Waltraut Barnowski-Geiser: Krankheitsscham
Rezensiert von Diplom-Psychol. Jens Flassbeck, 30.06.2022
Waltraut Barnowski-Geiser: Krankheitsscham – die verborgene Emotion. Erkennen, verstehen, helfen.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
196 Seiten.
ISBN 978-3-608-89278-9.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Leben lernen - 330. .
Vorweg
Der Rezensent ist Psychotherapeut mit dem Schwerpunkt der Behandlung von komplexer PTBS. Betroffene Klienten haben in der Kindheit erniedrigende Erfahrungen gesammelt, für die sie sich schämen und schuldig fühlen, und es ist ihnen zudem peinlich, erkrankt und hilfebedürftig zu sein. Hinzu kommen häufig weitere psychosomatische Störungen wie Schmerzstörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder Essstörungen, die die Schamdynamik weiter verstärkt. Diese ist wie ein Sumpf, in den die Betroffenen – gleichgültig ob sie stillhalten oder strampeln – immer tiefer versinken, wie Barnowski-Geiser es metaphorisch umschreibt (S. 10).
Zeitgleich mit dem Empfang des Rezensionsexemplars hat der Rezensent eine komplex traumatisierte Klientin in Therapie aufgenommen, die schon in den ersten Stunden mehrfach äußerte: „Das ist so peinlich, ich möchte am liebsten im Boden versinken.“ Der Rezensent nahm sich vor, das Buch zu nutzen, um eine gute Therapeut-Klient-Allianz herzustellen und den Prozess der Selbstauseinandersetzung der Klientin anzustoßen. Darüber wiederum sollten die Inhalte des Werkes auf ihre praktische Relevanz überprüft werden.
Autorin und Hintergrund
Frau Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Lehrerin für Deutsch und Musik, promovierte 2009 über das Thema „Musiktherapie bei familiärer Suchtbelastung“, hat den Ratgeber „Vater, Mutter, Sucht“ (2021) für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien publiziert und ist in Freier Praxis als Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig. Das Schamthema begleitet die Autorin beruflich schon lange (S. 180): „Mit fortschreitender Erkenntnis begegneten mir zunehmend Menschen in meiner therapeutischen Praxis, die von Krankheitsscham belastet waren.“ Darüber hinaus ist sie persönlich biografisch betroffen (S. 180): „Ich brauchte viele Jahre, um festzustellen, dass ich, so wie andere in meiner Familie, in etwas gefangen war, für das ich noch kein Wort hatte.“
Wenn ein Mensch erkrankt, gleichgültig ob somatisch oder seelisch, passiert Scham. Und wenn sich eine erkrankte Person einer anderen, helfenden Person offenbart, löst dies ebenfalls Scham im Gegenüber aus (S. 10): „Wenn Schamabwehr und Verdrängung im Vordergrund stehen, fühlen sich Kranke gelähmt, Ärzte und Therapeuten hilflos.“ Das peinigend komische Gefühl ist gleichermaßen Risiko als auch Chance in der Begegnung zwischen Erkranktem und Helfer. Der Umgang damit ist eine Gratwanderung, die darüber entscheiden kann, ob Beziehung, Behandlung und Heilung gelingen. Das Anliegen der Autorin ist daher, dem „verdrängten Nebenschauplatz“ mit ihrem Buch „einen Platz auf der Hauptbühne“ zu geben (S. 10) und sie formuliert einen hohen Anspruch (S. 180):
„In der therapeutischen Szene fanden sich zu diesem speziellen Phänomen keine Arbeit. Ich machte mich somit auf eine Pionierreise. Dieses Buch möchte hier erhellen und sensibilisieren, einen neuen Therapiepfad aufzeigen.“
Inhalt
Das Buch ist in zwei große Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel „Krankheitsscham erkennen“ geht es darum, das stumme Phänomen der Krankheitsscham sprachlich zu fassen, es aus dem Dunkel des Verborgenen, des Wegschauens und Verleugnens ins Licht des Erkennens zu holen. Die Autorin analysiert dafür die sprachliche Metaphorik der Scham, um sich dem Thema anzunähern und es für den Leser lebendig werden zu lassen. Um einige Kostproben zu geben, heißen Abschnitte: „Isolierzelle“, „Zwischen Präsentierteller und Kloake“, „Heimatlos“ oder „Vereist über dem Vulkan“ (S. 24 – 29).
„Die mit dieser massiven Krankheitsscham einhergehenden Phänomene, sinnbildlich der »Vulkan«, drohen jeden Augenblick auszubrechen. Das Unkontrollierbare dieser Emotion macht Angst, nur das »Nicht-mehr-Wahrnehmen« und »Nicht-mehr-Fühlen« erscheint als Ausweg: Die Betroffenen vereisen gleichsam die glühende Lava. In der Folge wirken sie seltsam erstarrt, eisig, eiskalt, womöglich gefühllos, teils schamlos.“
Außerdem werden biografische Vorbelastungen, wie ungünstige Bindungserfahrungen und traumatische Würdeverletzungen, die für Krankheitsscham vulnerabel machen, dargestellt. Alle Ausführungen werden durch Fallbeispiele konkretisiert.
In zwei weiteren Unterkapiteln werden die beiden Aspekte des Titelthemas, Krankheit und Scham, gesondert betrachtet. Die Autorin erläutert medizinische, ethisch philosophische, psychologische, kulturelle und gesellschaftliche Modelle und Erkenntnisse. So werden u.a. psychoneuroimmunologische Implikationen der Stress- und Immunsystemforschung und Formen der Emotion Scham dem Leser nahegebracht. Im letzten Unterkapitel werden konkrete Erkrankungen in Bezug auf die Schamvulnerabilität analysiert, z.B. in Bezug auf Essstörungen (S. 70):
„Immer führt die Krankheitsscham auf die Spur, sich abseits einer bestimmten Norm unwert und liebensunwert zu fühlen. Abseits eines bestimmten Gewichts fühlen sich diese Menschen defekt, schwach und teils schmutzig. Sie befürchten verlassen zu werden, keinen Partner zu finden. Dieses befürchtete Nicht-geliebt-Werden wird zur Bedrohung der Identität, zur Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz.“
Im zweiten Kapitel „Krankheitsscham: Verstehen und Helfen“ geht es um anwendungsbezogene Implikationen. Es beginnt mit zwei Unterkapiteln zu therapeutisch konzeptionellen Überlegungen. Beispielsweise leitet Barnowski-Geiser entwicklungspsychologisch und neurowissenschaftlich her, dass die traumatisch bedingte Schambereitschaft einen therapeutischen Ansatz benötigt, der auf der unbewussten, leiblichen und emotionalen Ebenen ansetzt, um die tiefen Erlebensstrukturen zu erreichen und abzumildern (S. 98): „Zu stark scheinen die emotionalen Verstrickungen, als dass es über Logik und Einsicht allein einen Weg herausgeben könnte.“
Die beiden folgenden Unterkapitel bauen aufeinander auf und sind der Diagnostik der Krankheitsscham und dem Therapiekonzept Vivace gewidmet. Das Diagnosekonzept beinhaltet acht schambezogene Aspekte des körperlichen, emotionalen und Selbsterlebens sowie des sozialen Netzwerks, der Bindungsgeschichte und der Transgenerativität. Diese Dimensionen sind in einem Erhebungsbogen mit konkretisierenden Fragen zusammengefasst.
Das Vivace-Hilfskonzept bringt die Autorin wie folgt auf den Punkt (S. 144):
„Das allgemeine Erstarrt-Sein wieder ins Fließen zu bringen, in das Bewegte, Lebendige, Weite, Integrierte und Freie, ist eine zentrale Intention, die mit dem Vivace-Hilfe-System verfolgt wird.“
Der Begriff Vivace ist dem musiktherapeutischen Hintergrund der Autorin geschuldet und steht für ein schnelles, lebhaftes musikalisches Zeitmaß. Der Begriff bildet sich aus den Kapitelbuchstaben der sechs Therapie-Bausteine (S. 144 – 179):
- Verbindung: Es sind sowohl die Therapeut-Klient-Beziehung wie auch die achtsame Verbindung zur Leiblichkeit und der erkrankten Seele bzw. dem erkrankten Organ gemeint.
- Innenwendung: Die Klienten werden angeleitet, die inneren Instanzen – innere Kind, innere Kritiker etc. -sowie die innere Vielfalt und Freiheit zu entdecken, um die Krankheitsscham zu integrieren.
- Verortung: Die Beheimatung in sich als sicherer Ort für Selbstwertgefühl und emotionales Erleben wird gefördert und die Klienten werden angeleitet, eigene Standpunkte zurückzugewinnen.
- Ausdruck: Künstlerische Formen und kreative Medien werden genutzt, damit die Klienten sich im Sprachlosen, Verdrängten und Schmerzhaften ausdrücken lernen, um Ohnmacht zu überwinden.
- Coping-Adaption: Altes rigides Coping-Verhalten, in Alarm zu sein und aufzupassen, soll abgebaut und alternative, flexible Bewältigungsstrategien aufgebaut werden.
- Engagement entwickeln: Die Klienten werden angeregt, die Rolle des passiv erduldenden Patienten zu hinterfragen, und wieder zum handelnden Subjekt in ihrem Leben zu werden.
Zu jedem Baustein bietet Barnowski-Geiser konkrete Anleitungen zu therapeutischen Übungen, wie beispielsweise zur atemtherapeutischen Erlebensaktivierung, zur Umstrukturierung von unbewussten Glaubenssätzen oder zur werteorientierten Lebensumgestaltung.
Diskussion
Die Diagnostik von neurotischen und Belastungsstörungen nach Kapitel F4 der ICD-10 (Dilling et al., 2018, S. 190 - 208) und auch die Psychotherapie, allen voran die in Deutschland dominierende Verhaltenstherapie, sind stark auf die Emotion Angst fixiert. Z.B. wird in den Diagnosen Soziale Phobie und PTBS oft das Angst genannt, was Scham ist, und so die Bedeutung der Scham vergessen. Die Autorin Maren Lammers hat 2016 mit dem Buch „Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld“ vorgelegt. Die Herangehensweise von Barnowski-Geiser geht darüber hinaus und ist fundamentaler. Krankheitsscham wird nicht nur symptomatisch als Teil eines Störungsprozesses verstanden, vielmehr zielt das Buch auf einen Prozess ab, der Krankheit zugrunde liegt. Krankheitsscham und störungsbezogene Scham stehen demnach in einer Wechselwirkung. Dieser Prozess kann sich dysfunktional aufschaukeln, kann indes auch im Sinne von Identität, Autonomie und Würde in der helfenden Begegnung liebevoll und heilsam genutzt werden.
Das Thema einer gelingenden Therapeut-Klient-Beziehung ist keineswegs neu, doch es aus der Perspektive der Schamdynamik zu beleuchten und es therapeutisch methodisch auszuarbeiten, ist nach Meinung des Rezensenten der besondere Wert der Neuerscheinung von Barnowski-Geiser. Dabei ist erfrischend, wie sie passgenaue Interventionsformen entwickelt und dabei flexibel tiefenpsychologische, systemische, verhaltenstherapeutische und humanistische Methodik miteinander verwebt.
Die Autorin fokussiert thematisch im zweiten Kapitel auf die Psychotherapie der Krankheitsscham bei psychischen Störungen. Aufgrund ihrer Profession und aus Gründen der inhaltlichen Begrenzung ist dies nachvollziehbar. Doch das Thema hat sie im ersten Kapitel allgemeiner angelegt. Neben psychischen Störungen sind ebenfalls alle somatischen Erkrankungen von Krankheitsscham betroffen und auch diesbezüglich hängen Heilungsprozesse davon ab, dass das unterschwellige Schamthema in der helfenden Beziehung feinfühlig ausbalanciert wird. Angesichts von Geldknappheit, Personalnot und der in der Corona-Krise offensichtlich gewordenen Defizite im Gesundheitsbereich hat das Thema einer nicht beschämenden bzw. würdewahrenden Behandlung kranker und auch alter Menschen eine kritische, gesundheitspolitische Relevanz entwickelt. Die Inhalte sind daher ebenfalls für nicht therapeutisch tätige Berufsgruppen des Gesundheitswesens – Ärzte, Pflegekräfte, Arzthelfer, Altenpfleger etc. – bedeutsam. Das ist der zweite, nicht zu unterschätzende Wert des rezensierten Buches.
Nachschlag
Die oben angesprochene Klientin machte dem Therapeuten in der Probatorik ein kleines Geschenk. Eine Sitzung später bekannte sie, mit dem Geschenk den Therapeut manipulieren zu wollen, was sie nun peinlich bereue. Um ihr einen gesichtswahrenden Ausweg zu bieten, bot er ihr die Wahl an, entweder ihr das Geschenk zurückzugeben oder ihr das Rezensionsexemplar zu überlassen, damit sie ihm als „Expertin der Thematik“ ihre Einschätzung zurückmeldet. Sie entschied sich für das Buch und ihr Urteil war eindeutig: „Sehr interessant und sehr anspruchsvoll! Ich finde mich überall wieder.“ Auch mit Hilfe von Buchinhalten wurde ihre Problematik vertieft analysiert und es konnte darüber ein zunehmend sicherer und vertrauensvoller Kontakt etablieren werden.
Fazit
Krankheitsscham ist ein subtiler Prozess, der allen somatischen und psychischen Krankheiten zugrunde liegt. Krankheitsscham ist gleichermaßen ein Risiko und eine Chance in der Beziehung zwischen erkrankter und helfender Person. Das anwendungsbezogene Werk von Barnowski-Geiser bietet einen vielschichtigen thematischen Zugang: Medizinische, psychologische, soziologische, ethisch philosophische, kulturelle und sprachwissenschaftliche Modelle und Erkenntnisse werden dargestellt. Daraus abgeleitet wird ein Therapiekonzept, Schamerleben aus dem Dunkel und der Sprachlosigkeit der Befangenheit zu befreien und für den Heilungsprozess gewinnbringend zu nutzen. Auch wenn sich die Inhalte vorrangig an therapeutisch Tätige richten, birgt es für alle Berufsgruppen im Gesundheitsbereich wertvolle Einsichten und Reflexionen.
Literatur
Barnowski-Geiser, W. (2021). Vater, Mutter, Sucht. Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden. (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
Lammers, M. (2016). Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld: Ein Praxishandbuch. Stuttgart: Schattauer.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (Hrsg.). (2018). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch diagnostische Leitlinien (1. Nachdruck der 10. Aufl.). Bern: Hogrefe.
Rezension von
Diplom-Psychol. Jens Flassbeck
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Psychologischer Psychotherapeut
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Zitiervorschlag
Jens Flassbeck. Rezension vom 30.06.2022 zu:
Waltraut Barnowski-Geiser: Krankheitsscham – die verborgene Emotion. Erkennen, verstehen, helfen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-89278-9.
Reihe: Leben lernen - 330. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29289.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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