Anna Katharina Mehlhorn: Impulskontrolle bei Jugendlichen
Rezensiert von Tatjana van de Kamp, 26.10.2023
Anna Katharina Mehlhorn: Impulskontrolle bei Jugendlichen. VollControl - Training für Psychotherapie, Beratung und Schule.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2022.
196 Seiten.
ISBN 978-3-621-28884-2.
D: 42,95 EUR,
A: 44,40 EUR.
Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial.
Thema
Impulsives Verhalten oder mangelnde Impulskontrolle gehört zu den externalisierenden Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter und tritt häufig in Verbindung mit ADHS, oppositionellem Trotzverhalten oder sozialer Verhaltensstörung auf. Da die Verhaltensweisen und Störungen dimensional zu sehen sind (nicht alle Jugendliche sind in gleichem Maße gleich auffällig impulsiv in ihrem Verhalten) und sich über die Zeit entwickeln, ist frühe Prävention oder Intervention sehr hilfreich, um ungünstige Entwicklungen und dysfunktionale Denk- und Handlungsschemata frühzeitig zu durchbrechen. Anna Katharina Mehlhorn beschreibt mit VollControl ein solches Programm mit flankierenden Maßnahmen sowie diagnostische Fragebögen für Pädagogen, Psychologen und Lehrkräfte, die früh auffällig impulsives Verhalten bemerken und intervenieren möchten.
Autorin
Anna Katharina Mehlhorn ist Sonderpädagogin und Lehrerin mit den Schwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung, Autismus und Lernen in Berlin. Die Inklusion benachteiligter Kinder liegt ihr besonders am Herzen. Schon im Studium an der Universität Leipzig begann sie, Ideen zur Förderung der Impulskontrolle von Jugendlichen zu entwickeln und wissenschaftlich zu evaluieren.
Aufbau
Das Buch beginnt mit einem kurzen und knappen Hintergrund zum Jugendalter sowie dem Erscheinungsbild und Erklärungsansätzen zu alterstypischen Defiziten der Impulskontrolle. Im zweiten Teil wird das VollControl Training zur Impulskontrolle bei Jugendlichen bezüglich Theorie, Aufbau, Kontext, Evaluation und Materialen beschrieben. Sämtliche Materialen finden sich im Anhang sowie im PDF-Format im E-Book, das mit Kauf des Buches über einen Downloadcode zugänglich ist. Die Materialien bestehen aus dem Arbeitsheft VollControl, das durch das Training begleitet, sowie mehreren Arbeitsblättern für Trainer, Jugendliche und Eltern zu bestimmten begleitenden oder ergänzenden Themen und zur Diagnostik. Im Anhang findet man auch den detaillierten Übersichtsplan und die Anleitung zum Training. Die dazugehörige Control-IT Website bietet eine digitale Version der Arbeitsmaterialen als Alternative zum analogen Arbeitsheft oder für die Arbeit im Klassenverband.
Inhalt
Im Jugendalter finden neurobiologische Reifungsprozesse statt, und die Jugendlichen stehen vor Entwicklungsaufgaben, die Anpassungsleistungen und sozial-emotionale Ressourcen erfordern. Dies geht oft einher mit Unsicherheiten oder Ängsten sowie einer fehlenden Einschätzung der eigenen Grenzen oder Folgen des eigenen Verhaltens, was sich in impulsivem Verhalten äußern kann. Inwieweit impulsives Verhalten auffällig oder klinisch relevant bzw. chronisch wird, hängt unter anderem von der Selbstwirksamkeit der Jugendlichen ab und davon, wie gut sie Konflikte und Probleme bewältigen können. Im schlimmsten Fall kommt es zu klinisch relevanten Impulskontrollstörungen, Störungen des oppositionellen Trotzverhaltens oder des Sozialverhaltens. Frühe Interventionen sind dann nach eingehender Diagnostik sinnvoll, um den Jugendlichen funktionale Lösungs- und Bewältigungsstrategien an die Hand zu geben.
VollControl kann als Präventions- oder Interventionsmaßnahme durchgeführt werden und ist als Einzelförderung mit vier wöchentlichen Sitzungen à 45 Minuten ausgelegt, könnte aber auch als Präventivprogramm in kleinen Gruppen eingesetzt werden. Es soll unkompliziert Jugendlichen zwischen 10 und 16 Jahren mit Impulskontrollschwierigkeiten dabei helfen, ihr impulsives Verhalten zu reflektieren und zu lernen, persönliche Strategien zur Handlungskontrolle einzusetzen und so ihre Impulse besser regulieren zu können. Damit die Intervention erfolgreich ist, sollten die Jugendlichen grundlegende Kompetenzen der Lese-, Schreib- und Wahrnehmungsfähigkeit mitbringen, sowie ansatzweise in der Lage sein, sich selbst zu reflektieren. Die Durchführung sollte durch psychologisch und pädagogisch qualifiziertes Personal erfolgen.
Das VollControl-Programm adaptiert das „Training mit aggressiven Kindern“ von Petermann und Petermann (2012) für das Jugendalter. Das Training basiert auf Prinzipien der Entscheidungskontrolle, Lerntheorie sowie kognitiven, konstruktivistischen und systemischen Ansätzen. Es setzt auf die Elemente Selbstverstärkung, Selbstwirksamkeit, Selbstreflexion und Selbstzielsetzung. Als Strategie dient vor allem die Selbstverbalisationstechnik und Selbstinstruktion, d.h. an sich selbst gerichtete verbale Anweisungen und Handlungssteuerungen. Dafür kommen kreative ControlCards, die zum Innehalten motivieren, sowie Techniken wie Rückwärtszählen, Songs oder Raps im Kopf wiederholen und Atemtechniken zum Einsatz. Vorbereitend dazu werden Übungen zur Selbstbeobachtung und realistischen Wahrnehmung angeleitet. Als Vorbild dient der Modellcharakter John, der selbst impulsives Verhalten zeigt, jedoch Strategien zur Bewältigung gelernt hat und mit den Jugendlichen darüber chattet. Weitere Elemente des Trainings sind Ressourcenaktivierung, Win-Win-Denken, positives Denken und konkrete Bezüge zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen für eine bessere Übertragung in den Alltag.
Das Training umfasst vier Einheiten sowie begleitende motivationssteigernde Maßnahmen und eine Weiterarbeit nach dem Training.
Am Anfang jeder Sitzung reflektieren die Jugendlichen die letzte Woche, schätzen ihre momentane Gefühlslage auf einer Befindlichkeitsskala ein und bewerten ihre Zielerreichung. An Ende der Stunde reflektieren sie in Form eines Tagesbucheintrags den Lernprozess und legen die Ziele für die kommende Woche fest.
- Einheit 1: ControlSTART dient dem Einstieg in das Thema Impulskontrolle, deren Bedeutung und die Notwendigkeit für die Prävention oder Intervention. Mithilfe des Modellcharakters John und dem Rapsong VollControl werden Auslöser für impulsives Verhalten identifiziert und die Wahrnehmung bzw. Selbstbeobachtung eigener Auslöser und Reaktionen geübt.
- Einheit 2: ControlER verdeutlicht Handlungsabläufe, die zu Konflikten führen können, sowie alternative Handlungsmöglichkeiten und übt die Handhabung der ControlCards zur Selbstverbalisierung.
- Einheit 3: ControlGAS verstärkt das Impuls-Hemmungspotenzial durch Übung der Selbstverbalisierung und weiterer Strategien.
- Einheit 4: ControlGo macht die Wirksamkeit des eigenen Handelns bewusst und regt die Reflexion über deren Folgen und Konsequenzen für sich und andere an. Mit einer Zusammenfassung des Gelernten sowie der Bekräftigung und Selbstverstärkung der Selbstwirksamkeit endet das Training.
- Um während der Maßnahme die Motivation aufrecht zu erhalten oder zu steigern, empfiehlt die Autorin, an persönliche Interessen anzuknüpfen und bewährte Motivationsstrategien gezielt einzusetzen.
- Auch nach dem Training ist es ratsam die Jugendlichen weiter zu begleiten, mit täglichen Routinen, Erinnerungshinweisen, klaren Strukturen und weiterem Zusatzmaterial, um die gelernten Strategien zu vertiefen. Hierzu ist vor allem die Einbeziehung des Umfelds sehr wichtig, da Umweltfaktoren entscheidend zur Aufrechterhaltung, Verstärkung oder Abmilderung von impulsivem Verhalten beitragen können.
Der Transfer in den Alltag kann nur gelingen, wenn die Jugendlichen sich in einem förderlichen System bewegen. Dabei geht es um die Zusammenarbeit mit Eltern oder Sorgeberechtigten ebenso wie um die Schaffung eines förderlichen Freizeit- und sozialen Kontextes, der auch die Ressourcen und Interessen der Jugendlichen mitberücksichtigt, zum Beispiel durch die Anmeldung in einem Verein oder Club, Entspannungsmöglichkeiten (Sport, Musik, Kunst) sowie um die Unterstützung bei der Integration in ein soziales Umfeld. Idealerweise kommt es hier zu einer multiprofessionellen Zusammenarbeit verschiedener Bereiche.
VollControl greift viele Bestandteile bestehender Programme auf, die bereits getestet und evaluiert wurden. Auch für das VollControl Programm wurde eine Wirksamkeitsstudie mit 30 Teilnehmern durchgeführt. Vor und nach dem Training sowie vier Monate danach wurden in der Teilnehmer- und einer Kontrollgruppe auf Lehrer- und Schülereinschätzlisten sowie einer Checkliste zur Impulsivität verschiedene Skalen erhoben und zwischen Messzeitpunkten sowie zwischen den Gruppen verglichen. Langfristig, nach vier Monaten, verbesserten sich die Impuls-Skalenwerte signifikant mit einer Effektstärke von d=0.51. Auch auf den meisten Skalen der Einschätzlisten konnten signifikante Verbesserungen erzielt werden, und die Testgruppe schnitt besser ab als die Kontrollgruppe ohne Intervention im gleichen Zeitraum.
In Kapitel 10 bietet die Autorin Anregungen für Lehrkräfte, um VollControl-Elemente zur Impulskontrolle unterrichtsbegleitend zu integrieren und beschreibt einen Pilotversuch, VollControl als eigenes Unterrichtsfach mit 8 Modulen zu etablieren. Im letzten Kapitel werden Sport und Spiel, Musik/​Kunst/​Theater, wertschätzende und gewaltfreie Kommunikation sowie Entspannung und Entlastung als weitere Einflussmöglichkeiten auf Impulskontrolle vorgestellt. Das allerletzte Kapitel beschreibt die Materialien im Anhang.
Diskussion
VollControl ist ein theoretisch fundiertes und empirisch evaluiertes Präventions- und Interventionsprogramm speziell für Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, ihre Impulse wirksam zu kontrollieren. In ihrem Buch geht Anna Katharina Mehlhorn über die vier Interventionseinheiten hinaus und bietet für Pädagogen, Psychologen und andere Fachkräfte, die mit Jugendlichen zu tun haben, eine Fülle an Strategien, Techniken und Ideen zum Umgang mit impulsiven Jugendlichen. Besonders detailliert sind das Trainingsprogramm mit vier Einzel- oder Gruppeneinheiten sowie das Pilotprojekt zu VollControl in der Schule beschrieben, sodass interessierte Fachkräfte hier eine brauchbare Ausgangsbasis für präventive Maßnahmen finden können.
Der Aufbau des Buches ist übersichtlich mit kurzen Kapiteln und überschaubarer Theorie. Da sich Details, Techniken, Strategien und Materialen für das Training über mehrere Kapitel und durch den Anhang verteilen, kann es hilfreich sein, das Buch vor Gebrauch quer zu blättern und sich früh im Anhang zu orientieren. Einen kurzen Überblick zum Anhang und zur begleitenden Website gibt auch Kapitel 12. Leider ist der Zugang zur Control-IT Website mit den Materialien zur Reflexion über die üblichen Browser nicht sicher – es wäre wünschenswert, hier eine sichere Website zur Verfügung zu stellen.
Ansonsten ist das Buch sehr zugänglich und mit genügend, aber nicht zu vielen theoretischen Details geschrieben und bietet pädagogischen Kräften eine wertvolle Ressource mit vielen Ideen und Materialen zu Umgang, Prävention und Intervention bei Jugendlichen mit impulsivem Verhalten.
Fazit
Anna Katharina Mehlhorn hat ein Präventions- und Interventionsprogramm konzipiert, mit dem pädagogische oder psychologische Fachkräfte Jugendlichen mit Schwierigkeiten in der Impulskontrolle in vier 45-minütigen Einheiten sowie mit vielen begleitenden oder ergänzenden Maßnahmen helfen können, Selbstwahrnehmungs- und Lösungsstrategien zur Impulskontrolle an die Hand zu geben und so die Selbstwirksamkeit und Regulation ihres Handelns zu stärken.
Litartur
Petermann, F. & Petermann, U. (2012). Training mit aggressiven Kindern (13. Aufl.) Weinheim: Beltz.
Rezension von
Tatjana van de Kamp
Dipl. Kauffr., MA (Arbeits- und Organisationspsychologie)
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Zitiervorschlag
Tatjana van de Kamp. Rezension vom 26.10.2023 zu:
Anna Katharina Mehlhorn: Impulskontrolle bei Jugendlichen. VollControl - Training für Psychotherapie, Beratung und Schule. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2022.
ISBN 978-3-621-28884-2.
Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29248.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
Urheberrecht
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