Annemarie Jost: Die Rettung unserer psychischen Gesundheit
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 20.12.2022
Annemarie Jost: Die Rettung unserer psychischen Gesundheit. Wie wir jetzt die Kurve kriegen. Frank & Timme (Berlin) 2022. 272 Seiten. ISBN 978-3-7329-0853-0. D: 19,80 EUR, A: 19,80 EUR, CH: 29,70 sFr.
Thema
Das Buch vermittelt sowohl medizinische Grundlagen zu Corona, Impfung und Maßnahmen des Infektionsschutzes, als auch Techniken im Bereich Psychologie, darunter die Manipulation von Meinungen und das Herbeiführen von Verhaltensweisen (Nudging). Das Buch beinhaltet Vorschläge, die eigene psychische Gesundheit zu bewahren und sich gleichzeitig für ein gelingendes Miteinander einzusetzen.
Autorinnen
Prof. Dr. Annemarie Jost lehrt Sozialpsychiatrie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sie ist Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Coach und Supervisorin.
Aufbau
Das rund 270-seitige Buch gliedert sich nach der Einleitung in 12 Kapitel und schließt mit einem Fazit.
Das Inhaltverzeichnis kann bei der DNB oder unten oben angeführten Link eingesehen werden.
Inhalt
Das Buch widmet sich den psychologischen Aspekten der in der Covid-19-Pandemie verhängten Maßnahmen. Die Autorin geht der Frage nach, inwieweit die Maßnahmen der Jahre 2020/21 unerwünschte Begleitwirkungen hatten und ob diese die Effekte der Maßnahmen ggf. sogar übersteigen. Die Autorin schließt Ihr Einleitung mit „… sehe ich dieses Buch eher als eine Anregung zur Diskussion als eine abschließende Einschätzung und plädiere dafür, dass sowohl Maßnahmenbefürworter*innen als auch Gegner*innen versuchen, die persönliche Position im aktuellen Geschehen zu bestimmen, die eigene emotionale Verfassung wahrzunehmen und mögliche Anreize oder Ausgrenzungsrisiken ihrer eigenen Position zu reflektieren. In Bezug auf die Pandemiemaßnahmen berücksichtigt die Argumentation die Situation bis Ende 2021/Anfang 2022“ (S. 24).
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Pandemie(-maßnahmen) auf die psychische Gesundheit. Zunächst wird der Begriff „psychische Gesundheit“ beschrieben. Die Autorin beschreibt vier Bereiche nicht-körperlicher psychischer Gesundheit:
- Beziehungsaspekt,
- gesellschaftlich-kultureller Rahmen,
- Aspekt der Identität,
- Aspekte persönlicher Sinnfindung (Spiritualität).
Sodann werden Hypothesen über Wirkmechanismen von Auswirkungen der Pandemie(maßnahmen) aufgestellt und systematisiert in die Bereiche „Gesellschaftliche Veränderungen auf der Makro- und Mesoebene“ sowie „Auswirkungen auf die Individuen und Familien“ und das Problem der Potenzierung von „Ausgrenzungs- und Ungleichsdimensionen“ diskutiert.
Das zweite Kapitel widmet sich der Intersektionalität. Dimensionen sozialer Ungleichheit (z.B. Diskriminierungen und ungleiche Machtverteilungen) werden bestimmt und ihre „Verschränkungen“ und das „Aufeinandereinwirken“ werden aufgezeigt. Die Autorin spannt den Bogen über Bourdieu zu partizipativer Forschung und konstatiert: „In der aktuellen Pandemiesituation kann es wissenschaftlichen Blick trüben, wenn man Maßnahmekriter*innen als rechtslastig oder als Verschwörungstheoretiker*innen einsortiert, sodass bestimmte Positionen diffamiert werden und nicht mehr in einen akademischen Diskurs zu passen scheinen.“ (S. 43).
Das dritte Kapitel fokussiert Studien zu psychischen Auswirkungen der Pandemie. Veränderungen von Häufigkeiten und Schweregrade psychischer Störungen während der Corona-Pandemie kann unterschieden werden nach dem Zeitpunkt (z.B. unmittelbare Auswirkungen während der erste Welle, nach den Lockerungen im Sommer 2020 bis hin zu gesundheitliche Auswirkungen von wirtschaftlichen Veränderungen). Die Autorin führt entsprechende Studien an und ergänzt diese um ein selbst durchgeführtes Interview mit einer Mitarbeiterin eines Sozialpsychiatrischen Dienstes sowie ein Fallbeispiel (Altenheimbewohnerin).
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit gesunder Lebensweise im sozialpsychiatrischen Fokus. Die Autorin kritisiert: „Der Fokus gesundheitspolitischer Aufmerksamkeit lag 2020 und 2021 bei Kindern und Jugendlichen erstaunlich wenig auf einer Stärkung des Immunsystems durch Ernährung, Bewegung und angemessene Sonnenexposition, sondern in erster Linie auf Hygieneregeln und Impfungen, obgleich ja gerade für Kinder das Risiko-Nutzen-Verhältnis der Impfungen auch von Expert*innen sehr kritisch bewertet wird (Schlenger 2021).“ (S. 77).
Kapitel 5 diskutiert die Veränderung der strategischen Ausrichtung in der WHO. Jost führt mit der Ottawa-Charta (1986) und dem Setting-Ansatz der 1990er-Jahre in das Kapitel ein. Die Autorin verbindet das Thema „Coronavirus“ sodann mit der „Entwicklung biologischer Waffen“ und schreibt: „Die Health Security Strategien der WHO und ihrer Mitgliederstaaten folgen nicht nur zivilen, sondern in großem Umfang auch militärischen Logiken, die das Verhältnis zwischen einer partizipativen Gesundheitsförderung von unten und zentralisierten, den Einflüssen von Geheimdiensten unterliegenden Maßnahmen zugunsten der letzteren verschieben. Die Logik militärischer Zielsetzungen verträgt sich wenig mit Bevölkerungsbeteiligung und Lebensweltorientierung“ (S. 91).
Kapitel 6 widmet sich dem Thema „Machkonzentration und Verflechtung“. Der Bogen wird gespannt von sozialer Ungleichheit und Diskriminierungsgefahren und der eigenen Möglichkeit der selbstwirksamen Gestaltung von Lebensverhältnissen im Kontext von „global agierende[n] Konzerne[n] und Stiftungen“ und „weltumspannenden Machtverflechtungen“ (S. 95).
Anschließend wird in Kapitel 7 auf Strategien psychologischer Einflusseinnahme eingegangen. Annemarie Jost fokussiert sich auf das Nudging. „Mit diesem Begriff verbindet man eine mehr oder weniger subtile Beeinflussung, die nicht auf Strafen und Verbote, sondern auf Anreize, Propaganda oder Bilder setzt und hierbei gezielt psychologische Erkenntnisse anwendet. Der Begriff stammt aus der Verhaltensökonomie“ (S. 206 f.). Die Autorin führt aus, „wie medial vermittelte psychologische Strategien eingesetzt wurden oder werden, um demokratische Gesellschaften im Hinblick auf Überzeugungen, Einstellungen, emotionalen Bewertungen und Handlungsroutinen zu beeinflussen (…)“ (S. 106). Beispielhaft werden Mitteilungen respektive Darstellungen von Statistiken des RKI und Aussagen von Karl Lauterbach aufgeführt.
In Kapitel 8 werden gesellschaftliche Entwicklungen vor der Pandemie dargelegt, Kapitel 9 widmet sich biotechnologischen Entwicklungen sowie dem mRNA-Impfstoff. Jost geht dabei insbesondere auf die gentechnologische und virologische Forschung ein. Sie kritisiert zum einen, dass die Geldströme primär in diese Bereiche gehen (und nicht in andere gesundheits- bzw. sozialbezogene Sektoren). Zum anderen werden Gefahren der Gentechnik und ethische Standards diskutiert. In Kapitel 10 beschreibt die Autorin „Aspekte der Beeinflussung von psychischer Gesundheit durch Big Data und Künstliche Intelligenz“ (S. 191). Die Speicherung von Gendaten wird ebenso benannt, wie Corona-Warnapps und Abrechungs- und Klassifikationssysteme (ICD, DRGs).
Etwaige Auswege stellt Jost in Kapitel 11 vor. Diese sieht die Autorin darin, „die Selbstverantwortung auf den verschiedenen Ebenen, insbesondere jedoch auf kommunaler Ebene im Setting der Menschen zu stärken.“ (S. 205). Sie führt dazu aus: „Wir kommen in demokratischen Gesellschaften trotz der zunehmenden Komplexität nicht umhin, selbst Verantwortung zu übernehmen und durch Bildung und Erziehung junge Menschen in eine eigene Entwicklung zu begleiten. In Krisen kann diese Eigenständigkeit kurzfristig durch Ver- und Gebote, möglicherweise gepaart mit psychologischer Einflussnahme, begrenzt werden. Die Krise darf aber nicht zum normalen Manipulationszustand werden (…)“ (S. 206). Das Buch schließt mit Handlungsempfehlungen für die Praxis (Kapitel 12). Benannt werden bspw. die Wiederbelebung von Teilhabe, Stärkung von Care-Arbeit, sozialpsychiatrische Weiterentwicklung von Therapien hin zu mehr Bewegungsförderung in der Natur und eine Weiterentwicklung der Sterbekultur (vgl. S. 211 ff.).
Diskussion
Das Buch möchte einen Kurswechsel anstoßen, hin zu „mehr Eigenverantwortung und Teilhabe für den Einzelnen, 'gesündere' Strukturen und eine neue Gesprächskultur für die Gesellschaft“ – so der Klappentext. Kein leichtes Unterfangen bei diesem emotional aufgeladen und wissenschaftlich kontrovers diskutierten Thema.
Der Ansatz von Annemarie Jost ist interessant und bedenkenswert. Soziale und psychologische Faktoren pandemischer (nichtmedikamentöser) Maßnahmen sind zu diskutieren – so z.B. Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche sowie Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheime, auch die Kumulation und Potenzierung von Benachteiligungen im Gesundheits- und Sozialsektor. Dafür leistet das Buch Denkanstöße. Auch wenn ich mit vielen Thesen der Autorin nicht übereinstimme und ich mir an einigen Stellen mehr Systematik bzw. Fokussierung auf das Thema gewünscht hätte- es regt zum diskutieren und (positivem) Streiten an.
Fazit
Das Buch ist für Fachkräfte des Gesundheits- und Sozialwesens geeignet, um sich mit dem Diskurs zu psychosozialen Folgen der Pandemiebekämpfung auseinanderzusetzen. Gerade weil das Buch eine kritische Haltung einnimmt. Nicht immer bleibt der Fokus auf dem spezifischen Thema, sondern „schweift ab“ in einen sehr speziellen gesellschaftlichen Diskurs bzw. Sichtweise, dadurch wird es ein sehr persönliches Buch. Daran kann und sollte man sich reiben – auch das ist von Nutzen für eine entsprechende (gesamtgesellschaftliche) Debatte.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
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Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 20.12.2022 zu:
Annemarie Jost: Die Rettung unserer psychischen Gesundheit. Wie wir jetzt die Kurve kriegen. Frank & Timme
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-7329-0853-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29239.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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