Silke Birgitta Gahleitner, Sandra Wesenberg: Lehrbuch Psychologie in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 15.09.2023
Silke Birgitta Gahleitner, Sandra Wesenberg: Lehrbuch Psychologie in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in psychosoziales Denken und Handeln in klinischen Handlungsfeldern. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 210 Seiten. ISBN 978-3-7799-3914-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Eine neue Einführung in psychosoziales Denken und Handeln in klinischen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit folgt bedeutenden Vorgängern und muss sich an ihnen messen lassen. Als Professorinnen für Soziale Arbeit an der ASH betreten die Autorinnen ein Terrain, das zuerst von Alice Salomon selbst bearbeitet wurde; weitere bedeutende Vorläufer in Deutschland sind etwa Burkhard Müller oder Klaus Mollenhauer.
Autorinnen
Sandra Wesenberg (*1984), Prof. Dr. phil., Dipl. Päd., M.A. Soziale Arbeit, Verhaltenstherapeutin für Kinder und Jugendliche in Ausbildung, ist Gastprofessorin für Klinische Psychologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und hat bisher im Wesentlichen um das Thema „Tiergestützte Arbeit mit alten Menschen“ publiziert; die Arbeit mit Gahleitner ist ihre erste Publikation zu einem so komplexen Thema.
Silke Brigitta Gahleitner (*1966), Prof. Dr. phil., zunächst Studium der Biologie, dann Studium der sozialen Arbeit in Berlin (ASFH), Promotion in klinischer Psychologie (FUB), Habilitation für Erziehungswissenschaften in Dresden, 2005 Professorin in Ludwigshafen (EFHL), lehrt ab 2006 als Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt Psychotherapie und Beratung an der Alice-Salomon-Hochschule-Berlin. 2012 bis 2015 hielt Gahleitner eine Professur für Integrative Therapie und Psychosoziale Interventionen an der Donau-Universität Krems im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit und leitete das Forschungsprojekt „Prävention und Intervention bei Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung“. Gahleitner ist Autorin zahlreicher einschlägiger Fachbücher zu den Themen Trauma und psychosoziale Versorgung und Herausgeberin verschiedener Werke im Bereich Trauma und Mädchenarbeit. Sie hat diverse Projekte der Evaluationsforschung, vor allem im Jugendhilfebereich geleitet. Ihre Ausbildung als Psychotherapeutin erwarb sie in Österreich von 1992 bis 1997, sie war langjährig in eigener Praxis sowie in der sozialtherapeutischen Einrichtung »Myrrha« für traumatisierte Mädchen tätig.
Entstehungshintergrund
Dieser Text der Autorinnen Gahleitner und Wesenberg ist eine Einführung in die psychosoziale Arbeit in klinischen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Exemplarisch bezieht sich die Reflexion der psychosozialen Dynamik auf eine Patientin Gahleitners, die auch Klientin der therapeutischen Mädchenwohngruppe Myrrha war. Mit einem fetalen Alkoholsyndrom geboren, wuchs sie als älteste von drei Geschwistern auf und wurde vom Jugendamt in Obhut genommen, als sie 16 Jahre alt war. Die Strategien der Beziehungsarbeit mit diesem jungen Mädchen sind der Aufhänger für fast alle theoretischen Reflexionen in diesem Buch. Nur wo Alter und Geschlecht nicht passen, wird auf andere Fälle rekurriert. In gewisser Hinsicht handelt es sich auch um eine Einführung in Silke Brigitta Gahleitners berufliche Biografie und Identität.
Aufbau und Inhalt
Der Text ist in 16 Lehreinheiten gegliedert:
Lehreinheit 1. Psychosoziale Denken und Handeln – ein erster Eindruck.
1.1. Einführung (S. 10–12)
1.2. Nathalie – Ein Fallbeispiel aus der Praxis (S. 13–15)
Der Musterfall Nathalie beschreibt die Geschichte einer Jugendlichen, die mit 16 ihr Schweigen brach und gegenüber der Jugendhilfe ihre jahrelangen traumatischen Erfahrungen offenbarte, die mit einem alkoholabhängigen Vater zusammenhingen und einer Mutter, die zu schwach war, ihre Kinder angemessen zu schützen. Von der Jugendhilfe wurde sie in eine therapeutische Wohngemeinschaft eingewiesen („Myrrha“ [1]). Dort erfährt Nathalie umfangreiche sozialtherapeutische Unterstützung, die mehr ist als soziale Arbeit plus Psychotherapie. Tatsächlich findet die Therapie weitgehend durch ihre lebensweltliche Bezugsperson im Team statt, gleichzeitig wird Nathalie durch weitere Teammitglieder unterstützt bei ihren alltagsbezogenen Aufgaben, aber auch beim Schulbesuch etc. Im Ergebnis gelingt es der jungen Frau, sich erheblich zu stabilisieren. Obwohl sie die Schule ohne Abschluss verlässt, absolviert sie im Anschluss eine Ausbildung im Rehakontext, und es gelingt ihr nicht-gewaltförmige Beziehungsgestaltung in den ersten eigenen Partnerschaften.
Lehreinheit 2 - 4
Entwicklung und Sozialisation psychosozial betrachtet (S. 18–30)
2. Zentrale Modelle und Befunde der Entwicklungspsychologie und deren Bedeutung für Soziale Arbeit
3. Über Bindung als Grundbedürfnis und über Bindung hinaus
In diesem Kapitel beschreibt Gahleitner auch ihr Konzept von einem therapeutischem Milieu, das sich an Aichhorn, Redl und Bettelheim anlehnt und so explizit aus dem psychoanalytischen Kontext stammt. Milieutherapie sieht sie als die eigentliche konzeptuelle Basis für therapeutische Wohngruppen (Was passiert in den 23 Tagesstunden außerhalb der Psychotherapiestunde?). Dem ist unbedingt zuzustimmen; an anderer Stelle hat die Autorin ihre Vorstellungen expliziter herausgearbeitet (Gahleitner, 2021).
4. Lebenswege, Lebenschancen, Lebenskrisen – die Bedeutung biographischen Verstehens für die Soziale Arbeit
Hier werden, fußend vor allem auf die im Vorkapitel genauer dargestellte Bindungstheorie John Bowlbys, ausführlich Erich H. Eriksons Modelle der lebenslänglichen Identitätsentwicklung und die Konzepte seiner zeitgenössischen Nachfolger beschrieben (etwa Heiner Keupp). Indem sich die Autorinnen auf psychodynamische Entwicklungs- und Sozialisationskonzepte konzentrieren, zeigen sie ihre subjektwissenschaftliche Orientierung, die anders als die akademische Entwicklungspsychologie nicht nomothetisch vorgeht, sondern an biographische Erfahrungen anknüpft.
Lehreinheit 5- 6
5. Diagnostisches Fallverstehen am Beispiel Nathalie (S. 54–69)
6. Psychosoziale Interventionen am Beispiel Nathalie (S. 70–83)
Hier wird nun exemplarisch ausbuchstabiert, welche Konsequenzen die dargestellten Befunde für den Einzelfall bedeuten. Das zentrale Anliegen psychosozialer Konzepte ist Ausformulierung und Integration der unterschiedlichen Perspektiven im Team vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Klientin allein dazu nicht in der Lage ist, weil ihr emotionales Integrationsniveau (auch strukturelles Niveau genannt) fragmentiert sei. Dadurch ist die individuelle Entwicklung in einer solchen Einrichtung vor allem davon abhängig, ob es dem Team gelingt, Spaltungen zu vermeiden und einen emotionalen Raum zur Verfügung zu stellen, der als Container funktioniert (vgl. Bion, 1997). Das ist alles andere als banal, weil die Klientin im Regelfall unbewusst alles daransetzt, ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen im Hier und Jetzt zu reinszenieren und somit diesen Raum zu zerstören (vgl. Wiederholungszwang).
Lehreinheit 7 - 12
7. Kategoriale Diagnostik psychischer Erkrankungen – ICD und DSM
Dieses Kapitel gibt einen Einblick in deskriptive Diagnostik, wie sie den Klassifikationssystemen ICD und DSM zugrunde liegt; die Autorinnen arbeiten heraus, dass dieser Fokus für gelingende soziale Arbeit hoch problematisch ist. Ihnen geht es nicht um kategoriale Diagnostik, die vor allem die Funktion hat, mit einer hohen Interrater-Reliabilität verschiedene Symptomatiken zu Störungsbildern zu differenzieren, sondern um eine verstehende Diagnostik der biografischen Verletzungen des Subjekts. In den folgenden Unterkapiteln wird jeweils versucht, für verschiedene „Krankheitsbilder“ eine biographische Perspektive zu konstruieren. Wir können annehmen, dass es sich um anonymisierte Fälle aus der Praxis handelt.
8 Zum Beispiel Trauma (S. 94–101)
9. Zum Beispiel Depression (S. 102–110)
10. Zum Beispiel Borderline-Persönlichkeitsstörung (111–118)
11. Zum Beispiel ADHS (S. 119–127)
12. Zum Beispiel Demenz (S. 128–137)
Lehreinheit 13 – 16
Psychosoziale Interventionen gestalten
In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Grundorientierungen psychosozialen Fallverstehens dargestellt und relativ differenziert untersucht. Ressourcen und Defizite der unterschiedlichen Verstehensperspektiven werden sichtbar. Da sich die Grundverständnisse nicht im Feld der Sozialen Arbeit entwickelt haben, sondern im wesentlich stärker professionalisierten Feld der Psychotherapie bzw. der Psychiatrie, ist die Übertragung aller Konzepte auf das psychosoziale Feld mit kategorialen Problemen verbunden, die sich nicht leicht überwinden lassen, wie schon einer der frühesten Theoretiker dieses Feldes Siegfried Bernfeld (1925, 1929) erkannt hat.
13 Psychoanalytische Grundorientierung (S. 140–149)
14 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Grundorientierung (S. 150–159)
15 Humanistische Grundorientierung (S. 160–168)
16 Systemische Grundorientierung (S. 169–178)
Es folgen ein „Schluss und Ausblick“ sowie ein „Literaturverzeichnis“.
Diskussion
Die grundlegende Problematik des Werks zeigt sich auf S. 142, in der kritisch auf die Sichtweise älterer Kolleg*innen verwiesen, die der heutigen Studierendengeneration vorwerfen würden, die Dialektik der Aufklärung nicht zu kennen (Horkheimer/Adorno, 1947), aber selbst nicht bemerken würden, ‚dass sich bei der heutigen Generation neue Formen kritischen Bewusstseins zu Fragen der Globalisierung und Sozialität herausgebildet haben und den Umgang mit Mensch, Tier, Umwelt und Politik prägen‘. Dem ist natürlich nichts zu entgegnen; gleichzeitig handelt es sich aber eben auch eine Form identitätspolitischer Verwirrung [2], denn der Verlust des Wissens um repressive Prozesse der Aneignung ist nicht durch die Kenntnis der Massenkultur der Gegenwart zu kompensieren. Tatsächlich halte ich die Nichtberücksichtigung der Kritischen Theorie für das gravierendste Defizit des Buchs. Vielleicht ist nicht die Erfahrung von Horkheimer und Adorno mit dem Nationalsozialismus das Entscheidende. Aber Jürgen Habermas’ (1981) Auseinandersetzung um System und Lebenswelt sind für die soziale Arbeit essentiell, will sie eine gesellschaftskritische Soziale Arbeit sein. Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System ist m.E. ein zentrales Thema der Sozialen Arbeit. Sie vermag etwa aufzuzeigen, warum die Ökonomisierung des Sozialen in wettbewerbsförmig agierende Akteure nicht allein eine Frucht neoliberaler Ideologie ist, sondern zutiefst mit der kapitalistischen Gesellschaft als solcher verbunden. Der subjektorientierte, lehrreiche und anschauliche Text wurde in der Tradition postmoderner Beliebigkeit um die notwendige Gesellschaftskritik entkernt.
Fazit
Das vorliegende Lehrbuch Psychologie der Sozialen Arbeit ist eine praktische Einführung, die für Studierende, aber auch für Mitarbeitende der Sozialverwaltung insbesondere in Jugendämtern zu empfehlen ist. Schmerzlich vermisst habe ich den m.E. notwendigen Kontext der Kritischen Theorie – Autoren wie Siegfried Bernfeld oder Klaus Mollenhauer oder etwa der viel zitierte Heiner Keupp könnten als historische Vorläufer von Silke Brigitta Gahleitner gelten und waren sich dieser Dialektik noch sicher.
Literaturverzeichnis
Bernfeld, Siegfried (1925):Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925; Neudruck: Suhrkamp, Frankfurt/M. 1967
Siegfried Bernfeld (1929/1992):Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik, Frankfurt: Suhrkamp
Bion, Wilfred (1992): Lernen durch Erfahrung Frankfurt: Suhrkamp
Gahleitner, Silke Brigitta Das pädagogisch therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trauma und Beziehungsarbeit (3. aktual. Auflage) Köln: Psychiatrie-Verlag
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Horkheimer, Max & Theodor W. Adorno (1947/1969): Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt: Suhrkamp
Keupp, Heiner & Manfred Zaumseil (Hrsg.1978): Die gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens. Frankfurt: Suhrkamp
Klaus Mollenhauer, Uwe Uhlendorf (1 992): Sozialpädagogische Diagnosen 1: Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen, Weinheim und München: Juventa
Burkhard Müller (2006): Sozialpädagogische Diagnose in: Michael Galuske und Werner Thole: Vom Fall zum Management, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Burkhard Müller (2012): Sozialpädagogisches Können, überarbeitete und erweiterte 7. Auflage, Freiburg i. B.: Lambertus
Salomon, Alice (1926): Soziale Diagnose. Die Wohlfahrtspflege in Einzeldarstellungen, Band 3. Berlin: Carl Heymann Verlag
Salomon, Alice mit Siddy Wronsky (1926): Soziale Therapie. Ausgewählte Akten aus der Fürsorgearbeit, Berlin: Carl Heymann Verlag
Wesenberg, Sandra (2020): Tiere in der Sozialen Arbeit. Mensch-Tier-Beziehungen und tiergestützte Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer
[1] Myrrha (altgriechisch Μύῤῥα Myrrha, deutsch ‚Saft der Myrte‘), auch Smyrna, ist eine Gestalt der griechischen Mythologie. Sie ist die Mutter von Adonis. Es existieren verschiedene Versionen der Geburt von Adonis: In einer Version, die in Fabel 58 des Hyginus Mythographus überliefert ist, rühmte sich Kenchreis, die Frau des Königs Kinyras von Assyrien, dass ihre Tochter schöner als Aphrodite sei. Um die Mutter zu bestrafen, ließ Aphrodite die Tochter sich in ihren Vater verlieben, der, von der Göttin verführt, mit der Tochter Adonis zeugt. Daraufhin will Kinyras sie töten. Aus Mitleid verwandelt Aphrodite Smyrna in einen Myrrhebaum‘ („Wikipedia“).
[2] Der materiellen und emotionalen Ausbeutung aller Ressourcen zur Erziehlung maximaler Profite ist weder durch Veganismus noch durch die Benutzung „gendergerechter“ Sprache beizukommen.
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 15.09.2023 zu:
Silke Birgitta Gahleitner, Sandra Wesenberg: Lehrbuch Psychologie in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in psychosoziales Denken und Handeln in klinischen Handlungsfeldern. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-3914-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29244.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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