Mathias Schwabe: Die »dunklen Seiten« der Sozialpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, 23.05.2022

Mathias Schwabe: Die »dunklen Seiten« der Sozialpädagogik. Über den Umgang mit Fehlern, Unvermögen, Ungewissheit, Ambivalenzen, Idealen und Destruktivität. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 3. Auflage. 420 Seiten. ISBN 978-3-7799-6710-1. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Mathias Schwabe geht von der Annahme aus, dass in der Sozialen Arbeit Tätige oftmals Ideale vom „guten Helfen“ verinnerlicht haben, ihre Praxis aber hinter diesem selbstgesteckten Anspruch zurückbleibt. Ausgangspunkt ist für Sozialpädagog(inn)en dabei, sich bei „halbwegs angemessener Wahrnehmung ihrer Praxis unaufhörlich von mehreren unterschiedlichen Negativitäten bedrängt zu sehen“ (S. 23). Mit dieser Praxisgegebenheit einer sich aufbauenden Spannung haben sich Sozialpädagog(inn)en in unterschiedlicher Weise auseinanderzusetzen. Nicht selten entsteht vor diesem Hintergrund Leid und Konflikt aufgrund nicht erfüllbarer Vorstellungen.
In seiner Monographie bietet der Autor eine Vielzahl an Ausstiegsmöglichkeiten an, um mit Fehlern, Unvermögen, Ungewissheit, Ambivalenzen, Idealen und Destruktivität „gut“ umgehen zu lernen.
Autor
Mathias Schwabe ist Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin, Systemischer Berater (SIT & IGST), Supervisor und Denkzeit-Trainer. 2010 - 2015 hat sich der Autor für praktische Tätigkeiten in der stationären Erziehungshilfe Urlaub von der Hochschule genommen.
Arbeitsschwerpunkte des Verfassers sind: Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit; Hilfen zur Erziehung und Hilfeplanung; Fallverstehen und Settinggestaltung für sog. „schwierige“ Jugendliche.
Entstehungshintergrund
Mit dem Thema der dunklen Seiten an sich selbst und im beruflichen Leben hat sich Mathias Schwabe viele Jahre auseinandergesetzt. Ein markanter Bezugspunkt ist für ihn als junger Student der Satz von Günther Bittner in einer Hochschulveranstaltung gewesen: „… so stellt sich die Frage, wie viel Böses man in sich tragen und auch im eigenen Handeln zulassen muss, um immer wieder auch ein guter Mensch sein zu können“ (S. 27). Eine besonders bedeutende Fundgrube für „Negatives“ im eigenen Handeln ist für den Autor – wie bereits gesagt – seine außerhochschulische Tätigkeit (als normaler Mitarbeiter) in der stationären Erziehungshilfe von 2010 bis 2015 gewesen. In diesen Jahren hat Mathias Schwabe die Wissensbestände für den Band aufbauen „und deren günstige wie desaströse, bisweilen auch gar nicht erkennbaren Wirkungen, habe beobachten können“ (S. 27).
Aufbau
Die Monographie gliedert sich in acht Kapitel. Nach einem Geleitwort von Gunter Bittner stellt der Autor in einer ausführlichen Einleitung Helfer-Ideale und Strategien der Fehlerbeseitigung vor. Es folgen im zweiten Kapitel Darstellungen zu den „dunklen Seiten“ in der Sozialpädagogik, im dritten Kapitel Sprachcodes und Semantiken des Negativen in der Sozialpädagogik und im vierten Kapitel Strategien für den Umgang mit dem „Negativen“ und für den Versuch seiner Transformation. In eher theoriebezogenen Kapiteln geht es um Ambivalenzen im Herzen von Erziehung und Hilfe (fünftes Kapitel), um alternative Helfer(inn)en-Bilder im sechsten Kapitel und im siebten Kapitel um alternative Formen der Einschätzung und des Umgangs mit dem Negativen oder dem „Bösen“ in uns. Das abschließende achte Kapitel formuliert Vorschläge für alternatives Denken, Reden und Handeln im Rahmen von Ambivalenzkultur:
Das Besondere an diesem Fachbuch besteht darin, dass zwischen den Kapiteln Aphorismen eingefügt sind. So macht der Aphorismus am Ende des siebten Kapitels neugierig mit der Überschrift „Seinem Affen Zucker geben…“ und der das Buch abschließende Aphorismus „Mit Spatzen auf Kanonen schießen“.
Hervorzuheben sind auch Geschichten aus der Praxis der stationären Erziehungshilfe und aus Fort- und Weiterbildungen, in denen der Verfasser wie in einem Selbstreport von eigenen Fehlern in seiner Tätigkeit berichtet.
Ein bemerkenswerter Hinweis, der den Rezensenten neugierig macht, findet sich in der Einleitung: Die drei theoretischen Exkurse müsste man nicht lesen, falls der Text auch so überwiegend einleuchtet und man keinen Bedarf an Hintergrundwissen verspürt, so der Autor.
Inhalt
Es beginnt mit einer ungewöhnlichen Widmung: „Gewidmet allen Kindern und Eltern, denen ich `schlecht` geholfen oder mehr geschadet als genützt habe“. Danach werden Namen von Kindern und Eltern genannt. In seinem Geleitwort hebt Günther Bittner hervor (S. 12), der Drang zur gnadenlosen Optimierung von Mensch und Welt sei unausrottbar, er lasse uns `Verschlimmbesserungen` am laufenden Band produzieren, in diesem Zusammenhang Sigmund Freud zitierend, alle die edler sein wollten, als ihre Konstitution es ihnen gestattete, verfielen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein.
In der Einleitung setzt sich Mathias Schwabe mit sechs nach innen vermittelten Außenperspektiven bzw. Anspruchsgruppen auseinander, die Sozialpädagog(inn)en einnehmen, um sich zu fragen, wie sie gehandelt haben. Dies sind: Klient(inn)en, Kolleg(inn)en, Vorgesetzte, die Öffentlichkeit die Fach-Öffentlichkeit und vor allem für Berufseinsteiger(inn)en Ausbilder(inn)en und Dozent(inn)en aus Hochschulen. Die Eigeneinschätzung sei für Sozialpädagog(inn)en schon deshalb schwierig, weil die Anspruchsgruppen unterschiedliche, wenn nicht gar widersprüchliche Ansprüche an das Handeln stellen. Aus ihnen erwachsen, zumeist auf Dauer gestellt, handlungsbezogen Balanceakte. Diese bieten dem Autor die Basis zur Entwicklung von „fünf blinden Flecken“: zum einen die widersprüchlichen Wertmaßstäbe, die Mittelmäßigkeit im sozialen Handeln, die Ambivalenz, die fehlende Einsicht, dass das eigene Handeln schwer fassbar ist und in vielen Situationen auch unbestimmt bleiben muss und schließlich wirft man mit Vermeidungs- und Verbesserungstechniken von Negativem einen Graben zu anderen Denkansätzen auf (S. 26).
Hervorzuheben ist der theoretische Diskurs zu moralischer Kommunikation (im Sinne von N. Luhmann), zumal dieser Diskurs zentrale Hintergründe für die praxisbezogenen Darstellungen und ihre Interpretation liefert. Es wird davon ausgegangen, dass zur Aufklärung und kommunikativen Bearbeitung von Schwächen und Fehlern überwiegend nicht fachliche Überlegungen beitragen, sondern moralische Kommunikation. Sie sei nicht rundum negativ zu bewerten und könne nicht einfach durch eine andere Kommunikationsform ersetzt werden. Vielmehr sei moralische Kommunikation praktisch und werde von den Funktionssystemen von außen nahegelegt (S. 33). Sie kann allerdings durch ihre binären Codes zu Dichotomien anregen und damit zur Schwarz-Weiß-Malerei wie auch zu Pseudo-Lösungen. Schwabe fragt (S. 45), ob es Alternativen zur moralischen Kommunikation gibt, die mögliche Fallen vermeiden. Antworten darauf werden in den nachfolgenden Kapiteln vorgestellt.
Im zweiten Kapitel stellt Mathias Schwabe dar, was Sozialpädagog(inn)en als `negativ` erleben, für einen Fehler halten, als Unvermögen und Schwäche einschätzen und wie sie zu solchen Urteilsfindungen gelangen. Zwölf Skizzen zu Gestalten des Negativen als `dunkle Seiten der Sozialpädagogik` sind die markanten Darstellungsfelder des zweiten Kapitels. Den Anfang bilden Darstellungen zur Gewalt gegen Klienten, zumeist in Konfliktsituationen, insbesondere gegen Kinder und Jugendliche. Es folgen anschauliche, beispielbezogene Ausführungen zu Formen von Zwangsausübung, in denen Ängste erzeugt werden, zu sexuellem Begehren, u.a. sexuelle Anspielungen, ferner Unachtsamkeit, Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und andere seelische Grausamkeiten, die Nicht-Einhaltung von Regeln und Absprachen, wie z.B. die Nicht-Erledigung von Aufträgen, des Weiteren Lustlosigkeit, Erschöpfung, Dienst nach Vorschrift, Unterwerfung unter das Diktat der Ökonomie unter Inkaufnahme von fachlichen Mängeln bis hin zu unangemessenem Umgang mit eigenen Fehlern. Die Skizzen werden vom Autor eingehend interpretiert. So werden z.B. Antworten auf die Frage angeboten, um welche Situationen es sich in der stationären Erziehungshilfe handelt, in denen Gewalt ausgeübt wird und warum sich diese in stationären Kontexten auch schon in den ersten Tagen oder Wochen eines Hilfeprozesses ereignen (S. 62 ff.). Die Beispiele reichen von „besonders dramatischem Scheitern“ bis hin zu Formen des Zwingens (S. 76 f.).
Spannend sind die szenischen Darstellungen nicht zuletzt deshalb, weil Heranwachsende gewaltbezogene Konfliktsituationen oftmals ganz anders erleben. Unterschiedliche Situationsdefinitionen öffnen den Blick für Fragen, die landläufig in sozialpädagogischen Arbeiten nicht gestellt werden. So stellt Mathias Schwabe die Frage: „Kann es sein, dass Gewalthandeln zumindest bei einigen Sozialpädagog(inn)en gleichzeitig mit menschlicher Wärme verbunden war […] und beide sogar zusammenhingen?“ (S. 71). Es werden darauf zumindest im praktischen Kontext plausible Antworten, in Frageform formuliert, gegeben. Bezogen auf die „dunklen Seiten“ heißt es: „Vielleicht auch, weil jene `dunklen` auch ihre warmen Gefühle wieder fließen ließen? Warme Gefühle, die heute vielleicht an manchen Orten fehlen, weil Erziehung zu erfolgreich versachlicht, d.h. zwar von den `heißen` destruktiven, gefährlichen, aber vielleicht auch von `innigen` bzw. `leidenschaftlichen` Gefühlen gereinigt wurde? Professionalisiert, aber entemotionalisiert?“ (S. 71).
Viele weitere Beispiele lassen sich benennen, in denen der Autor Einblick in die Innenseite von Geschehensabläufen aus der Alltagspraxis stationärer Erziehungshilfe vermittelt, z.B. in Bezug auf Unachtsamkeit, Lieblosigkeit und andere seelische Grausamkeiten. Es bleibt in den Darstellungen nicht nur beim anschaulichen Beschreiben, sondern Mathias Schwabe liefert immer wieder alltagsfundierte, aber auch theoretisch untermauerte Erklärungen.
Oftmals fehlt in der Praxis die Kraft zur Selbstwahrnehmung bzw. die „nötige Distanz zur Selbstbeobachtung“ (S. 98). Durch Beispiele und ihre alltagsnahen Erklärungen werden auf diesem Weg bei den Lesern Bilder erzeugt, die das Selbstverstehen differenzieren. Vor allem bieten die Beispiele und ihre Interpretation die Möglichkeit, sich von der Fessel des Gutseinmüssens zu befreien und beunruhigende Anwandlungen eigener Destruktivität zu akzeptieren und bewältigen zu lernen. Weitergehende Interpretationsangebote liefern Erläuterungen durch Literatur, z.B. auf die schlichte Frage „Warum bin ich böse? Wer hat mir diese destruktiven Neigungen eingeimpft?“ (S. 101 f.). Hier lässt der Verfasser P. Schellenbaum die Antworten geben. Sie sind pointiert und überzeugend: „Destruktivität gehört zur leibseelischen Konstitution der Menschen und aller Lebewesen. Das Leben schafft und zerstört sich stets von Neuem. Destruktivität lässt sich nicht aus der Welt schaffen“ (S. 102). Mathias Schwabe betont, dass in den meisten Ausbildungen störende Gefühle, etwa solche zur Destruktivität, abgefangen werden, aber nicht gelernt wird, „sich auf sie als Dauergäste einzustellen“ (S. 102). Die Darstellungen zu den weiteren Gestalten des Negativen bzw. der dunklen Seiten der Sozialpädagogik sind ähnlich strukturiert und intensiv dargestellt, sei es in Bezug auf erlebte Unlust, Dienst nach Vorschrift oder Unterwerfung unter das Diktat der Ökonomie unter Inkaufnahme von fachlichen Mängeln. Unter dem Strich ergibt sich die Einsicht: Die eigene Praxis bleibt immer wieder hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Im Konjunktiv formuliert der Autor (S. 128); man müsse seine eigenen Helfer-Ideale auf den Prüfstand stellen und die eigenen Fehler mutig und offen untersuchen bzw. die unaufhebbaren Ambivalenzen aushalten und akzeptieren (S. 128).
Den Schlusspunkt zum zweiten Kapitel setzt der Aphorismus Drei moralische Regeln.
Im dritten Kapitel geht es um häufig in der Sozialpädagogik genutzte Sprachcodes und Semantiken des Negativen und Positiven. Gutes berufliches Handeln werde in erster Linie im Rahmen einer `moralischen Kommunikation` verwendet. Sie orientiert sich vor allem an Begriffspaaren bzw. binären Codes. Wichtige Begriffspaare in der Sozialpädagogik sind u.a.: gut-nicht gut/schlecht, schön-schlimm/hässlich, menschlich-unmenschlich, richtig-falsch, fachlich-unfachlich, professionell-unprofessionell, korrekt-inkorrekt, konstruktiv-destruktiv, sinnvoll-sinnlos, geplant-ungeplant, passend- unpassend und stimmig-unstimmig. Um diese dreizehn Codes im Einzelnen geht es im dritten Kapitel, ähnlich dicht dargestellt wie die `Gestalten des Negativen` des zweiten Kapitels, beginnend mit sechs Vorbemerkungen zu den Codes.
Im dritten Kapitel wird unterschiedlichen Semantiken des Negativen und Positiven nachgespürt. Ihre Relevanz ergibt sich aus der Annahme, weil mit ihnen „unterschiedliche Anforderungen vonseiten des Ich-Ideals oder unterschiedlicher Anspruchsgruppen“ (S. 135) verbunden sind. Ist z.B. etwas gut oder nicht gut, dann ist es meistens auch fachlich oder nichtfachlich, professionell oder eben unprofessionell. Positives zieht anderes Positives nach sich und entsprechend Negatives anderes Negatives. Im Zentrum des dritten Kapitels wird dies deutlich herausgearbeitet. Eine wichtige Frage ist, wie Sozialpädagog(in)en nun mit den jeweiligen Bilanzen, vor allem den negativen, umgehen. Darum geht es vorrangig im vierten Kapitel.
Am Ende des dritten Kapitels findet sich der zweite theoretische Diskurs: Glanz und Elend des Ich-Ideals. Der Diskurs folgt den Argumentationslinien der französischen Analytikerin Janine Chasseguet-Smirgel. Mit der Entwicklung des Ich-Ideals, zumeist in der frühen Kindheit, etablieren sich Vollkommenheitsansprüche an die eigene Person. Diese würden sich verselbstständigen und Züge einer imaginären Person annehmen (S. 159). Oftmals sind mit dem Ich-Ideal moralische Anforderungen verknüpft. Erforderlich sei es für die eigene psychische Gesundheit, „eigene Grenzen anzuerkennen und zu hohe Ansprüche zu mäßigen“ (S. 165). Verletzungen eigener Vollkommenheitsansprüche begünstigen das Entstehen von Schamgefühlen. Der Autor hebt hervor, dass das Ich-Ideal auch in den regressiven Sog einer Idealisierung von Führer(inn)en führen kann.
Das vierte Kapitel befasst sich mit Strategien für den Umgang mit dem `Negativen` und für den Versuch seiner Transformation. Vorgestellt werden individuelle und institutionelle Strategien zur Tilgung des Negativen. Es geht bei den individuellen Strategien z.B. um Relativieren und Verrechnen, um Rechtfertigen und Exkulpieren, um halbherzige Fehlerbehandlungen, um Externalisieren und Fremd-Attribuieren, um Verleugnen und Verdrängen etc., bei den institutionellen Strategien z.B. um institutionelle Verdrängungsleistungen, um Dämonisierungen und Sündenbock-Vertreibungen etc. Grundlegend geht es in Institutionen oft um Distanzierung von eigenen Fehlern, aber auch um Lernbereitschaft, Fehler wahrzunehmen und Verbesserungen anzubahnen. Wie im vorangegangenen Kapitel auch werden in einem Fazit die Kernaussagen zu den aufgeführten Umgangsformen mit der Wahrnehmung ds Negativen in der eigenen Arbeit zusammengefasst.
Im fünften Kapitel geht es um grundlegende Ambivalenzen, die das sozialpädagogische Handlungsfeld durchziehen. Erkennt man Ambivalenzen, besteht die Chance, sich von ihnen zu distanzieren und bei Selbst- und Fremdeinschätzungen polyvalent zu handeln. Polyvalenz hat den Nachteil, weniger subsumierbar zu sein, aber den Vorteil, mit höherer Komplexität und größerer Fehlerfreundlichkeit umgehen zu können. Nach der Einführung der Ambivalenz als Denkfigur werden unterschiedliche Ambivalenzformen vorgestellt: u. z. erkenntnistheoretische Ambivalenzformen, „Ambivalenzen im Herzen von Erziehung, Gewalt, Zwang, Disziplin – dunkle Gestalten an der Wiege sozialer Entwicklungen“ ( S. 253 ff.) sowie „Ambivalenzen im Herzen von Hilfe: Dilemmatische Entscheidungssituationen in der Sozialen Arbeit“ (S. 266 ff.). (Ein Dilemma bei Hilfe/​Intervention zeigt sich, beabsichtigt-unbeabsichtigt, im Text markant durch das Weglassen des Buchstaben l im Wort beschlossen. So entsteht das Wort beschossen! Eine bespielbezogene Ausführung des Autors zum Negativen).
Am Ende des Kapitels schreibt Mathias Schwabe, entweder habe seine Argumentation zu Ambivalenzen überzeugt oder auch nicht (S. 278) und nennt für Skeptiker noch weitere ambivalente Spannungsfelder. Mich hat seine Argumentation zu Ambivalenzen überzeugt.
Das sechste Kapitel beginnt mit der Frage, welches Bild von der `guten Helferin, dem guten Helfer` in der Fachöffentlichkeit gezeichnet wird (S. 280). Dabei spielen Bilder der Vollkommenheit eine größere Rolle, die nicht weit weg sind vom Bild des Ich-Ideals. Mathias Schwabe stellt zu Beginn des Kapitels zwei unterschiedliche Klassiker dar: zum einen Schmidbauers Helfer-Bild des hilflosen Helfers, zum anderen das bissige Bild zur Kritik der Moral, der Kritik des vermeintlich `guten Menschen`, von Friedrich Nietzsche. Es folgen anschließend Bilder, die zur Identifikation einladen: z.B. die mit `Begrenztheit` identifizierte Helferin von V. Robinson, J. Taft und B. Müller. Ein ganz anderes Bild entsteht in der Figur der leidenschaftlichen Helferin. Sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten „und traut der Stimme ihres Herzens“ (S. 303). Vorgestellt werden ferner der/die `abgeklärte` Helfer/in, der Helfer als `Spiel(end)er` und schließlich auch der Helfer als Sisyphos nach S. Bernfeld. Am Ende fragt der Verfasser: “War ein Bild dabei, das den/die Leser/in angesprochen hat?“ (S. 324). Wenn nicht, dann müsse der Leser/die Leser/in weitersuchen, die Welt sei voller Galerien, besser noch sei es, sich ein eigenes Bild zu machen.
An Ende des sechsten Kapitels folgt der dritte theoretische Diskurs: Arbeit (an) der Negativität – philosophische Einlassungen mit `negativem Denken`. Dabei orientiert sich der Autor an einem Tagungsband von Angehrn und Küchenhoff (2014) mit dem Titel Die Arbeit des Negativen – Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, indem zwischen theoretischem und praktischem Negativismus mit weitergehenden Unterformen unterschieden wird, und es schließlich um Verbindungen zwischen ihnen geht.
Mathias Schwabe lässt im weiteren Verlauf seiner Monographie den/die Leser/in nicht im Regen stehen. Das siebte Kapitel widmet sich dem Thema Alternative Formen der Einschätzung und des Umgangs mit dem Negativen oder `Bösen` in uns. Dabei stellt sich der Autor immer wieder den lesenden Menschen vor, welchen Eindruck wohl die Vorschläge in Bezug auf schwierige, vermeintlich fehlerhaften und in Schuld verstrickten Handlungen auf jenen machen. So widmet sich das Kapitel der Frage, ob es nicht einer Ethik bedarf, „die das, was wir jetzt gerade tun, steuern helfen kann und die uns hilft, mitten in der Praxis, in von Handlungsdruck und Unumkehrbarkeit geprägten Situationen, das Angemessene und Richtige zu tun?“ (S. 382).
Im abschließenden achten Kapitel geht es um Antworten auf die Zweiwortfrage So what? mit anschließenden Vorschlägen für alternatives Denken, Reden und Handeln im Rahmen von Ambivalenzkultur. Nach einer knappen Zusammenfassung bzw. Rekapitulation der sieben Etappen (Kapitel) des Buches liefert der Autor nach einer ausgedehnteren Darstellung der Ausgangssituationen und Alternativen, in denen er über die bislang in der Monographie beschriebenen hinausgeht, persönliche Beschreibungen und Empfehlungen für die Gestaltung institutioneller Verfahren der Fehlerbehandlung. Die unter dem Schlagwort Kultur der Ambivalenz aufgeführten Erläuterungen zu Alternativen klingen fast etwas banal, da sie nicht fallbezogen verankert sind. So lese ich (S. 389): „Man achtet darauf, einmal in der Woche institutionsöffentlich einen Fehler oder eine eigene mittelmäßige Handlung anzusprechen (im Team, bei einer Besprechung, gegenüber dem Vorgesetzten, bei einer Konferenz) und achtet darauf, wie es einem selbst damit geht und wie die anderen dabei mit einem umgehen“. Spannend wird es aber, wenn Ambivalenz auf den Begriff des `Fehlers` angewendet wird und die Gesichtspunkte in der institutionellen Kommunikation öffentlich gemacht werden und Fehler ergebnisoffen untersucht werden. Es wird in den Ausführungen sichtbar, dass es keine Wahrheit und objektiv richtige Einordnung Fehler betreffend gibt. Sichtbar wird, dass zu Fehlern im institutionellen Kontext zu stehen, alles andere als leicht bzw. selbstverständlich ist, zumal es immer auch um die Frage von Macht geht. In diesem Zusammenhang stellt sich fast wie von selbst die Frage (S. 395): „Wie soll bzw. kann man in der Institution über Fehler und Mittelmäßigkeit reden?“ An einem Praxisbeispiel wird ersichtlich, dass öffentliches Reden über Fehler sehr heikel, aber doch nicht zu vermeiden ist. Die Möglichkeiten und Grenzen beim Sprechen über Fehler stehen in einem Zusammenhang mit den wahrgenommenen Sprecherpositionen. Eine Tabelle veranschaulicht dies deutlich (S. 398 f.). Und ein weiteres Praxisbeispiel zeigt, wie das Sprechen über Fehler und Schuld gelingen kann. Aufbauend auf dem Beispiel formuliert Mathias Schwabe 18 Empfehlungen für Sozialpädagog(inn)en, „zu deren Aufgabe es gehört, andere hinsichtlich der Qualität ihres Handelns zu beobachten, zu bewerten, zu beobachten, zu bewerten und `Fehler` anzusprechen“ (S. 401). Der Band endet mit etwas bemerkenswert Konkretem: mit institutionellen Orten, Zeiten und Ritualen für `dunkle Seiten` und `Ambivalenzen` und damit dem Anliegen, dem Negativen, den dunklen Seiten Orte und Zeiten einzuräumen, gewissermaßen als Gegenwirkung zu Orten und Zeiten, in denen es darum geht, über Erfolge und Gelingen zu reden und sich selbst mit positiven Glaubenssätzen zu motivieren. Dies ist in der Tat dann ein plausibler raum- und zeitbezogener Ausdruck von Ambivalenzkultur. Schade, dass der Autor der Umsetzungsmöglichkeit selbst nicht recht traut, wie er im letzten Absatz des Buches formuliert und das Negative und die dunklen Seiten nur „auf heimlichen, vorbewussten, entlegenen, nicht direkt zugänglichen Wegen“ (S. 412) sieht.
Diskussion
Nur den Inhalt in den letzten Seiten widerzugeben, ist mir nicht gelungen, da Beispiele und Stellungnahmen des Autors zu den dunklen Seiten sozialpädagogischen Handelns und seiner institutionellen Bedingungen so engagiert und überdies erfahrungsgesättigt formuliert worden sind! Dies verlangt bereits im Abschnitt Inhalt eine direkte eigene Stellungnahme von mir.
Der Band bearbeitet ein zentrales Thema im sozialpädagogischen Alltagsgeschehen: das Fehlermachen und den Umgang mit ihm. Ähnlich wie Scheitern gibt es wenig Wahrnehmungsmöglichkeiten im öffentlichen institutionell geprägten Sozialraum. Das Zeigen positiver Beispiele erfährt in Theorie und Praxis zumeist eine hohe Wertschätzung, unterfüttert in der Regel durch positives Denken.
Die theoretischen Diskurse sind als Rahmengeber des Buches von großer Wichtigkeit. Sie geben einen Einblick in die Grammatik der praktischen Darstellungen. Ich kann mir noch einen weiteren, anthropologisch fundierten Theoriediskurs vorstellen: der Mensch als Fehlermacher. Das Nichtkönnen bzw. Noch-nicht-können sind konstitutive Seiten von Lernen und Handeln. Helfen bedeutet in diesem Sinne Unterstützung beim Abbau von Noch-nicht-können. Ob und wie dies gelingt, ergibt sich aus der sozialpädagogischen Diagnose. Eine Aufmerksamkeitsrichtung in diesem Sinne würde Sozialpädagog(inn)en und Heranwachsenden Entlastungen ermöglichen und Erfolgsdruck wegnehmen.
Spannend sind die im Band formulierten theoretischen Diskurse auch noch in anderer Hinsicht, zeigen die beiden ersten Diskurse insbesondere doch sehr deutlich, unter welchen persönlichen Voraussetzungen Professionelle bereit sind, moralisch zu handeln. Ich frage mich vor diesem Hintergrund: Unter welchen Umständen und wann beginnen Fachkräfte eigentlich, moralisch zu kommunizieren? Und wann endet eine solche Form der Kommunikation?
Mathias Schwabes Monographie ist ein Beleg dafür, dass die sozialpädagogische Tätigkeit kaum technologisierbar ist. In diesem Zusammenhang spricht Fritz Schütze von Fallbearbeitungsparadoxien. Überzeugend verweist Mathias Schwabe auf eine Vielzahl von „Ambivalenzen im Herzen von Erziehung und Hilfe“. Widersprüche und Paradoxien prägen das alltägliche Handeln, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Erwartungen der Klient(inn)en, der Eltern, der Vorgesetzten und der Kolleg(inn)en. Rettender Anker kann die Reflexivität sein, um nicht nur Belastungen aushalten zu können, sondern auch sich zwischen ganz Unterschiedlichem bewegen zu können: zwischen Lassen und Intervenieren, zwischen Eskalation und Deeskalation, zwischen Freiheit und Zwang, Nähe und Distanz sowie Hilfe und Kontrolle. Den Rezensenten hat verwundert, dass der Autor die konstitutiven Widersprüche im sozialpädagogischen Handeln nicht in Gestalt von Antinomien gesehen hat.
Einige Mühe haben mir Einlassungen des Autors bereitet, die er in seiner Praxis gesammelt hat und dann in verallgemeinernden Sätzen formuliert, verknüpft mit einem Häufig oder Oftmals. Auf dem Hintergrund einer ansonsten lebendigen Textinszenierung, die von intensiver Anschaulichkeit, über Aphorismen bis hin zu theoretischen Impulsen reicht, relativiert sich aber diese angesprochene Mühe. Erst im Verlauf der Lektüre ist mir deutlich geworden, dass es primär nicht darum gehen darf, nach den handelsüblichen wissenschaftlichen Kriterien, z.B. denen qualitativ empirischer Forschung, die Qualität dieses Buches zu bewerten. Vielmehr habe ich mich im Verlauf der Lektüre zunehmend persönlich angesprochen gefühlt: mich gefreut, geärgert, auch Bestürzung erlebt. So hat mich die thematische Zielsetzung, die dunklen Seiten der Sozialpädagogik herauszuarbeiten, immer stärker fasziniert.
Fazit
Mathias Schwabe ist sich unsicher, ob dieses Buch auch für Studierende geeignet ist. Er empfiehlt ihnen, falls ihnen das Buch in die Hände falle, sei es ihre Sache, daraus klug zu werden oder es irritiert wegzulegen und sich davor zu schützen (S. 30). Der Autor hat beim Schreiben in erster Linie an die Zielgruppe der Kolleg(inn)en gedacht, die schon einige Jahre Arbeit auf dem Buckel haben. Ich meine, auch für Studierende kann der Band wichtige Anstöße geben, während ihrer Ausbildung die vielfältigen Seiten der Sozialpädagogik in den Blick zu nehmen. Dabei können die theoretischen Exkurse zu moralischer Kommunikation und zum Ich-Ideal überdies reflexive Auseinandersetzungen anregen.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt
Prof. em. an der Universität Trier, Fach Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
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