomie seitens der medizinischen Professionsethik berichtet, die auch grundsätzlich begrüßenswert seien, aber: „Um Menschen in Krisen- und Notsituationen fachlich angemessen zu unterstützen und zu begleiten, bedarf es aber einer differenzierteren ethischen Grundlage“ (S. 72). Diese Differentierungsarbeit leisten wollend entfaltet Noller im vierten Kapitel eine „Care-Ethik und Ethik der Achtsamkeit“, bevor sie sich dann des Gegenstandes 6. „Medizinische und sozialwissenschaftliche Perspektiven“ annimmt. Unter ausführlicher Zitierung der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts macht sich Noller die Auffassung zu Eigen, dass Suzidwünsche überwiegend krankhaft sind und fordert: „Bevor es zu einer geschäftsmäßig geförderten Selbsttötung kommt, sollten Betroffene die Möglichkeit haben, Krisenintervention, medizinisch-sozialpsychiatrische Hilfen oder palliativmedizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.“ (S. 79). Weiter geht es mit einer Reflexion über 7. „Biblische Anthropologie, Freiheit und Fragmentarität“, in welcher die biblisch-theologische Kategorie der Gottesebenbildlichkeit als fragmentarisch charakterisiert wird: „Diese schließt Schuldverstrickung, Fehleranfälligkeit und Verletzlichkeit der Geschöpfe Gottes als anthropologische Grundkonstante ein.“ (S. 81). In der „Metapher des Fragments“, so Noller, „beschreibt die Pastoraltheologie eine Haltung, die hofft, dass auch an vulnerablen, suizidalen, krisenhaften Lebenserfahrungen weitergebaut, d.h. Perspektiven eröffnet werden können.“ (S. 82) Nun ist aber diese perspektivenorientierte diakonische Bearbeitung keineswegs Konsens in Kirche und Diakonie, weswegen das Kapitel 7 „Diakonisch-kirchliche Pluralität des Diskurses um assistierten Suizid“ folgt. Nach dem Blick auf die kontroverse EKD-interne Diskussion der letzten beiden Jahre über die Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen beendet Noller ihren Beitrag mit eigenen „Perspektiven und Vorschlägen“:
- Resilienz fördern,
- Suizidprävention stärken,
- Krisenintervention stärken,
- Beratungsangebote machen,
- Jugendschutz.
Und zur Perspektive der Suizidassistenz in kirchlichen Einrichtungen äußert sie: „Aus einer diakonischen Perspektive, die auch vom Diakonischen Werk Württemberg so verabschiedet wurde, ist eine geschäftsmäßig geförderte Selbsttötung nur in sehr begrenzten, unerträglichen und unumkehrbaren Leidenssituation, die in der Regel am Lebensende auftreten und nur unter intensiver medizinisch-psychologischer Begleitung durch Ärzte und Ärztinnen denkbar.“ (S. 88).
Den dritten und abschließenden theologischen Beitrag verantwortet Ulrich H. J. Körtner, um professions- und organisationsethische Gesichtspunkte in ökumenischer und europäischer Perspektive zu besprechen (S. 91–126). Ebenso wie Korsch hatte auch Körtner sich schon in einer umfassenden Weise öffentlich zum Thema eingelassen, woran er hier anschließt. Körtner beginnt mit einem Eingangskapitel „Multidisziplinäre Zugänge“ über die mannigfaltigen multidisziplinären Zugänge, die bei der Befassung mit der Suizidassistenz zu berücksichtigen seien, theologische, anthropologische, medizinische, philosophische, juristische, pflegewissenschaftliche, soziologische, um dann im Kapitel 2 „Dimensionen des Ethischen“die individualethischen, personalethischen, sozialethischen und organisationsethischen Dimensionen anzusprechen, die in der ethischen Behandlung der Suizidassistenz zu berücksichtigen seien. Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand, die Suizidassistenz in (kirchlichen) Einrichtungen, mündet dieser Problemaufriss in dem Postulat: „Wir haben es mit einem Handeln von multidisziplinären, multiprofessionellen Teams zu tun, und das zudem noch bei wechselnden Schichten. Das aber bedeutet: Wir müssen auch über Suizid und Suizidhilfe in einem solchen sozialen und das heißt jetzt institutionalisierten oder organisierten Setting diskutieren.“ (S. 95) In dem Kapitel 3 „Hilfe beim Sterben – Hilfe zum Sterben: Handlungsweisen und Akteure“ wird die Suizidassistenz gegenüber anderen, etwa palliativen Handlungen abgegrenzt. Anschließend (4.) referiert Körtner einen Überblick über die Suizidhilfe im europäischen Rechtsvergleich und anschließend (5.) im Spiegel der heterogenen Äußerungen aus den europäischen christlichen Theologien und Kirchen heraus, denen er ein Kapitel (6.) über die Gesetzgebungsvorschläge der 19. Wahlperiode des Bundestages und aus der Rechtswissenschaft zur Neuregelung der Suizidhilfe folgen lässt. Nach nunmehr mehr als zwanzig Seiten ist der Punkt erreicht, an welchem – nach dem Dafürhalten des Rezensenten: endlich – die theologischen Erwägungen Körtners zur Kenntnis genommen werden dürfen. Körtner setzt sich hier (Kapitel 7, S. 113) kritisch fragend und mahnend mit der Position auseinander, dass es auch in kirchlichen Einrichtungen Suizidassistenzangebote geben müsse und wendet sich dagegen, aus einer im Grenzfall möglichen Einzelhandlung eine Regel machen zu wollen. Es verbiete sich, Suizidhilfe als Akte der Barmherzigkeit zu generalisieren, so Körtner. Diese konservative und skeptische Haltung lässt Körtner auch bei der Erörterung der Organisations- und trägerethischen Aspekte (Kapitel 8) zum Tragen kommen, das von sorgengepeinigten Fragen und Bedenken geprägt ist; daraus ein Beispiel: „Oft wird so geredet, wenn jemand nach längeren Leiden gestorben ist: »Frau Müller hat es jetzt geschafft.« Stellen wir uns vor, es wird ein Suizid verübt mit Beihilfe, und anschließend sagt man der Zimmernachbarin: »Frau Müller hat es endlich geschafft.« Ist das nicht auch eine mögliche Quelle von Traumatisierung? Was bedeutet das für das Vertrauensverhältnis zu einer Pflegeperson, wenn ich weiß, zu mir kommt sie heute, um mich zu waschen. Gestern war sie nebenan dabei, als meine Zimmernachbarin sich das Leben genommen hat. Oder welche Auswirkungen hat das auf die Seelsorge?“ (S. 123) Am Ende will sich Körtner freilich der Notwendigkeit nicht verschließen, mit der Realität des Bedarfs an Suizidhilfe umzugehen. Wenn jemand nicht an einer Krankheit, sondern am Weiterleben leide und wenn jemand gar nicht erst in die Situation palliativmedizinischer Behandlungspflichtigkeit kommen wolle, so sei die Palliativmedizin kein Lösungsangebot; „Kirche, Diakonie und Seelsorge müssen sich dieser Möglichkeit offen stellen.“ (S. 124) Welcher Möglichkeit? Offenkundig, dass unter bestimmten Bedingungen die Selbsttötung doch alternativlos für die Beendigung menschlichen Leidens ist. Hier hätte Körtners Aufsatz und das Buch richtig spannend werden können: intellektuell, praktisch, menschlich. Jedoch endet es, indem mit einem Plädoyer für eine „Kultur der Solidarität mit Sterbewilligen und Sterbenden“ fortgefahren und abgeschlossen wird (Kapitel 9, S. 123–126).
Diskussion
Diese Aufsatzsammlung ist interessant und inhaltsvoll. Sie wird getragen vom hohen Sachverstand seiner Autor:innen. Sie ist informativ und aufschlussreich.
Nicht zuletzt für Menschen, welche vor der Frage stehen, ob sie sich selbst oder Angehörige oder Freunde in die Obhut einer evangelischen Einrichtung geben sollen.
Denn dieses Buch ist – wohl unbeabsichtigt – auch ein Sittengemälde einer Institution. Nur knurrend wird dem Menschen eine Autonomieberechtigung zugestanden; im Vordergrund steht aber die Gefährdung durch Autonomie. Hier bestätigt das Buch durchaus den herrschenden Eindruck von der evangelischen Kirche als einer strukturkonservativen Institution. Einer Institution, die den Kontakt zur Realität zu verlieren droht, zusammen freilich mit anderen Sozialpartnern, der Politik und den Medien. Beim Thema Selbsttötung gönnt man es sich noch einmal, den Menschen ihre „Schuldverstrickung, Fehleranfälligkeit und Verletzlichkeit“ vorzuhalten. Diese defizitorientierte Makel-Anthropologie ist schon seit Jahrzehnten einer der Gründe, warum den Kirchen nach dem Ende von Staatskirchlichkeit und Zwangsmitgliedschaft die Leute davonlaufen.
Hinzu kommt, dass in diesem Buch die Suizidassistenz nachgerade in der Institution Altenheim eingesperrt wird. Das hat diskursgeschichtliche Gründe: Anfang 2021 hatten mehrere EKD-Theologen die Öffnung der kirchlichen Altenheime für die Sterbehilfe gefordert; das erzeugte großen Ärger und bestimmt die Diskussion in der evangelischen Kirche bis zur Gegenwart. Zwar sind Selbsttötungsversuche und Selbsttötungen Teil der Wirklichkeit in den Altenheimen, auch trotz der Sicherheitsvorkehrungen gegen sie. Insgesamt freilich ereignet sich der Großteil der Selbsttötungen und Suizidassistenzen, der Selbsttötungsversuche, Selbsttötungsgedanken und Suizidassistenzwünsche außerhalb der Altenheime.
Zudem ist mittelfristig offen, ob diese Lebenswelt der Altenheime und ihrer Interaktionen der autonomieeingeschränkten, pflegebedürftigen, multimorbiden Bewohnenden und der sie betreuenden multiprofessionellen Teams noch in dem heutigen Umfang zur Verfügung stehen wird. („Pflegenotstand“, bedingt durch pflegerischen Fachkräftemangel, Unfinanzierbarkeit des Leistungsangebotes, fortgeschrittener Attraktivitätsverlust). Vieles spricht dafür, dass die humane Selbsttötung zur Alternative zum Altenheim wird, zur generellen Alternative zu einem Leben ohne hinreichende Lebensqualität. Es ist bedauerlich, dass dieses Buch dies nicht wahrhaben will und nur willkürlich Selbsttötungsmotive erschließt aus einem bedenklich antihumanistisch gefüllten Gottesebenbildlichkeitsbegriff oder den fragwürdigen Behauptungen der medizinischen Suizidprävention.
Eine Folge des Karlsruher Urteils ist, dass in vielen Familien und Freundeskreisen Gespräche über Selbsttötung und Suizidassistenz stattfanden. Vielfach unter dem Motto: „Wenn es so weit ist: ich gehe nicht ins Heim!“ Viele haben es andere wissen lassen, dass ihr Leben mit einer Selbsttötung enden könnte. Verabredungen wurden getroffen, Zusagen eingeholt, Ankündigungen gemacht für den Fall des nicht mehr nur vorübergehenden, sondern zeitlich überdehnten Verlusts hinreichender Lebensqualität. Warum scheint keine:r der Autor:innen dieses Buches etwas davon mitbekommen zu haben?
Viele Menschen werden sich schwerlich als Suizidhilfebedürftige und -abhängige sehen wollen. Sie haben kein Interesse an einer gesetzlichen Professionalierung der humanen Selbsttötung und an einem von Gesetzgeber geschaffenen Marktoligopol. Eine gesetzliche Suizidassistenz, die ihnen die Kontrolle über ihr Lebensende nähme, wäre für sie ein Problem. Schade, dass dies in diesem Buch keine Rolle spielt.
Fazit
Die Aufsatzsammlung „Streitfall Assistierter Suizid: Perspektiven kirchlichen Handelns“ ermöglicht am Beispiel der Suizidassistenz einen informativen Einblick in die Unternehmensphilosophie und -kultur der Diakonie, ihrer Einrichtungen und kirchlichen Trägerorganisationen. Wer professionelle Wege zu Menschen sucht, denen es wichtig ist, einen eigenen Zugang zum Selbsttötungsmedikament oder zu Suizidassistenz zu haben, findet in diesem Buch leider wenig Weiterführendes.
Weiterführende Literatur
P. Brieger, S. Menzel, H. Hamann: Wird die Rolle von psychischen Erkrankungen beim Suizid überbewertet? (7. Dezember 2021) https://doi.org/10.1007/s00103-021-03464-0
Niederländische Reformierte Kirche: Euthanasie. Sinn und Begrenzung medizinischer Behandlung. Pastorale Handreichung (22. Februar 1972)
Traueransprache zur Urnenbeisetzung einer Frau, die sich selbst getötet hat (18. März 2002)
Daniele Dell‘Agli: Aufruhr im Zwischenreich. Essay zu Sterbehilfe und Suizid (26. September 2014 bis 17. Oktober 20014) https://www.perlentaucher.de/essay/aufruhr-im-zwischenreich-teil-1.html?r=print
Rechtlich konform mit Würde sterben. Zwei Leserbriefe an die Süddeutsche Zeitung zum Thema Sterbehilfe (7. Juni 2022): https://www.sueddeutsche.de/kolumne/sterbehilfe-rechtlich-konform-mit-wuerde-sterben-1.5598843
Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
Mailformular
Es gibt 11 Rezensionen von Heribert Wasserberg.
Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 27.06.2022 zu:
Kristina Kühnbaum-Schmidt (Hrsg.): Streitsache Assistierter Suizid. Perspektiven christlichen Handelns. Evangelische Verlagsanstalt
(Leipzig) 2022.
ISBN 978-3-374-07083-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29238.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.