Manuela du Bois-Reymond: Sabah
Rezensiert von Prof. Dr. Katrin Toens, Prof. Dr. sc. oec. Uta Meier-Gräwe, 03.05.2022

Manuela du Bois-Reymond: Sabah. Rede und Antwort : Kulturaustausch in einem holländischen Gartenzimmer zwischen einer europäischenSozialwissenschaftlerin und einer syrischen Neubürgerin - eine Ethnografie. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2021. 328 Seiten. ISBN 978-3-7534-9108-0. D: 18,99 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Aufbau
Die Autorin des Buches reflektiert die Gelingensbedingungen sprachlicher Verständigung im Gegenüber und im Austausch mit ihrer neu gewonnenen Freundin Sabah, syrische Einwanderin, Ehefrau und Mutter von sechs Kindern. Dabei folgt sie der Methode des Exemplarischen. Situationsskizzen aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten in Integrations- und Sprachkursen und aus ihren Begegnungen mit Sabah und ihrer Familie dienen ihr als Reflexionsgrundlage auf der Suche nach Antworten auf „brennende“ Fragen, etwa nach der Rolle von Mehrsprachigkeit, nonverbaler Kommunikation, Offenheit, Spontanität, Akzeptanz, Anteilnahme und sozialem Miteinander. Anfängliche Irritationen über nicht eingehaltene Verabredungen von Sabah und ihrer Tochter Marwa löst die Autorin durch kontinuierliche Selbstreflexionen auf. Sie erkennt, dass dahinter weder Desinteresse noch Unhöflichkeit stecken, sondern dass in ganz konkreten lebensweltlichen Alltagssituationen zwei grundverschiedene Kulturen und ein unterschiedliches Zeitempfinden aufeinandertreffen. Dadurch wird es möglich, Frustrationen zu vermeiden und zu Sabah und ihrer Familie einen kontinuierlichen und vertrauensvollen Kontakt aufzubauen, was für eine Sozialforscherin bekanntlich die Basis ihrer Arbeit ausmacht.
Inhalt
Manuela du Bois-Reymond ist eine ausgewiesene und international anerkannte Jugend- und Bildungsforscherin, die seit 1977 an der Universität Leiden in den Niederlanden bis zu ihrer Emeritierung als Professorin für Pädagogik gelehrt und geforscht hat. Kulturübergreifende Perspektiven gehören seit vielen Jahren in ihr breites, auch qualitativ angelegtes Forschungsrepertoire. In ihrem aktuellen Buch „Sabah: Rede und Antwort“ wirft sie folgende erkenntnisleitende Fragestellungen auf: Können sprechen und Sprache Fremdheit überwinden? Welche Rolle spielt Sprache für die gelingende Integration? Was bedeutet sprachliche Verständigung im eigenen Umgang mit dem vermeintlich „Fremden“? Lassen sich Fremdheitsgefühle eher überwinden, wenn Verständigungsfragen in das reflexive Bewusstsein der Beteiligten geholt werden können? Diese und angrenzende Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die Autorin hat selbst als Deutsche, seit vielen Jahren in den Niederlanden lebend, ihre Sprachheimat hinter sich gelassen. Diese Migrationserfahrung dient ihr als Antrieb auf ihrer Suche nach einem tieferen Verständnis dieses „unerhörten Fremdheitsgefühls, das jeden von uns befällt, wenn wir nicht in der Lage sind, so zu sprechen wie uns der Schnabel gewachsen ist.“ Ohne die „Rede und Antwort“ von Sabah aus Syrien und den vielen anderen aus den damaligen Hauptfluchtländern ankommenden Menschen, die Bois-Reymond ehrenamtlich bei der behördlich angeordneten Teilnahme am niederländischen Sprach- und Integrationskurs begleitet, wäre diese Erkundungsreise nicht gelungen. Gegenstand der Reflexion sind nicht systematisch aufbereitete wissenschaftliche Quellen, sondern die Notizen der Autorin über ihr unmittelbar Erlebtes. Bruchstückhafte Erzählungen aus dem Sprachunterricht wechseln sich ab mit Detailbeobachtungen des Alltags von Sabah und ihrer Familie, den Kurzbiographien anderer Protagonist*innen, und dem Perspektivwechsel auf das eigene Handeln im quasi-fiktiven Briefwechsel mit der vertrauten Freundin aus Deutschland. Die essayistische Aufbereitung und Auswahl dieser Quellen orientieren sich an der Methode des Exemplarischen. Wie in dem gleichnamigen Buch „Rede und Antwort“ von Pierre Bourdieu, auf das sich Bois-Reymond u.a. bezieht, wird die abstrakte Frage zum komplexen Wechselverhältnis aus Sprache und (Nicht-)Verstehen im Alltagsgeschehen kontextualisiert und durch Exemplifikation (be)greifbar gemacht.
Diskussion
Am Beispiel von Situationsbeschreibungen aus dem Sprachunterricht wird verständlich, warum Spontanität und nonverbale Interaktion (das gemeinsame Lachen, Bilder anschauen usw.) eine situative Nähe erzeugen, die sprachliche Verständigung erleichtern kann. Oder warum die Begegnungen im Zusammenhang mit dem Sprachunterricht ungeeignet sind für das Ausloten der Möglichkeiten von Sprache zur Überwindung von Fremdheit. Dem steht die Erfahrung der Autorin entgegen, dass die Kommunikation zwischen ihr und den Geflüchteten einer Macht-Ohnmacht Beziehung unterliegt. So sehr sie dem auch entkommen will, sie bleibt eine Vertreterin der Macht, der sich die Geflüchteten durch ihre Flucht ausgeliefert haben. Erst durch ihre Begegnung mit Sabah trifft sie eine Frau, bei der das Interesse an der Bedeutung der Sprache für die Überwindung von Fremdheit größer ist als die Angst vor Ohnmachtsgefühlen und Enttäuschung. Auf der Grundlage der sich entfaltenden Freundschaft zwischen der Autorin, Sabah und ihrer Familie entwickelt sich wechselseitiges Vertrauen, Mut zum Risiko, und Freude am Experiment, das darin besteht, sich gemeinsam und mit offenem Ausgang auf ungewohntes Terrain zu begeben. Die Schilderung dieser Freundschaft öffnet den Leser*innen des Buches die Tür zu einem tieferen Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen sprachlicher Verständigung unter Bedingungen wechselseitiger Fremdheit. So erfahren wir etwa, wie verletzend Behördensprache für Marwa, die Tochter von Sabah, sein kann. Marwa wurde auf eine Informationsveranstaltung in die Berufsschule eingeladen, konnte vor Aufregung nicht schlafen, um dann erst auf der Veranstaltung zu erfahren, dass es lediglich darum ging, ein Formular auszufüllen und dann wieder nachhause geschickt zu werden. Irritation pur.
Auch die Autorin, deren Berufsalltag im niederländischen Wissenschaftsbetrieb zeitlich dicht getaktet war, muss sich im konkreten Umgang mit Sabah und ihrer Familie verschiedentlich mit handfesten Irritationen auseinandersetzen. So ist sie zunächst ziemlich ratlos, vielleicht sogar ein wenig verärgert, als getroffene Verabredungen zum Sprachunterricht bei ihr zu Hause von Sabah und ihrer Tochter Marwa öfter nicht eingehalten oder unerwartet verschoben werden. War es bei Marwa womöglich pubertärer Widerstand? Doch wie ihre Mutter hatte sie sich doch ausdrücklich gewünscht, zusätzliche Stunden Sprachunterricht zu erhalten. Die Autorin erinnert sich im Reflektieren über diese alltägliche Erfahrung an ein Gespräch, in dem ein syrischer Mann zu einem anderen sagt: „Stell Dir vor, die verabreden sich hier sogar zu einer Tasse Tee!“ So wird ihr klar, dass zeitlich präzise und schon vor Tagen getroffene Verabredungen in Nahostländern offenbar nicht gang und gäbe sind (Vgl. S. 89). Sie erkennt, dass dahinter weder Desinteresse noch Unhöflichkeit stecken, sondern hier in ganz konkreten Alltagssituationen zwei grundverschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Diese Einsicht ermöglicht es ihr, Frustrationen zu vermeiden und sicherzustellen, dass der Kontakt zu Sabah und ihrer Familie ein kontinuierlicher und vertrauter wird, was für eine Kultur- und Sozialwissenschaftlerin bekanntlich eine elementare Arbeitsgrundlage darstellt: „Nie war eine Partei ärgerlich: sie nicht, weil sie sich keinerlei Unhöflichkeit bewusst war, ich nicht, weil ich nicht als Erzieherin unterwegs war, sondern als Kulturforscherin.“ (Ebenda).
Die konkrete Arbeit mit den syrischen Zugewanderten veranlasst Bois-Reymond schließlich auch dazu, sich in Sachen Smartphone, wie sie – selbstironisch und mit einem Augenzwinkern – feststellt, endlich zu modernisieren. Bis dato waren sie und ihr Mann der Maxime gefolgt, dass „wer was von mir will, findet mich auch ohne Smartphone“ (S. 119). Jetzt reift die Einsicht, dass ohne Smartphone ihre weitere Arbeit gar nicht mehr möglich gewesen wäre. Also lässt sie sich kurzerhand den Umgang damit von Freunden beibringen.
Die Lektüre dieses Buches ist schließlich auch allen zu empfehlen, die sich für das Verbindende von Mahlzeiten zwischen Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten interessieren. Immer wieder kommt eines der sechs Kinder von Sabah auf dem Fahrrad vorbei, um eine Tupperdose mit Suppe, selbstgebackenen Keksen oder anderen Köstlichkeiten vorbeizubringen, verbunden mit Informationen wie ‚Mama kommt etwas später‘ oder ‚Marwa schläft noch‘ etc.
Im alltäglichen Essalltag lässt sich Fremdheit überwinden, kommen sich Forschende und Erforschte näher: Aus einer Sprachübung mit Fragewörtern „Was isst Du heute Abend?“ ergibt sich ein Gespräch darüber, was sich alles aus Auberginen kochen lässt. Sabah findet ‚Scham‘ sehr lecker: Was das ist, begreift die Autorin allerdings erst, als am gleichen Abend Houssein, einer der Söhne von Sabah, im Regen vor der Tür steht, in der Hand ein Glas mit gelber Auberginenmarmelade Jam (S. 122). Einmal verabreden sich Sabah und Bois-Raymond zu einem gemeinsamen Einkauf für ein syrisches Gericht und kochen es dann gemeinsam in der Küche der Autorin: Gefüllte Auberginen mit einer Reis-Fleisch-Füllung. Der Reis der Autorin wird als „nicht richtig“ qualifiziert, also wird die kleinere Tochter Shaimaa „den richtigen Reis“ von zu Hause holen geschickt, man wohnt ja nur zweihundert Meter auseinander. Nun stellt sich heraus, dass es im niederländischen Haushalt auch keinen Auberginen-Aushöhler gibt. Shaimaa lässt sich widerstandslos ein zweites Mal losschicken. Das erweckt bei Bois-Reymond den Eindruck, dass Widerspruch in dieser Familie nicht ins Verhaltensrepertoire von Kindern passt. Deshalb fragt sie Sabah, wie sie mit Konflikten in der Familie umgehe. Gar nicht, antwortet diese. Es gibt keine – jeder hilft mir oder auch nicht (S. 125).
Schließlich wird noch fehlende Minze herbeigeschafft. Die Herstellung des Gerichts aus Idlib, „der Stadt, die seit Wochen unter Beschuss liegt, hat eine europäische Stunde gedauert. Ich schicke eine App mit Foto, wie es uns schmeckt und erhalte Emoji Rose als Antwort zurück.“ (S. 127).
Die Schlusspassage des Buches „Ich gehöre jetzt zur Familie“ beginnt zunächst wieder mit einem Missverständnis. Sie hatten sich, wie üblich, um vier Uhr nachmittags zum Sprachunterricht verabredet. Die Autorin schickt zur Sicherheit kurz zuvor noch eine Nachricht. Sabah antwortet, sie solle heute zu ihr kommen. Dort eingetroffen, beginnt Bois-Reymond zu verstehen, dass sie erstmals am Familienessen teilnehmen wird. Das ist rundum köstlich. Vor allem aber, dass man ihr beim Abschied sagt, nun gehöre sie zur Familie. Dass jemand aus einer anderen Welt sie in die seine geholt hat, rührt Bois-Reymond zutiefst. Was für eine wunderbare Erfahrung. Was für ein wunderbares Buch.
Fazit
Das Buch ist vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine aktueller denn je. Es weist indirekte Bezüge und interessante Erkenntnisse für eine gelingende Integrationspolitik und die konkrete soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen auf. Spannend wäre zu erfahren, wie wiederum die syrischen Protagonisten diese Integrationsprozesse erlebt und welche Erfahrungen sie gesammelt haben. Das böte Stoff für ein weiteres Buch auf der Suche nach Verständigung mit Geflüchteten auf Augenhöhe, nach einem gelingenden Umgang mit dem Fremden.
Rezension von
Prof. Dr. Katrin Toens
Professorin für Politikwissenschaft an der Ev. Hochschule Freiburg
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Prof. Dr. sc. oec. Uta Meier-Gräwe
Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen (1994-2018)
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