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Jana Zehle: Einblicke und Aussagen von und über Menschen mit Behinderungserfahrung

Rezensiert von Prof.in Dr.in Ulrike Mattke, 31.05.2022

Cover Jana Zehle: Einblicke und Aussagen von und über Menschen mit Behinderungserfahrung ISBN 978-3-8325-5164-3

Jana Zehle: Einblicke und Aussagen von und über Menschen mit Behinderungserfahrung - Photovoice-Forschungsprojekt in Amhara, Nordäthiopien. Logos Verlag (Berlin) 2020. 109 Seiten. ISBN 978-3-8325-5164-3. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.

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Thema

Die Publikation beinhaltet ein Forschungsprojekt, das durchgehend an aktuellen Prinzipien der Disziplin Heil-, Sonder- bzw. Inklusionspädagogik ausgerichtet ist. Mit der bisher in der deutschsprachigen Forschung weitgehend unbekannten Photovoice-Methode werden ausgegrenzten Menschen in Äthiopien gewinnbringende Ausdrucks- und Mitteilungsmöglichkeiten geboten.

AutorIn

Die Autorin, Professorin Dr. Jana Zehle, war zehn Jahre in Äthiopien tätig, zunächst als Lehrerin und dann fünf Jahre an der Addis Ababa University als Hochschullehrerin und verfügt über sehr gute Landes- sowie Sprachkenntnisse.

Entstehungshintergrund

Das Projekt entstand in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen regionalen Personen und Organisationen: Mitarbeitenden des Erziehungswissenschaftlichen Colleges der Abbis Ababa Universität und Vorsitzenden von Nichtregierungsorganisationen und vor allem mit 18 Ko-Forschenden, körperbehinderten, gehörlosen und blinden Personen. Die Arbeit wurde an der Universität Leipzig als Habilitationsschrift eingereicht.

Aufbau

Nach der „Einführung“ (Kapitel 1) mit einer Skizze der grundlegenden theoretischen und forschungsrelevanten Orientierungen folgen in Kapitel 2 umfängliche „Landeskundliche Informationen zu Äthiopien“. „Theoretische Grundlagen der Forschungsarbeit“ beinhaltet das 3. Kapitel, in dem ausführlich der Ansatz des Capability Approachs (Kapitel 3.1), „Das transformative Paradigma“ (Kapitel 3.2.) sowie „Partizipative Handlungsforschung am Beispiel der Photovoice-Methode“ (Kapitel 3.3) erörtert werden. Das Photovoice-Projekt wird im 4. Kapitel: „Empirische Untersuchung“ dokumentiert. Eine „Abschließende Reflexion“ (Kapitel 5) widmet sich der Auswertung des Forschungsprojekts.

Inhalt

  1. In der Einführung zeigt die Fragestellung der Untersuchung eine Fokussierung auf Ressourcen, Stärken und Veränderungsoptionen: „Welche inneren und äußeren Bedingungsfaktoren beeinflussen die individuelle weitestgehend selbstverantwortete und zufriedenstellende Lebensführung von jungen, behinderten und armen Menschen in Amhara, Nordäthiopien aus der Sicht der Selbstvertretenden?“ (S. 28).
  2. Hervorzuheben ist der fundierte Einblick der Autorin in das Bildungswesen des Landes, in die Lage von behinderten Menschen in Äthiopien sowie Kennnisse der Autorin in der amharischen Sprache. Zitate werden bis in den empirischen Teil der Arbeit immer sowohl in englischer als auch in amharischer Sprache wiedergegeben, verbunden mit den entsprechenden Schriftzeichen.
  3. Ausführlich wird der Ansatz des Capability Approachs (Kapitel 3.1) diskutiert, „der die Frage nach einem guten Leben bzw. einer gelingenden Lebensführung in den Mittelpunkt stellt“ (S. 72) und damit verbunden soziale Gerechtigkeit thematisiert. Ressourcen, Handlungsbefähigungen oder Verwirklichungschancen sowie Seins- und Funktionsweisen (S. 78) sind Prinzipien dieses Ansatzes. Vorteile des Capability Approachs für die empirische Bildungsforschung werden in einer Einbeziehung von „Fragen der Freiheits- und Handlungswahloptionen“ gesehen (S. 83) und in Ergebnissen zur Verwirklichung von Partizipation bzw. Empowerment (S. 89). In Anlehnung an Terzi (2004) bezeichnet die Autorin den Ansatz als „innovative Perspektive für den Fachbereich Special Needs“ (S. 87). Behinderung führe aufgrund von „Einschränkung persönlicher Handlungsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen“ zu einer „Capability Poverty“ (S. 92), die zugunsten einer „Capability Wealth“ zu überwinden sei (S. 93).
  4. Eine weitere theoretische Grundlage bildet das „Transformative Paradigma“, in dessen Fokus Partizipation und Handlungsaufforderung stehen (S. 96). Daraus abgeleitet wird die gleichberechtigte Mitgestaltung der so genannten Ko-Forschenden in allen Phasen des Projekts, die Forschungsplanung, -durchführung und -auswertung, (S. 101).
  5. Die Photovoice-Methode als ein Ansatz der Partizipativen Handlungsforschung zielt auf Folgendes: „Ko-Forschende werden sich ihrer eigenen Fähigkeiten bewusst, mobilisieren eigene Kräfte, aktiveren und nutzen soziale Ressourcen – ganz im Sinne des Empowermentgedankens“ (S. 111).
  6. Das Photovoice-Projekt selbst ist in mehrere Handlungsschritte gegliedert (S. 126 ff.). So ging es beispielsweise bei der Planung u.a. um die Beschaffung kostengünstiger Einwegkameras und die Einbeziehung einer Gebärdendolmetscherin (S. 131 f.). Insgesamt wurden 18 Ko-Forschende nach festgelegten Kriterien ausgewählt. Neben körperbehinderten und gehörlosen waren auch blinde Personen beteiligt, die sich Assistent*innen zur Aufnahme Ihrer Fotografien gewählt hatten. Dies wird leider erst an einer recht späten Stelle der Veröffentlichung erläutert (S. 185). Wesentlich war Freiwilligkeit der Teilnahme auf der Basis informierter Zustimmung. Die Ko-Forschenden wurden aufgefordert, Alltagsszenen zu fotografieren. Dazu dienten drei Leitfragen: „1. Was ist positiv in meinem Leben? 2. Was macht mich stark? 3. Was muss geändert werden bzw. möchte ich ändern?“ (S. 140). Ergänzend fanden Gruppentreffen statt, bei denen neben einem Austausch die Fotografien und kommentierenden, Texte vorgestellt wurden. Die Gruppendiskussionen, insbesondere über Bewältigungsstrategien und Lösungsmöglichkeiten werden als ein Beitrag zum Empowerment der Ko-Forschenden zu verstehen (S. 141 ff.). Zudem wurden jeweils vor den Gruppendiskussionen Einzelinterviews geführt (S. 147). Auch die an Leitfragen orientierte Datenanalyse wurde in Kooperation mit den Ko-Forschenden vorgenommen. (S. 153). Im letzten Schritt des Forschungsprojekts wurde zunächst eine, später wurden mehrere Ausstellungen der Fotografien mit den erläuternden Texten der Ko-Forschenden durchgeführt und es wurde ein Blog eingerichtet (S. 159 & S. 195). Auf Basis der Grounded Theory unternahm die Autorin danach einen zweiten Analyseschritt. Auch die hier gewonnen Ergebnisse wurden im Nachhinein den Ko-Forschenden vorgestellt und von ihnen bestätigt.
  7. Von den Ergebnissen, die in Kapitel 5 dargestellt werden, sollen hier einige beispielhaft herausgegriffen werden. Für die Ko-Forschenden stellt beispielsweise der Schulbesuch ein Privileg dar und sie „wussten um die Bedeutung von Schulabschlüssen für die zukünftige Lebensführung und insbesondere Arbeitsmöglichkeiten“ (S. 170). Besonders wichtig war für die Ko-Forschenden Freundschaft, da sie überwiegend soziale Ausgrenzung und mangelnde Unterstützung erfahren hatten. Freundschaft wurde teilweise durch aktive Mitgliedschaft in einem Klub erlebt (S. 175 f.). Anschaulich wird dies durch die folgende Aussage eines Ko-Forschenden: „My friends are my mothers“ (S. 191). Zur Mobilität ein bemerkenswerter Auszug aus einem Interview: „First of all, what made me strong is I come from a countryside famlily and joined a city life. If I remain seated in countryside, it means that there will not be awareness. Suddenly, I escaped and started my life. This is something strong“ (S. 180).
  8. Der umfassende Anhang umfasst in farbigem Druck die von den Ko-Forschenden ausgewählten Fotos mit ihren Kommentaren in amharischer und englischer Sprache sowie eine Zusammenfassung der Einzelinterviews.

Diskussion

Der stark innovative Charakter dieses Forschungsprojekts zeigt sich in der Zielsetzung, in der es nicht um die Erfassung von Ausgrenzungserfahrungen und des Status Quo geht, sondern um ein Fokussieren auf positive Erfahrungen und auf Transformationsmöglichkeiten. Zudem wird hier mit dem Einsatz der Photo-Voice-Methode durchgehend partizipative Forschung durchgeführt. Insofern enthält dieser Forschungsbericht interessante Einblicke in und Anregungen zu partizipativer Forschung in der Heil-, Sonder- bzw. Inklusionspädagogik.

Fazit

Zu empfehlen ist diese Veröffentlichung ebenso erfahrenen Sozial- und Bildungsforscher*innen wie Studierenden, die sich mit neuen Konzepten der qualitativen Sozialforschung beschäftigen möchten. Weiterhin sollte dieses Werk in die Liste der Literatur zur international vergleichenden Heil- und Sonderpädagogik aufgenommen werden und als Überblicks- bzw. Einführungslektüre in den Ansatz des Capability Approachs dienen.

Rezension von
Prof.in Dr.in Ulrike Mattke
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Es gibt 2 Rezensionen von Ulrike Mattke.

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ISSN 2190-9245