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Jutta Ecarius, Ronnie Oliveras (Hrsg.): Qualitatives Forschen in der Erziehungs­wissenschaft

Rezensiert von Prof Dr. (em.) Frank Schulz-Nieswandt, 24.06.2025

Cover Jutta Ecarius, Ronnie Oliveras (Hrsg.): Qualitatives Forschen in der Erziehungs­wissenschaft ISBN 978-3-8474-2561-8

Jutta Ecarius, Ronnie Oliveras (Hrsg.): Qualitatives Forschen in der Erziehungswissenschaft. Prozesse und Vielfalt der rekonstruktiven Erkenntnisgewinnung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2022. 220 Seiten. ISBN 978-3-8474-2561-8. D: 26,90 EUR, A: 27,70 EUR.

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Thema

Das Thema der vorliegenden Publikation ist, wie der Titel anzeigt, das „qualitative Forschen“. Der Artikel „das“ als Begleiter des Nomens „Forschen“ als substantiviertes Verb mit dem prädikativen Adjektiv „qualitative“ ist das Thema: Welche Modi des epistemischen Forschens sind in welcher Weise zu problematisieren? Im Zentrum der Analysen und Diskussionen der Beiträge steht somit, um es in eigener Sprache zu fassen, die »Logik« »der« qualitativen Sozialforschung.

Mit »Logik« ist zweierlei gemeint: (1) Die Grammatik der Regeln der methodischen Vorgehenswesen, also die Methodologie, aber (2) auch die Klärung der epistemologischen Hintergründe der Methodologien.

Die Pluralisierung der Methodologie verweist auf die im Untertitel angezeigte „Vielfalt“ in diesem von deutlichen Kontroversen geprägten Feld. Ein Anliegen mag daher die Frage nach der Möglichkeit einer Einheit des Feldes der qualitativen Sozialforschung sein, verankert in einem Wesenskern, trotz der Heterogenität in der Art und Weise, die sodann kohärent darzulegen wäre. Folglich betont der Untertitel die Kategorie der „Prozesse“ des Forschens mit Blick auf die Idee einer korrelativen Mitte der Art und Weise der qualitativen Forschungslogik einerseits und – was man auch als Gegenstandsadäquanz bezeichnen kann – dem Prozesscharakter der Praxis des Gegenstandes andererseits. Inwieweit dies in spezifischer Weise mit dem Gegenstandsfeld der Erziehungswissenschaft zu tun hat oder haben könnte, wird noch am Ende der Rezension anzusprechen sein.

Das Buch als bunte und dennoch einen roten Faden in der Gewebestruktur aufweisende, allerdings angesichts der vielen Aspekte schwer zu gliedernde Beitragssammlung stellt also den Versuch einer Klärung des Feldes zwischen Einheit und Vielfalt dar. Einheitsstiftend ist – wie wiederum der Untertitel anzeigt – die „rekonstruktive Erkenntnisgewinnung“. Diese »re-konstruktive« Logik wird konstitutiv den epistemologischen Orientierungsfaden in dem Durchgang (mitunter ist von „Streifzügen“ die Rede) des heterogenen Feldes in den verschiedenen Beiträgen darstellen. Ich würde von instruktiven, weil orientierenden Sichtungen des in vielerlei Hinsicht klärenden, aber auch problematisierbaren Buches sprechen.

Herausgeber:innen

Der Band ist herausgegeben von Jutta Ecarius und Ronnie Oliveras von der Universität zu Köln, dort angesiedelt am Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Humanwissenschaftlichen Fakultät. Die weiteren Autor:innen aus verschiedenen Universitäten sind im „Autor*innenverzeichnis“ (S. 205) aufgeführt. Insgesamt erkennt man, wie Erziehungswissenschaften und qualitative Sozialforschung disziplinär zusammenkommen.

Entstehungshintergrund

Dem „Vorwort“ ist zu entnehmen, dass der Band anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der jährlichen „Summer School Qualitative Forschung“ an der Universität zu Köln erscheint. (S. 7).

Aufbau und Inhalt

Nach dem Vorwort (S. 7–9), das zugleich die Funktionalität einer Einleitung hat, folgen zwei Beiträge, die die „aktuelle Entwicklung“ skizzieren sollen. Beide Beiträge sind deutlich verschiedener Art.

Ingrid Mieth (S. 31 ff.) leistet einen Überblick über die Landschaft der Forschungsethik in eher allgemeiner Perspektive (S. 31 ff.), während Jörg Strübing (S. 13 ff.) eher einen eigentlichen grundierenden Einleitungscharakter hat, weil er den positionierenden roten Faden, von dem ich soeben andeutend gesprochen habe, des Sammelbandes expliziert: (1) die Fokussierung auf die »rekonstruktive« Sozialforschung und (2) die Fokussierung auf die prozessualen Kriterien der guten, eben auch epistemisch durchdachten Qualität qualitativer Sozialforschung in kommunikativer und Theorie-sensibler Selbstreflexion.

Die Methode der Inhaltsanalysen fällt dabei heraus, weil sie als eher quantitativ standardisierte subsumtionslogische Analyse eingestuft wird. Sie taucht auch nur noch einmal auf, nämlich als integrierter Methodenbaustein in den Designs von Diskursanalysen (vgl. weiter unten).

So umfasst der zweite und umfänglichste Teil (mit 5 Beiträgen) des Sammelbandes mit Bezug auf „Spurensuche und Erkenntnis“ die Logik (1) der Objektiven Hermeneutik, (2) der Dokumentarischen Methode und (3) der Formen der Grounded Theory, die wiederum sich nicht nur hinsichtlich der Kodierungspraxis in verschieden Strömungen differenziert, sondern auch hinsichtlich der epistemologischen Orientierungen.

Anja Schierbaum skizziert (1) die Logik der Rekonstruktion von Sinnkonstruktionen von Ausdrucksgestalten (S. 59 ff.).

Ein Beitrag zum Theorem der Spurensuche im Kontext erziehungswissenschaftlicher Analysen zur Fallkonstruktion wird (2) von Merle Hummrich (S. 79 ff.) vorgelegt.

Ein grundlegender Beitrag zur theoretisch sensibilisierten Forschung in der Grounded Theory-Praxis wird (3) von Claudia Equit und Tessa-Marie Menzel (S. 99 ff.) entfaltet.

Ein ebenso grundlegender Beitrag zur rekonstruktiven Forschung im zeitsensiblen Längsschnitt bringt (4) Sina-Mareen Köhler in den Sammelband ein.

Und von Ronnie Oliveras können wir (5) eine Darlegung zur „metaphernanalytischen Ergänzung narrativer Verfahren“ im thematischen Kontext von subjektiven Deutungsmustern in familialen sozialen Beziehungen (S. 143 ff.) lesen.

Wichtig scheint mir folgende Kernaussage zu sein: Qualitative Forschung ohne Theoriebezug sei „absurd“ (S. 17). Da möchte ich überaus explizit zustimmen. Dennoch ist die Postulat-Formulierung „Theoretische Empirie statt Empirismus“ (S. 16) durchaus stärker erklärungsbedürftig als es bei Jörg Strübing dargelegt wird. Die Kritik richtet sich dort eher an Varianten der Grounded Theory (vgl. auch im Beitrag von Equit und Menzel: S. 99 ff.), weniger in Bezug auf die Objektive Hermeneutik und in Bezug auf die Dokumentarische Methode. Diese drei Richtungen machen in der Beitragssammlung den erkennbaren roten Bezugsfaden aus.

Im dritten und letzten Abschnitt finden wir zwei Abhandlungen einerseits zur Diskursanalyse im Kontext von Diskurstheorien und Diskursforschung von Steffen Großkopf (S. 163 ff.) und von Thomas Fuchs zu drei Formen von Lösungsansätzen zur Geltungsproblematik (vor dem Hintergrund einer Klärungs-Diskurs-Bedürftigkeitsdynamik) als „Streifzüge durch die Untiefen der »Methodisierung« der Geltungsproblematik in qualitativ-erziehungswissenschaftlichen Forschungsprozessen“.

Diskussion

Mit Fokus auf die rekonstruktive Logik des qualitativen Forschens wird ein Feld problematisiert, dass oftmals nicht nur Studierende verwirrt und mitunter desorientiert oder gar verzweifelt zurücklässt, vorausgesetzt, Studierende geben sich nicht damit zufrieden, handwerklich etwas gut zu tun, dabei aber nicht verstehen, was sie in diesem »Wie« tun, und wie das »Wie« epistemologisch codiert wird.

Insofern ist das Buch nur am Rande – eher exemplarisch – eine Darlegung handwerklicher Methoden, sondern verbleibt auf einer objekttheoretisch gebundenen Ebene der Epistemologie der Methodologie der Vielfalt der Modi des Tuns.

Genau dies macht den vorliegenden Sammelband so wertvoll, weil unreflektiertes Tun sehr verbreitet ist, wobei die mangelnde Reflexion nicht die konkrete Durchführung des handwerklichen Tuns meint. Gemeint ist vielmehr, dass die Notwendigkeit einer epistemologischen Selbstreflexion von Schulen oder Richtungen des qualitativen Forschens verhandelt werden muss.

Die Epistemologie betrifft dabei das Weltverhältnis der Forschungslogik, damit auch (1) die ontologischen Grundlagen des Gegenstandes wie auch (2) die Ontologie des forschenden Subjekts (zwischen cartesianischen Dualismus einerseits und einer responsiven Phänomenologie des »Immer-schon-in-der-Welt-stehenden/eingebetteten-Seins« des Subjekts und dessen Könnens in der »Vorgängigkeit des Immer-schon-Gegeben-Seins« der Welt andererseits).

Das epistemische Können, um es in der Sprache meiner eigenen epistemologischen Position zu fassen, des durchaus kreativen Subjekts hat dabei den Status einer »aktiven Passivität« angesichts der Vorgängigkeit des Objekts, woraus überhaupt erst der »re-konstruktive« Charakter der Forschungslogik erkennbar und verstehbar wird. Das Subjekt der Forschung ist dabei also durchaus kreativ und die Forschung hat eine konstruktive Dimension, denn das »Ding an sich«, um an Immanuel Kant anzuknüpfen, haben wir nicht a priori, denn sonst wäre des Subjekt mit dem Objekt als eine kosmische Einheit ohne Differenz des Getrennt-Seins zu verstehen. Doch dann gäbe es – vgl. weiter unten – keinerlei symbolische Formen der Erkenntnis. Jedoch ist dies kein reiner oder radikaler Konstruktivismus, sondern ein »rekonstruktiver Realismus«.

Wenn die vorliegende Publikation dies auch nicht in eben dieser Tiefe und Dichte expliziert, so doch hinreichend in einer Weise, dass deutlich wird, wohin uns der Anlass des Sammelbandes führt, wenn man (1) das Motiv als Absicht und (2) das Ziel als Legitimationsgrund – denn Publikationen (Einführungen, Handbücher, Lehrbücher) über qualitatives Forschen (in Soziologie, Psychologie, Geographie, Ethnologie, Bildungswissenschaften etc.: vgl. S. 26) gibt es überaus reichlich – richtig nachvollziehen will.

Der vorliegende Sammelband betont mehrfach die Wertschätzung unterschiedlicher Methodologien und will somit herausarbeiten, es wäre der Sinn der vorgelegten Publikation, die epistemische Selbst-Reflexion einzufordern und die Güte und Qualität der Forschungspraxis – diesseits schlicht schlechter Praxis, die es hier nicht zu explizieren und zu kommentieren gilt – anhand von Prozessverständniskriterien zu klären.

Eine Vielfalt der Methodologien gilt hierbei also nicht als das Problem (S. 15), sofern die „Gegenstandsangemessenheit“ (S. 15) gewährleistet wird. Die Methoden richten sich nach Theoriebezug, Fragestellung, Problematik und Gegenstand im Feldbezug. Eine everything goes-Idee – mit Bezug auf Paul Feyerabend – wird jedoch abgelehnt (S. 15).

Die Beiträge greifen demnach also weniger die Wertigkeit und Bedeutung der verschiedenen Methodologien an, sondern fordern mit Blick auf den Prozess des Forschens Prinzipien (1) der Reflexivität der Forschung als Kommunikationsprozess, (2) der Offenheit und der (3) der Prozessreflexion (S. 23) „in der iterativen Zyklik qualitativen Forschens“ (S. 24) ein. Dabei spielt (1) die Gegenstandsangemessenheit, (2) die empirische Sättigung, (3) die theoretische Durchdringung, (4) die textuelle Performanz sowie (5) die Originalität eine konstitutive Rolle für die Gütequalität der Forschungspraxis. Und diese Kriterien gelten übergreifend für die verschiedenen methodologischen Richtungen und wirken insgesamt (diese Chance generierend) somit auch integrativ in Bezug auf die qualitative Forschung als Feld einer expressiven Einheit mit interner Heterogenität.

Die Inhaltsanalyse und auch die Diskursanalyse werden eher ausgegrenzt. Dieses Ausgrenzungsschicksal »der« Inhaltsanalyse mag man problematisieren wollen und auch können. Problematisch scheint mir eher mit dem im Verlauf der Publikation immer deutlicher werdenden Fokus auf das Phänomen »der« Abduktion die Kritik der Subsumtionslogik zu sei, was nochmals kritisch zu reflektieren sein sollte, weil das Thema der Unausweichlichkeit theoretischer Vorreflexionen und der Theoriebezüge als Voraussetzung der Entwicklung des Forschungsprozesses nicht nur im Fall der Formen der Grounded Theory weitere Nachfragen aufkommen lässt (vgl. S. 16 f.). So sollte gesehen werden, dass auch die nomologisch orientierte quantitative und oft in der analytischen Symbolsprache der Mathematik modellierte Forschung ebenso zu Abduktionen gelangt, z.B., wenn Korrelationen oder Regressionszusammenhänge interpretiert werden, um zu Hypothesenbildungen über mögliche Kausalitäten zu kommen. Dabei sind dort z.B. Annahmen über kumulative Zirkularität zugleich Prämissen zur Ontologie des Prozesscharakters des Gegenstandes. Kurzum: Abduktion ist nicht ein genuines Phänomen qualitativer Forschung, die sich in eher »Theorie-phobischer« Art explorativ oder in eher »Theorie-affiner« Weise als Tiefenbohrung versteht. Und dies führt uns zu weiteren, hier aber nicht zu klärenden Themen wie Methoden-Mix, Triangulationsmodelle und Kreislauf-Modelle in der Sequenz quantitativer und qualitativer Forschung.

Die Diskursforschung und die entsprechenden Theorien des Diskurses sowie die diskursanalytischen Ansätze werden – stärker als im Fall der Variationen der Grounded Theory – als Feld diffuser Heterogenität dargestellt (vgl. S. 163 ff.). Dem kann ich durchaus folgen, sofern die Michel Foucault-Rezeption in Richtung auf eine Schnittfläche von Poststrukturalismus, Postmodernismus und Dekonstruktivismus problematisch wird. Die dort verkörperte »Historische« Epistemologie als Relativierung des Wahrheitsverständnisses betrifft ja nicht nur die erfahrungswissenschaftliche Richtigkeitswahrheit, sondern auch die Möglichkeit, eine ontologische Theorie der Wahrheit der Lebensformen im Kontext eines unwahren Lebens im Sinne der klassischen Kritischen Theorie im Lichte des Theorems der Entfremdung des Menschen im Zustand seiner »transzendentalen/ontologischen Obdachlosigkeit« zu formulieren.

Diese Kritik an der Phobie gegenüber großen Theorien und historischer Erzählungen trifft aber sodann auch auf die Objektive Hermeneutik und auf die Dokumentarische Schule zu, weil dort (1) die Abneigung gegenüber einer großen Sozialtheorie und (2) infolge der Verweigerung, sich mit dem Problem der Normativität im Lichte eines kritischen Erkenntnisinteresses der Wissenschaft – dort also, wo Empirismus in Positivismus umkippt – zu beschäftigen, sehr ausgeprägt ist.

Die kritische Zurückweisung des post-strukturalistischen Dekonstruktivismus eines radikalen Postmodernismus verweist dennoch auf fehlende Tiefenbezüge mit Blick auf die sog. Krise der Repräsentation in der erkenntnistheoretischen Fundierung der Wissenschaftstheorie, also vor allem im Bezugskontext der Kontroversen um den Nominalismus – Realismus – Streit, um den Objektivismus – Naturalismus – Konstruktivismus-Streit, um die Rolle der analytischen Sprachphilosophie und um die Transformation der Mimetik der anschauenden Nachahmung hin zur Kreativität in der Theorie-geleiteten Forschung, um den cartesianischen Dualismus der Subjekt-Objekt-Spaltung, um die sozialwissenschaftlichen Relevanz der phänomenologischen Fundamentalontologie als Existenzphilosophie etc.

Die Ausklammerung Kritischer Sozialtheorie ist methodologisch in der eher mikrologischen Forschungsorientierung der im Band behandelten drei Hauptströmungen der qualitativen Sozialforschung (Objektive Hermeneutik, Dokumentarisch Methode und (Theorie-sensible) Grounded Theory) begründet. Wenn es um »Tiefenbohrungen« mit Blick auf die Aufdeckung von Sinnstrukturen im Kontext ihrer Genese im generativen System von kulturgrammatischen Regeln sozialer Interaktionen als soziale Praxis geht, dann liegt die Beziehung zu einer praxeologischen Soziologie nahe, allerdings nicht im Sinne der postmodernistischen Ontologie der Ereignis-Präsenz »diesseits der Hermeneutik«, sondern – den Begriff der Objektiven Hermeneutik im Sinne einer strukturalen Hermeneutik ernst nehmend – in der Form einer durch Protokollsätze sehr eng am Material praktizierten »Spuren«-Suche (S. 72 f, aber auch in S. 79 ff.) zur Rekonstruktion der Sinnstruktur in der »Ausdrucksgestalt« des Menschen (S. 59 ff.).

Dass eine beliebige subjektivistische Deutungs-Hermeneutik abgelehnt wird, ist daher verständlich. Die Bezugnahme auf Hans-Georg Gadamer (S. 193) ist dabei etwas missverständlich. Gadamer hat keine handwerkliche Hermeneutik weder der Wissenschaft noch der Praxis des Alltagsmenschen entworfen, sondern eine Philosophie der transzendentalen Voraussetzungen der Möglichkeit von Hermeneutik überhaupt. Man darf die Ebenen nicht verwechseln.

Und in diesem Sinne wird man auch die oben angeführte Postulierung einer „Theoretischen Empirie statt Empirismus“ nochmals kritischer reflektieren müssen. Auch die auf Abduktion abzielende rekonstruktive Sozialforschung in alle ihren methodologischen Richtungen bleibt Positivismus, wenn man – gar nicht mal nur mit Theodor W. Adornos Worten aus »Minima Moralia«, ob es denn ein wahres Leben im unwahren geben könne – nicht nach der Bedeutung empirischer Befunde für uns im sozialen Miteinander nachfragt, denn erst dergestalt wird das generierte Wissen zur lichtenden Erkenntnis. Dies war auch die Einsicht der neukantianischen Wissenschaftslehre, nach der Erkenntnis nur möglich werden würde durch transzendentale Wertsetzungen von höchster Kulturbedeutung.

Hierbei wird die Wert-»Setzung« gar nicht zu reinen Privatbürger-Sache, sondern kann rechtsphilosophisch und ethisch hergeleitet werden, auch mit Bezug auf die »juridische Substanz« des Sittengesetzes im Art. 2 GG (vgl. auch § 1 SGB I) vor dem Hintergrund des metaphysischen Ankers der Idee der personalen Würde als Naturrechtslehre des überpositiven Rechts im Art. 1 GG. Und wem dieser bundedeutsche Verfassung-Bezug nicht gefällt, kann auch Bezug nehmen zur GRC der EU oder zu den GRK der UN. Wissenschaft sollte Mitglied des eidgenössischen Bundes über den für uns »heiligen« Charakter der Menschenwürde sein, und sollte sich dies kritizistisch bei höchster Wohlbedachtheit und tiefster Selbstbesinnung reflexiv erschließen.

Diese Positivismus-Kritik kann man auch in Bezug auf den Beitrag zu den sog. echten Längsschnitt-Studien (S, 79 ff.) einbringen, da dort die Probleme in verborgener Weise zu entdecken sind.

Echte Längsschnitt-Studien analysieren eine Kohorte im Lebenszyklus mehrfach, z.B. mittels Interviews. (Die Dokumentarische Methode betont insbesondere auch die epistemische Kraft der Gruppendiskussionen.) In dem Beitrag wird Bezug genommen auf die Forschung von Paul Ricoeur über den inneren Zusammenhang von Zeit und Erzählung. Dabei wird man mit Blick auf eine Hermeneutik der Sinnstrukturen von Erzählungen phänomenologisch bedenken müssen, dass die Narrativität im Dasein des Menschen als ein ontologisches Existenzial – ähnlich wie die »Sorge« als Strukturelement menschlicher Daseinsführung – zu verstehen ist. In diesem Kontext sind die Entwicklung und der Wandel der Selbst-Konzeption der menschlichen Person in die Dynamik der Zeit als Vollzug der konkreten Geschichtlichkeit des Menschen eingelassen. Dabei geht es u.a. um Pfade, bipolare Korridore, Weichenstellungen, Übergangsräume und kritische Lebensereignisse sowie um Grenzsituationen etc. Dadurch verflüssigen sich u.a. die habituellen Strukturen der Subjektivierungsformatierungen der »Paideia« als Formung der Person: Prägungen, Deutungsmuster, Bewältigungsstrategien und Orientierungsweisen etc. verändern sich im Lebenslauf in der »Gestaltkreisbildung« der transaktionalen Wechselwirkung von Merken und Wirken. Die Trägheit der erlernten psychodynamischen Aufstellungsmuster in Form von Grundgestimmtheiten in Interaktion mit Lebenslagen, Lebensweisen und Lebenschancen sollte man jedoch nicht übersehen. Der Mensch steht hier in der Verwobenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Rekonstruktive Sozialforschung deckt die Tiefenstrukturen dieser Onto-Dramatik des Alltagsmenschen in seiner konkreten geschichtlichen Lebensverlaufsdynamik auf. Dabei geht es – komplex und ambivalent verschachtelt – um die Arbeit des Menschen an der Erinnerung an Erlebnisse der Erfahrungen von Ereignissen.

Hier kann auch eine Bemerkung zum Aufsatz zur Metaphernanalyse (S. 143 ff.) eingebracht werden. Metaphern analytisch in der rekonstruktiven Materialanalyse einzubringen, ist in der Tat mit zusätzlichen Erträgen in der Erkenntnisgewinnung verbunden. Das Thema ist – bis hin zur epistemologischen Metatheorie der Metaphorologie – ein weites Feld. Hier darf nur betont werden, dass in dem Beitrag die Genese von Figuren der Konstellation von Selbst- und Weltverhältnisse aus der »Verwobenheit« des Menschen in der Welt heraus dargelegt wird. Gerade auch in der responsiven Phänomenologie geht es nicht um ein Ego-zentriertes cartesianisches Weltbild der instrumentellen Vernunft der narzisstischen Objektbesetzungen, sondern um die Widerfahrnis von schicksalshaften Ereignissen oder um Augenblicke eines Zaubers, um einen Animismus der Dinge (nicht nur in der Warenästhetik) oder auch um situationsszenische Atmosphären. Dergestalt wird die rekonstruktive Forschung auch offen sein können bzw. müssen für psychologische Konstrukte wie Kohärenzgefühl und Resilienz, Traumata, Bewältigungs-Schemata, Deutungsskripte, Resonanzfrustration, Bindungsproblematiken etc.

Die Phänomenologie in ihren Varianten ist aber in dem vorliegenden Band weitgehend kein Thema. Die Epistemologie der rekonstruktiven Sozialforschung kann jedoch nicht unberührt bleiben von den neueren Theoriedynamiken des Zusammenspiels von Hermeneutik, Phänomenologie, Strukturalismus und Materialismus.

Auch die Frage nach dem Stellenwert tiefenpsychologischer Theorierichtungen in der Sozialforschung wird nicht thematisiert. Man mag hier auch an tiefenhermeneutische Positionen denken.

Mit Blick auf die Kritik der Subsumtionslogik seitens der rekonstruktiven Sozialforschung wird gerade hier nun deutlich, wo das Problem der codierten Textdurchsuchung liegt: Man findet nur, wonach man sucht. Metaphern entdeckt man erst bei einer offenen interpretativen Sichtung des Materials. Diese Interpretation darf aber auch nicht die schlechte Praxis ungeregelter Sinn-Suche sein.

Das Thema der Metaphernforschung verweist uns zugleich auf eine Diskussion, die im Band ausgespart wird: Die Vielfalt der semiotisch fassbaren Textsorten. Gemeint sind Bilder (Fotos wie Gemälde), Wohnräume wie Bauarchitekturen, Kleidung und Konsum insgesamt, Mimik und Gestik etc. etc.

Der Band betont die epistemologische Positionierung rekonstruktiver Forschung als Abduktionsstreben zwischen Theorie-sensibilisierter und somit (auch mit Blick auf das Prozessgeschehen des Forschens) reflexiver Mikrologie (zwischen reiner, naiver Induktion einerseits und überzogener Orientierung an einer deduktiven Strategie des Nomologismus andererseits) in dem Sinne, dass es nur durch die Fall-Rekonstruktion zur Fallkonstruktion kommen kann und durch Fallvergleiche geschärft werden kann. Die fast schon detektivische Spuren-Suche (vgl. S. 79 ff.) ist eine kreative Verarbeitung des Materials, aber immer ganz eng an diesem Material gebunden: Sie ist Suche nach den subjektiven Sinnstrukturen in strukturellen Konstellationen, oftmals im Kontext biographischer Wirkstrukturen und im Modus der Ablagerungen in der Psychodynamik der Charakterbildung der Persönlichkeit.

Die Schule der Dokumentarischen Methode ist sodann – ohne den mikrologischen Blick zu verlieren – dennoch in eine Mehr-Ebenen-Analyse eingestiegen und hat auch Organisationen als Kontexte einbezogen. Die Makroebene besetzt jedoch eher (vgl. kritisch S. 163 ff.) die Diskursforschung. Ein Stichwort mag jedoch die Methodenlehre „Vom Habitus zum Dispositiv“ sein und, wie ich meine, auch zurück: „Vom dispositiven Diskurs zum Habitus“. Denn es geht, nahe am Werk von Michel Foucault orientiert, um die gouvernementale Praxis der Subjektivierungsformatierungen im Macht-System der Dispositivordnungen. Doch dies ist trotz der Mikro-Ebene der Habitus-Forschungen, die ja auch feldtheoretisch eingebettet ist, eher eine Makro-Ebene der Sozialtheorie, die der abduktiven Forschungslogik der rekonstruktiven Sozialforschung fremd bleibt.

Kommen wir nun noch zu dem Beitrag zur Systematik der Positionierung zur Geltungsproblematik. Hier validieren sich in Form der thematischen Verdichtung einige Aspekte, die ich weiter oben vorgetragen bzw. eingebracht habe.

Offensichtlich gibt es Diskussionsbedürftigkeiten (S. 189 f.) angesichts einer aufgespaltenen Feldstruktur des Diskurses über Geltungsgründe von Wahrheit. Drei Typen der Geltungsfundierung werden unterschieden:

  • (1) Das „Verständigen“: Die Strategie des Verständigens wird in die Tradition der approximativen Logik des hermeneutischen Zirkels gestellt (S. 191 f.), von der die Objektive Hermeneutik deutlich positiv abgegrenzt wird (vgl. S. 194).
  • (2) Das „Einklammern“: Gemeint ist die Strategie des Einklammerns (in der Schule der Dokumentarischen Methode), wonach nur die konstruierte Welt der Untersuchungssubjekte interessiert, und keinerlei normative Vermessung betrieben werden soll.

Kritische Wissenschaft findet hier nicht statt. Dabei ist zuzustimmen, dass z.B. die offensichtliche Lebenslüge eines alten Menschen im narrativ-biographischen Interview im Kontext der Psychologie des Kohärenzzwanges von Interesse ist, weil sie ebenfalls eine Erscheinung der Richtigkeitswahrheit darstellt. Die Lüge ist ein Faktum. Selbst der imaginierte sehnsuchtsvolle Tagtraum ist ein Faktum, weil die »Möglichkeit« eine Form der Wirklichkeit ist, sofern man nicht rein identitätslogisch, sondern auch modallogisch denkt.

Aber kann eine thematisch engagierte Forschung, die sich dem Drama des Alltagsmenschen widmet, die gesellschaftspolitische Diskussion der Ergebnisse der Öffentlichkeit überlassen, zu der sich die Hochschule als Ort der Wissenschaft dann offensichtlich nicht zählt? Wie wird Wissen zur relevanten Erkenntnis? Hier habe ich weiter oben den Kritizismus des Neokantianismus und den Neukantianismus der transzendentalen Wertabhängigkeit der Möglichkeit von Erkenntnis eingebracht.

  • (3) „Suspendieren“: Auch der dritte strategische Typus habe ich weiter oben mit Bezug auf die »verstiegene« Figur des dekonstruktivistischen Poststrukturalismus des radikalen Postmodernismus kritisch angesprochen. Die Vorläufigkeit gesicherten Wissens hat zwar auch schon der Kritische Rationalismus thematisiert. Hier geht es nun aber um eine radikale Kritik von Wahrheit überhaupt.

Ich habe dem Dekonstruktivismus immer dann und nur dann einen positiven Wert abgewinnen können, wenn und insofern man die Textinterpretation als quasi-intertextuelles Zusammenspiel zwischen Rezeptionsästhetik (→ Bedeutung für uns in der Aktualität des Daseins) und Produktionsästhetik (→ Analyse des tatsächlichen Sinns einer Autorschaft und Analyse in Bezug auf den »Sitz im Leben« im historischen Kontext) verstehen will.

Und in der Theoriedebatte innerhalb der Geschichtswissenschaft z.B. wurden die Erkenntnisinteressen differenziert erörtert und von Jörn Rüsen der Begriff der »Geschichtskultur« herausgearbeitet. Gemeint ist die Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft als jeweilige Ausdrucksgestalt des Verhältnisses der Menschen zu ihrer Vergangenheit. Die Geschichtskultur weist damit drei, miteinander verschachtelte Dimensionen auf: (1) eine kognitive Dimension (→ Wahrheitsproblem), (2) eine politische Dimension (→ Problem der Geltung als Machtproblem) und (3) eine ästhetische (→ Problem der Darstellungskunst) Dimension.

Die »Trifftigkeit« einer Forschung stellt sich demnach als ein mehrdimensionaler Problemkomplex dar. Unterschieden und dennoch immer als verschachtelt verstanden werden muss (1) die empirische, (2) die normative und (3) die narrative Problematik. In diesem Kontext kann es nicht angehen, die Richtigkeitswahrheitskonzeption der Erfahrungswissenschaft vollständig zu eliminieren. Wissenschaft würde dergestalt substituiert durch eine postmodernistische Wirklichkeits-Deutungs-Freiheit des »homo ludens«. Den »homo ludens« gibt es auch in der experimentellen Wissenschaft. Doch die Experimentalforschung sucht die Richtigkeits-Wahrheit und sie, wenn sie vollumfänglich aufgestellt ist, reflektiert auch die Normativität des Befundes im Sinne einer ontologischen Bedeutungs-Wahrheit.

Die narrative Problematik ist auch in der rekonstruktiven Sozialforschung gegeben, denn das Leben der Alltagswelt wird nacherzählt, aber in methodisch regulierter Art und Weise analytisch tiefer als es der Alltagsmensch in seiner lebensweltlichen Verwobenheit in der Regel vermag.

Aber auch die Forschung steht vor dem Selbstregulierungsproblem von Nähe und Distanz, auch von Erkenntnis und sittlicher Empörung, wie es die neukantianische Marburger Schule des ethischen Sozialismus ausformulierte. Aber der Dekonstruktivismus im Schnittbereich zu einem poststrukturalistischen radikalen Postmodernismus thematisiert auch das Ende der normativen Wahrheitsproblematik, was Wissenschaft letztendlich um ihre humangerechten Erkenntnisinteressen kritischer Aufklärung bringt.

Die narrative Problematik der Sozialforschung wird in ihrer berechtigten Bedeutung vor allem dann besser verstanden, wenn man im Rekurs auf Ernst Cassirers neokantianische Philosophie der symbolischen Formen der Erkenntnis rekurriert. Wissenschaft ist in der Tat dann nur »eine« Form der Erkenntnisgewinnung. Die – die Daseinsproblematik des Menschen thematisierende – Kunst und der Mythos (als eine erste Form einer Philosophischen Anthropologie) schlüsseln ebenso auf ihre je eigene Art und Weise die Wirklichkeit auf.

Und es gibt auch Möglichkeiten, Wissenschaft mit Kunst und der Arbeit an der Wahrheit des Mythos in gewissen Grenzen als narrative Sozialforschung zu mischen. Aber dabei geht es immer darum, die erfahrungswissenschaftlichen Befunde zu befragen, welche Bedeutung sie für die Arbeit an der Humangerechtigkeit der menschlichen Lebensformen haben.

Dann stehen damit vor allem Fragen von kollektiver sozialer Progression und Regression an, auch Fragen nach der Entfremdung des Menschen in seiner modernen »Unbehaustheit«, also pathosophische Dimensionen der Vermessung der sozialen Wirklichkeit in ihrem »Gap« in Relation zum idealtypischen Maßstab der Idee eines »guten Lebens« eines gelingenden sozialen Miteinanders im Sinne einer inkludierenden »sozialen Freiheit«.

Ich frage mich, ob auch der Beitrag zur Forschungsethik (S. 31 ff.) nicht hochschulpolitisch viel zu eng angelegt ist: Wissenschaft muss auch die W-Fragen (1) des »Warum« (etwa rechtsphilosophisch und ethisch im Lichte einer personalistischen Ontoanthropologie), (2) des »Wozu« (etwa im Lichte einer Theorie der Aufklärung und des sozialen Fortschritts) sowie (3) des »für Wen« (etwa mit Bezug auf Pierre Bourdieus Blicks auf den Alltag des Elends der Menschen) stellen und zu beantworten versuchen.

Was noch zum vorliegenden Buch anzumerken wäre, das ist die Ausklammerung der näheren Bezugnahmen auf die Erziehungswissenschaften als Feld der Erörterung des qualitativen Forschens (so ja der Haupttitel). Nur an wenigen Stellen wird ein solcher Bezug angedeutet, u.a. als Verhältnis zur Professionenforschung. Ich hätte mir aber gewünscht, dass die ganze komplexe Breite und Tiefe der Erziehungswissenschaft zwischen Tradition und Wandel zumindest skizziert wird, um zu verstehen, wo genau das qualitative Forschen platziert wird.

Es geht ja einerseits um die Pädagogik als Handlungswissenschaft, die, abgesehen von Didaktik und Methodik, genau auch jene disziplinären Bezüge aufweist, die in der rekonstruktiven Forschung als abstrakte Theoriewelten ausgegrenzt werden: Erziehungsphilosophie bzw. Pädagogische Anthropologie, aber auch die Theorie und Metatheorie der normativen Problematik der Erziehungsziele, etwa dergestalt, dass auch an die Sozialphilosophie und an die politische Philosophie eines »guten Lebens« angeknüpft wird.

Fragen der Sozialisationstheorie werden im Buch an wenigen Stellen tangiert, doch weder werden eine pädagogische Psychologie oder einer Entwicklungspsychologie als Grundlagen der pädagogischen Handlungswissenschaft erwähnt.

Liegt dies daran, dass die qualitative Forschung hauptsächlich in der Erziehungswissenschaft als eine empirische Bildungsforschung verankert wird? Damit würde die ganze Problematik der Normativität der Handlungspraxis ausgeklammert.

Somit wird gerade durch eine unterentwickelte Bezugnahme auf die Tradition und den Wandel der Erziehungswissenschaft und den entsprechenden Kontroversen eben die positivistische Verengung einer rekonstruktiven Sozialforschung ermöglicht. Es kristallisiert sich dergestalt eine Paradoxie: Da die Bildungswissenschaften in der Regel überaus stark von Fragen der sozialen Ungleichheit (Exklusivität, Marginalität, Prekarität etc. bzw. neuerdings, mitunter in verstiegener Weise, von Klassismus, Sexismus, Rassismus, in der Erwachsenbildung auch von Ageismus etc.) geprägt sind, so fragt man sich, wie dergestalt mikrologische und praxeologische Sozialforschung ohne Klärung der Normativitätsproblematik auskommen kann und folglich die kritische Sozialtheorie meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Das Buch stammt aus dem Jahr 2023. Doch Tagesaktualität, festgemacht am Erscheinungstag eines Jahres, kann nicht das Kriterium eine Besprechungswürdigkeit sein. Wie in meinem Rezeptionsdiskussionsversuch ersichtlich wird, hat das Buch eine hohe Relevanz und vermeidet die oberflächliche signifikante Redundanz von Einführungen oder Lehrbücher, die sich mitunter vorschnell einem präferierten Ansatz deutlich verpflichtet fühlen. Auch in der vorliegenden Aufsatzsammlung finden Präferenzbildungen statt, auch Aus- bzw. zumindest Abgrenzungen. Dennoch bewegt sich die Diskussion eher auf einer Metaebene epistemologischer Art, die auf das Weltverhältnis der Methodologien qualitativer rekonstruktiver Forschung abstellt.

Meine auf Vertiefungsbedarfe abstellenden kritischen Anmerkungen deuten dennoch bleibende Oberflächlichkeiten in der philosophischen Theorielandschaftssichtung an, ferner verweisen sie auf ausgeklammerte Themenfelder. Die Interdisziplinarität könnte durchaus noch gesteigert werden. Man wird bedenken müssen, dass die Klärung der ontologischen Grundlagen der Wirklichkeit als Praxis wie auch der Epistemologie der Rekonstruktion dieser Wirklichkeit uns in die Dynamiken moderner Metaphysik führen. Mag sein, dass es hier auch psychodynamische Begegnungsängste in der empirischen Wissenschaft – ja auch in der post-metaphysischen Kritischen Theorie der jüngeren und jüngsten Generationen – gibt, die in blockierenden Art wirksam sein. Vielleicht fehlt auch das intellektuelle Interesse jenseits des Empirismus.

Auch qualitative Forschung kann sich einem Positivismus hingeben. Die Ausklammerung Kritischer Theorie führt dazu, dass die Werturteilsfreiheitspostulierung (etwa auch in der Differenzierung zwischen Entdeckungs-, Begründungs- und Verwertungszusammenhang aus der Sicht des Kritischen Rationalismus) nicht auf einem hinreichend hohen Niveau der Komplexität problematisiert wird.

All diese Diskurs-Einforderungen sind wohl auch nicht – zumindest nicht in verständlicher Weise – im Textumfang von 206 Seiten zu erwarten. Alles ist natürlich auch eine Frage der Zielsetzung und der Zielgruppe. Das Buch ist für die Doktorandenausbildung zu empfehlen. Außerdem sind die Aufsätze ferner überwiegend thematisch interessant akzentuiert und in gewinnender Weise entfaltet.

Fazit

Der Sammelband führt in die erkenntnistheoretisch reflektierte Logik der Hauptströmungen rekonstruktiver Sozialforschung ein. Das Buch ist sehr empfehlenswert für fortgeschrittene Ausbildungsstufen im Wissenschaftsbetrieb. Es ist eine (weniger methodische als vielmehr methodologische) Orientierungshilfe in diesem heterogenen Feld, das eine gewisse kontroverse Unübersichtlichkeit aufweist.

Rezension von
Prof Dr. (em.) Frank Schulz-Nieswandt
Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln
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Es gibt 8 Rezensionen von Frank Schulz-Nieswandt.

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ISSN 2190-9245