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Mathias Schwabe, Martina Stallmann et al.: Freiraum mit Risiko

Rezensiert von Prof. em. Dr. Matthias Moch, 12.07.2022

Cover Mathias Schwabe, Martina Stallmann et al.: Freiraum mit Risiko ISBN 978-3-7799-6411-7

Mathias Schwabe, Martina Stallmann, David Vust: Freiraum mit Risiko. Niedrigschwellige Erziehungshilfen für sogenannte Systemsprenger. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 2., überarbeitete Auflage. 219 Seiten. ISBN 978-3-7799-6411-7. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Entstehungskontext

Dieses Buch ist die überarbeitete zweite Auflage eines im Jahr 2013 in einem anderen Verlag erschienenen Bandes zum Thema: Angebote für Jugendliche mit besonders herausforderndem und risikobehaftetem Verhalten. Die Neuauflage wird im Vorwort begründet mit der Aktualität des Themas und der Dringlichkeit, mit der aktuell Lösungen für diese Zielgruppe der Jugendhilfe gesucht werden. Beschrieben wird das Konzept, die Zielsetzungen, die Praxis, Probleme, Erfolge und Fallverläufe einer Einrichtung eines freien Trägers in Berlin, die seit dem Jahr 1997 mit der Zielgruppe „hoch riskant agierender Jugendlicher“ (S. 27) mit einem niedrigschwelligen Interventionsangebot arbeitet.

Autor*innen

Mathias Schwabe ist hauptamtlicher Professor für Soziale an der evangelischen Hochschule Berlin und bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen Gewaltdeeskalation, freiheitentziehende Maßnahmen in den Erziehungshilfen und Fallverstehen (Schwabe 2019). Martina Stallmann ist emeritierte Professorin desselben Instituts. David Vust ist Forschungsmitarbeiter in verschiedenen Projekten sowie Berater und Supervisor im Bereich der Jugendhilfe.

Thema

Spätestens mit dem Bekanntwerden des Films „Systemsprenger“ der Regisseurin Nora Fingscheid wurde das Thema in breiten Gesellschaftskreisen diskutiert und auch im Fachdiskurs vertieft (Baumann 2020): Welche Hilfen gibt es für junge Menschen, die jede Einrichtung der Jugendhilfe an ihre Grenzen bringen, die bereits viele Hilfen „durchlaufen“ haben, vielfach von einer an die nächste Einrichtung „weitergereicht“ wurden und die jedes neue Angebot in riskanter, oft selbst- und fremdgefährdender Weise bis an die Grenzen aller organisatorischen, rechtlichen und pädagogischen Bemühungen gebracht haben. Aus einem Spektrum möglicher und auch vielfach praktizierter Arbeitsansätze wird in diesem Buch die Arbeitsweise einer Einrichtung beschreiben, die den betroffenen jungen Menschen ein niedrigschwelliges, auf Kooperation und Eigeninitiative bauendes Angebot macht.

Aufbau und Inhalt

Das 219 Seiten umfassende Buch ist – nach einem Vorwort zur fachlichen Einordnung und einer Einleitung zum empirischen Hintergrund – in acht inhaltliche Kapitel gegliedert.

In Kapitel 1 wird die Zielgruppe „hoch riskant agierender und schwer zu erreichender Jugendlicher“ unter verschiedenen Perspektiven skizziert: begriffliche Bezeichnung; Verbreitung; jugendhilfespezifischer Subjektstatus; Indikation. Daneben werden fünf grundlegende Typen von Betreuungssettings für diese Zielgruppe angedeutet, die in der aktuellen Praxis der Jugendhilfe in Deutschland angeboten werden.

In Kapitel 2 wird die untersuchte Einrichtung beschrieben. Beginnend von ihren Ursprüngen und den diese begleitenden Motiven der Fachkräfte öffentlicher und freier Träger werden die pädagogischen und organisatorischen Grundpfeiler des Projekts sowie die Weiterentwicklungen in den ersten 14 Jahren seines Bestehens dargelegt. Es wird erklärt, von welchen pädagogischen Überzeugungen das Modell ausgeht, welche Erfahrungen zu Anfang gemacht wurden und welche Veränderungen im Konzept aufgrund praktischer Erfahrungen notwendig geworden sind. Der Ansatz umfasst im Kern das Zur-Verfügung-Stellen von Einraumwohnungen (,Buden') für junge Menschen in einem toleranten sozialen Umfeld, ein wöchentlich stattfindendes Pflichtgespräch, mit dessen Wahrnehmung die Auszahlung des Sozialhilfebetrags verbunden ist sowie eine Anlaufstelle zur Beratung in allen sie betreffenden Fragen, zum Wäsche-waschen und zum Telefonieren. Es handelt sich um eine Übergangshilfe im zeitlichen Umfang von acht bis zwölf Monaten mit dem Ziel, „Selbstklärungsprozesse an(zu)regen“ und in dieser Zeit die Existenz der Jugendlichen sicherzustellen. Den Jugendlichen werden außer den genannten keine weiteren Pflichten auferlegt.

Kapitel 3 geht auf die spezifischen pädagogischen Interaktionsformen ein, die im Projekt eingesetzt werden. Unter den vier Schwerpunkten (1) niedrigschwelliges Begleiten; (2) Versorgen; (3) Beraten und (4) Erziehen/Kontrollieren werden insgesamt 18 unterschiedliche Handlungsformen beschrieben und an konkreten Interaktionsbeispielen illustriert. Insgesamt geht es bei diesen Beschreibungen darum deutlich zu machen, in welcher Weise die Mitarbeiter*innen die jungen Menschen in ihren Anliegen ernst nehmen, sie mit ihren Problemen konfrontieren und sie zu selbstbestimmten Lernprozessen anregen. Insbesondere wird die Kunst illustriert, die von den Jugendlichen angebotenen Interaktionen nicht in einer ihnen gewohnten Weise zu beantworten, sondern sie immer wieder – im guten Sinne – mit sich selbst zu konfrontieren.

In Kapitel 4 wird ein Überblick über die Adressant*innengruppe seit Beginn des Projekts gegeben. Auf der Grundlage von Akten und Interviews werden soziodemografische Daten, Anamnesen und Hilfeverläufe dargestellt. Durch die Analyse von 47 geführten Interviews werden – für männlich und weibliche Adressat*innen getrennt – Verlaufstypen konstruiert und inhaltlich als acht verschiedene „Entwicklungscluster“ (S. 100/104) beschrieben. Das Kapitel wird abgeschlossen mit einer Akten-Analyse in Bezug auf die Lebensbedingungen zum Zeitpunkt der Beendigungen der Maßnahme.

Einen intensiven Einblick in die Entwicklung einzelner Jugendlicher erhält die*der Leser*in in Kapitel 5. Die Autor*innen berichten über vier Jugendliche, die sie im Rahmen ihrer Recherchen persönlich kennengelernt haben. Biografische Hintergründe, Betreuungsverläufe sowie einzelne Interaktionssequenzen werden dargelegt und kommentiert. Jede Fallschilderung endet mit Anmerkungen zur Zeit nach dem Betreuungsende. In diesem zentralen Kapitel (50 Seiten) werden die Inhalte, Möglichkeiten und Grenzen des Modells anhand konkreter Lebenslagen und Szenen plastisch vermittelt.

Die Betreuung dieser Zielgruppe junger Menschen ist für alle beteiligten Fachkräfte und deren Träger mit Risiken behaftet. Diesem Thema ist die ausführliche Diskussion in Kapitel 6 gewidmet. Dabei geht es keineswegs nur um Gefahren, die die unmittelbare Interaktion mit den Jugendlichen betreffen, sondern vielmehr auch um Fragen der Verantwortungsverteilung, um juristische Fragen sowie um Probleme kooperativer Transparenz.

Im knapp gehaltenen Kapitel 7 wird wiederum auf die erhobenen Daten (Akten und Interviews) zurückgegriffen und auf dieser Grundlage die „Wirkungen und Erfolge“ (S. 186) von 47 Fallverläufen im Projekt untersucht. Diese Ergebnisse werden in insgesamt neun Tabellen und Abbildungen veranschaulicht.

Im abschließenden Kapitel 8 werden „Ergebnisse anderer Studien zu Settings für sogenannte ,Systemsprenger'“ (u.a. therapeutische Wohngemeinschaften; Projekte der Suchthilfe; geschlossene Unterbringung) untersucht und mit den Ergebnissen aus dem dargestellten Projekt verglichen.

Diskussion

Das Buch beinhaltet eine sehr genaue und detaillierte Analyse der langjährigen Praxis eines spezifischen sozialpädagogischen Projekts mit einer sehr besonderen Zielgruppe. Die vorhandenen Erfahrungen werden anhand von aktuell erhobenem Datenmaterial, aber auch durch detaillierte Einblicke in Alltagsszenen vermittelt und ausgewertet. Das Buch beeindruckt vor allem durch vier Eigenschaften:

(1) Das Buch eröffnet Einblicke in eine institutionalisierte Praxis mit einer Adressat*innengruppe, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie nicht nur sozialpädagogisch sehr schwer zugänglich ist, sondern sich auch den bisher verfügbaren „Angeboten“ aktiv verweigert. Beim Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen, scheuen die Autor*innen nicht davor zurück, durch die präzise Darstellung der vielfach riskanten Praxis im jeweiligen Einzelfall Gefahr zu laufen, von außenstehenden Beobachter*innen (Fachwelt; Jugendämter, Juristen …) „an den Pranger gestellt (zu) werden, (weil) andere nicht den Mut haben, sich mit (den Projektakteur*innen) zu solidarisieren“ (S. 19).

(2) Die Darstellung des Projekts distanziert sich von einer Überzeugung, es gäbe für Jugendliche dieser Zielgruppe eine „richtige“ Lösung. Vielmehr wird an vielen Stellen deutlich gemacht, dass eine wirksame Hilfe die genaue Einschätzung der je individuellen Vorgeschichten, der aktuellen Lebenslagen, der möglichen Kooperationspartner und der verfügbaren materiellen und professionellen Ressourcen berücksichtigen muss. Durch das gesamte Werk hindurch wird der Anspruch verwirklicht, „die fragilen Bedingungen für das Gelingen dieses Ansatzes“ (S. 11) hervorzuheben und den schmalen Grat zwischen beidseitiger Überforderung und vermeintlich verlässlicher Routine in vielen Beispielen anschaulich zu machen.

(3) Es wird eine gute Mischung geboten zwischen Schilderungen einzelner Szenen und Fallgeschichten einerseits und der Nutzung umfassender Daten aus einer Gesamtauswertung andererseits. Dadurch wird es möglich, die Arbeit des Projekts aus verschiedenen Perspektiven kennen und einschätzen zu lernen.

(4) Die dargestellten Szenen bestehen ganz überwiegend aus der Wiedergabe von einzelnen Dialogen zwischen Pädagog*innen und Adressat*innen in ganz verschiedenen Alltagssituationen. Sie illustrieren die fachliche Schwierigkeit, einen Konflikt, ein Problem angemessen und pädagogisch wirksam „zur Sprache zu bringen“ (Moch 2019; S. 73 ff.). Im Kern machen die dargelegten Dialog-Beispiele deutlich, wie schwierig und wie widersprüchlich es ist, eine sie*ihn unmittelbar und situativ betreffende Problematik (z.B. Straftaten) mit einer*m Adressat*in in einer Weise zum Thema zu machen, welche eine gewohnte destruktive Kommunikationsdynamik unterbricht. „(Es) braucht wissende und zugleich liebevolle, aber auch (..) nüchterne Blicke, die ausdrücken: 'Du und ich, wir wissen, dass ich es nicht verhindern kann. Du und ich wissen, dass es nicht in Ordnung ist. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Du und ich wissen, dass sich was ändern muss. … Wir wissen, dass es einzig und alleine auf deine Taten ankommt. …'“ (S. 18).

Fazit

Das in verständlicher und problemangemessener Sprache verfasste Werk bietet einen tiefen Einblick in einer professionelle Praxis mit „riskant agierenden“ jungen Menschen. Dabei sind die Darstellungen nicht nur dafür geeignet, einen Dialog mit Expert*innen zu vertiefen. Sie bieten auch genügend umfangreiches Anschauungsmaterial für Studierende und Lernende im gesamten sozialpädagogischen Feld.

Literatur

Baumann, M. (2020): Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler: Schneider.

Moch, M. (2019): Kompetentes Handeln in stationären Erziehungshilfen – Eine empirische Annäherung. Wiesbaden: Springer.

Schwabe, M. (2019): Eskalation und De-Eskalation in Einrichtungen der Jugendhilfe -konstruktiver Umgang mit Aggression und Gewalt in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. Wiesbaden: Beltz/Juventa.

Rezension von
Prof. em. Dr. Matthias Moch
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Es gibt 28 Rezensionen von Matthias Moch.

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Zitiervorschlag
Matthias Moch. Rezension vom 12.07.2022 zu: Mathias Schwabe, Martina Stallmann, David Vust: Freiraum mit Risiko. Niedrigschwellige Erziehungshilfen für sogenannte Systemsprenger. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 2., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-7799-6411-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29280.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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